Jugendträume

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philomena

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Kathrin hatte die Nase voll. So voll, wie man sie nur haben kann, wenn man fünfzehn ist, mitten in der Pubertät steckt und die Eltern eine eigene Meinung über das haben, was ein heranwachsendes Mädchen aus gutem Elternhaus darf und was nicht.

Kathrin verstand es einfach nicht. Sie war reif für ihr Alter, hochintelligent, da mussten die Eltern doch einsehen, dass sie anders behandelt werden musste als irgendeins von den Kids auf der Straße. Das waren allerdings noch beinahe Kinder, Kids eben. Sie jedoch nicht. Sie war vernünftig, das betonten Mama und Papa doch auch immer, besonders, wenn in ihrem Freundeskreis die Schulleistungen Gleichaltriger zur Sprache kamrn. Sie war sehr gut in der Schule, vermied es peinlichst, auch nur die geringste Schwäche zu zeigen. Wie gesagt, sie war ja auch reifer als ihre Klassenkameraden, die sich den meisten Ärger einfingen, weil sie in der Schule schlecht waren.

Deshalb war sie ja auch alles so satt, diese ganzen Einschränkungen, die die Eltern ihr auferlegten. In drei Jahren wäre sie ja doch volljährig und könnte tun und lassen, was sie wollte. Also warum diese unverständlichen Verbote noch?

Seit einem Jahr war sie so unzufrieden. Seit einem Jahr stand deshalb ihr Entschluß fest, ihr Elternhaus zu verlassen. Seit einem Jahr bereitete sie alles dafür vor.

Sie hatte sich unauffällig verhalten, hatte zwar immer wieder mehr Freiheit verlangt, sich darüber auch einmal mit ihren Eltern gestritten, aber sie hatte es nie übertrieben.
Heimlich allerdings hatte sie jeden Cent beiseite gelegt, den sie missen konnte. Gott sei Dank waren ihre Eltern wenigstens in der Beziehung großzügig und gaben ihr ein reichliches Taschengeld.
Außerdem hatte sie des öfteren ihre Großmutter angebettelt. Angeblich für tolle Jeans oder Schuhe oder auch für eine Lederjacke, die ihren Eltern zu teuer schien. Oma wohnte in Hamburg, war etwas kränklich und würde daher nie wissen, dass die vielen Hunderter, die sie erbettelt hatte, nicht für Kleidung ausgegeben worden waren, sondern in ihre Spardose wanderten.
Ausserdem wußte Kathrin, wo ihr Vater ein paar Tausender im Haus aufbewahrte für Notfälle. Die würde sie sich holen, bevor sie ging. Ihre Eltern konnten das Geld ja von ihrem Sparbuch nehmen, das brauchte sie jetzt nicht mehr. Schade, das Geld musste sie zurücklassen, weil sie von dem Sparbuch nichts abheben konnte, ohne dass es auffiel.

Im ganzen letzten Jahr hatte sie immer wieder erzählt, wie gerne sie London oder Kopenhagen sehen würde. München, ihr eigentliches Ziel, hatte sie nie erwähnt. Vielleicht suchte man sie also zuerst in England oder Dänemark. Obwohl sie wohl kaum so dumm sein würde zu versuchen, irgendeine Grenze zu passieren.

Nein, sie hatte sich vorgestern schick angezogen, geschminkt und sich im Ganzen ein bisschen älter gemacht und hatte sich eine Fahrkarte für einen ICE nach Süddeutschland gekauft. Nicht nach München direkt, das letzte Stück wollte sie mit Regionalbahnen fahren, um ihre Spuren zu verwischen.
In München wollte sie dann sehen, was sie machen konnte. Vielleicht fand sie ja eine WG, in der sie unterkam. Ganz sicher würde sie nicht auf die zwielichtigen Typen reinfallen, die am Bahnhof auf Ausreisserinnen warteten. Oh nein, sie nicht. Sie würde ihre Freiheit in München genießen und danach versuchen, weiter in den Süden zu kommen. Spanien oder Italien, vielleicht auch Griechenland. Da wollte sie hin. Und möglicherweise fand sie da sogar einen Job als Animateurin. Dann könnte sie dort für immer bleiben.

Mit ihrem Rucksack und ihrer Sporttasche voller Kleidung verließ sie am nächsten Tag das Haus. Ihre Eltern waren beide unterwegs, sie würden erst abends merken, dass sie nicht in der Schule gewesen ist und auch nicht mehr nach Hause kommen würde. Das Geld hatte sie gut versteckt bei sich, die Fahrkarte war greifbar, sie hatte ihre Freiheit gewonnen.

Im Zug fand sie ein Abteil, in dem eine junge unscheinbare Frau, etwas älter als sie selbst, und ein Mann von ungefähr zwanzig Jahren saßen und sich angeregt unterhielten. Hier fiel sie nicht auf. Die beiden begrüßten sie freundlich und zogen sie schnell mit in ihr Gespräch. Bereits nach wenigen Minuten schienen die drei für Außenstehende zusammen zu gehören.

Sie erfuhr, dass auch Monika ihr Elternhaus verlassen hatte, weil sich dort niemand um sie kümmerte und sie durch diese Kälte und Gleichgültigkeit
sehr gelitten hatte. Kathrin konnte zwar nicht verstehen, wie man das bedauern konnte, aber sie sah in Monika eine Verbündete, obwohl sie selbst nicht erzählte, dass sie von Zuhause weggelaufen war. Sie erzählte den beiden, sie wäre auf dem Weg zu ihrer Großmutter in München. Das schien ihr sicherer zu sein.

Peter studierte in München und wohnte dort in einer WG, in der auch Monika erst einmal einen Platz finden konnte. Schade, Kathrin bedauerte es ein bisschen, dass sie nicht auch mit dorthin konnte, aber es fiel ihr kein Grund ein, warum sie statt bei ihrer Großmutter zu wohnen, in eine WG ziehen sollte. Sie hatte ja schon Mühe zu erklären, warum sie nicht bis München durchfuhr, sondern einen Halt einlegte. Eine nicht existierende, dafür aber sehr treue Freundin aus ihrer Kindergartenzeit musste als Erklärung herhalten.

Peter hatte, seit Kathrin das Abteil betreten hatte, keinen Blick von ihr wenden können. Neben der unscheinbareren Monika erschien sie ihm wie ein strahlender Stern. Er verliebte sich auf den ersten Blick in sie und bedauerte, dass nicht sie es war, der er einen Schlafplatz in seiner WG anbieten konnte.
Er drängte jedoch darauf, dass sie sich gleich am nächsten Abend treffen sollten, um gemeinsam durch München zu bummeln. Dass auch Monika erst einmal mitkommen würde, das ließe sich wohl im Moment nicht vermeiden, aber er zählte darauf, dass die Zeit ihn Kathrin immer näher bringen würde.

Kathrin selbst bemerkte sehr wohl, dass Peter Gefallen an ihr gefunden hatte und sah darin eine Chance, in München eine Bleibe zu finden, die sie nicht viel kosten würde. Sie mußte lediglich irgendwann zur Sprache bringen, dass sie ihrer kränkelnden Oma zur Last fiele, aber noch nicht nach Hause könnte, da ihre Eltern immer noch im Ausland seien. Sie hatte keine Skrupel, ihre neuen Freunde auch weiterhin zu belügen. Es war ihr auch egal, wenn sie Peters aufkeimende Gefühle verletzen würde. Sie wollte unter allen Umständen ihre Freiheit haben, dafür war sie zu Vielem bereit.

Tatsächlich verging nicht einmal eine Woche und Kathrin zog auch in Peters WG. Sie achtete allerdings darauf, nie mit ihm alleine zu sein. Und auch bei allen Unternehmungen sorgte sie dafür, dass Monika mit dabei war.

Monika blieb weiter so unscheinbar. Sie hielt sich meistens still im Hintergrund, wenn sie mit den beiden unterwegs war. Sie hing lieber ihren Gedanken nach und träumte vom Theater, dem ihre ganze Liebe und ihr ganzes Sehnen galt. Durch Aushilfsjobs wollte sie sich die Schauspielschule finanzieren, doch hatte sie es bisher noch nicht zum Vorsprechen geschafft. Sie schlüpfte nur ab und zu in fremde Rollen, wenn sie miteinander ausgingen, und imitierte dann Personen, die ihr aufgefallen waren. Sie machte es so perfekt, dass Peter und Kathrin oft vergaßen, dass es die unscheinbare Monika war, die ihnen gegenüber saß.

Es war Zufall, dass Kathrin Marcel an dem Tag kennenlernte, an dem Monika von einem älteren Herren, der ihre Improvisationen beobachtet hatte, gefragt wurde, ob sie nicht an einem Casting teilnehmen möchte, dass am nächsten Tag stattfinden würde.
Kathrin warnte Monika sofort, bat sie, vorsichtig zu sein, die Tricks dubioser Filmfirmen seien ja wohl allen bekannt.
Sie selbst wähnte sich glücklich, in Marcel einen sehr netten Freund gefunden zu haben. Er studierte Jura, kam aus einem wohlhabenden Elternhaus und war einfach perfekt. Ihm lag an ihrer Freundschaft, er respektierte sie und drängte sich ihr in keiner Weise auf.
Das Angebot, das Monika bekommen hatte, schien ihr dagegen äußerst zweifelhaft und sie überredete Peter, mit ihr zusammen Monika zu diesem Casting zu begleiten.

Sie waren jedoch alle drei sehr überrascht, als sie feststellten, dass es sich tatsächlich um eine seriöse Filmgesellschaft handelte, bei der Monika vorsprach. Und noch erstaunter waren sie, als sie erfuhren, dass Monika eine Nebenrolle in dem Film bekommen hatte.

Kathrin selbst war mit Marcel ausgesprochen glücklich. Sie hatte sich von seinem hervorragenden Elternhaus überzeugen können, als er sie einmal in die Villa seiner Eltern einlud, als diese gerade ein Wochenende in Frankreich verbrachten. Nie trat er ihr zu nahe, nicht einmal an jenem Wochenende. Er zeigte sich geduldig und beteuerte immer wieder, dass er nichts von ihr verlangen würde, das sie nicht zu geben bereit wäre.
Es schien ihr, als hätte die Reise nach München ihre Träume von Freiheit Realität werden lassen, schöner als sie es sich jemals vorgestellt hatte.

Dass Peter litt, sie immer mit traurigen Augen ansah, bereitete ihr zwar ein leichtes Unbehagen, störte sie jedoch nicht in ihrem Plänen.
An ihr Elternhaus verschwendete sie schon lange keinen Gedanken mehr. Ihre Eltern hatten wohl nach ihr gesucht, die Suche inzwischen aber wahrscheinlich als ergebnislos aufgegeben.

Als Marcel sie daher ein weiteres Mal in die Villa seiner Eltern einlud, die diesmal zu einem Urlaub in die Karibik aufgebrochen waren, war sie absolut glücklich. Jetzt war sie auch bereit, zum erstenmal einen Mann auch körperlich zu lieben. Sie war der festen Überzeugung, keinen Würdigeren als Marcel zu finden.

Umso grausamer war ihr Erwachen am nächsten Morgen. Sie wußte nicht, wo sie sich befand, der Raum war ihr gänzlich unbekannt, in dem sie nun erwachte. Ihr Kopf dröhnte, ihr Mund war trocken und sie erinnerte sich nur noch, dass ihr nach dem Glas Champagner, dass Marcel ihr reichte, schrecklich übel und dann schwarz vor Augen geworden war. Was dann geschehen war, wußte sie nicht.

Und jetzt lag sie in einem fremden Raum. Auf einem fremden Bett, an das man sie mit Händen und Füßen festgekettet hatte, wie sie voller Entsetzen feststellte. Nackt festgekettet, wie sie bemerkte, als sie ihren Kopf trotz der starken Schmerzen hob. Sie weinte und schrie und bettelte um Hilfe. Sie wußte nicht, dass keiner ihr helfen würde, selbst wenn man auf ihre Schreie reagierte.

Sie wußte nicht, dass Marcels Eltern ihren Reichtum mehreren Nobelbordellen verdankten und dass es Marcels Aufgabe war, junge, gebildete und wohlerzogene Mädchen als Nachschub zu besorgen.
Sie wußte auch nicht, dass man sie in der Nacht über die Grenze in eins dieser Bordelle gebracht hatte, wo ein reicher Kunde schon mit sehr viel Geld ihre Unschuld gekauft hatte.

Sie wußte noch nicht, dass ihr Abstieg von diesem Nobelbordell in immer billigere Etablissements zehn Jahre dauern würde, bevor es ihr gelang, dem allem zu entkommen.

Sie wußte nicht, dass ihre Eltern durch wechselseitige Schuldzuweisungen ihre Ehe zerrieben und die Hoffnung aufgegeben hatten, sie jemals lebend wiederzusehen.

Irgendwann erfuhr sie, dass die unscheinbare Monika tatsächlich ein Star im Theater- und Filmgeschäft geworden war, daneben eine glückliche Ehe führte und stolze Mutter zweier Kinder war.

Sie wußte nicht, dass Peter noch jahrelang durch München gelaufen war, immer in der Hoffnung, irgendwo ihr hübsches, unschuldiges Gesicht zu sehen.

Sie wußte nicht, dass er eines Tages an ihr vorbeigehen und sie in der vorzeitig gealterten, verbitterten Frau nicht erkennen würde.

Sie wußte nicht, dass ihr Verlangen nach Freiheit sie in eine lebenslange Gefangenschaft geführt hatte.

Sie wußte es nicht.
 

Haremsdame

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Deine Geschichte gefällt mir, philomena. Den Aufbau finde ich gelungen, ebenso wie die Aussage, die den Widerspruch zwischen (Leistungs-)Intelligenz und (echter, also menschlicher) Intelligenz darstellt. Du zeigst deutlich, wie schnell aus Träumen Schäume werden können.

Was mir nicht gefällt: dieses Werk in der Kurzprosa zu finden. In meinen Augen ist das eine Kurzgeschichte. Unter Kurzprosa stelle ich mir etwas anderes vor.

Leider hast Du in einem Abschnitt einen Umbruch zu viel gemacht und außerdem ein "da" zuviel. Ist wahrscheinlich beim letzten Durchlesen passiert? [blue]und sie [red]da[/red]durch diese Kälte und Gleichgültigkeit[/blue]
 



 
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