Julie

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Hale-Bopp

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Alex kippte den letzten Rest aus der Whiskeyflasche herunter und schüttelte sich. Dann warf er sie gegen einen der Grabsteine, wo sie zerplatzte und als Scherbenregen auf das Blumenbeet niederging, welches vor dem Grab angelegt worden war.
„Ach komm, zeig doch ein Minimum an Respekt“ schalt ich ihn, doch meine Stimme und mein Körper schienen meine Worte zu verhöhnen, denn tatsächlich lallte und schwankte ich fast noch mehr als Alex. Zudem war es mir ehrlicherweise auch egal ob Alex nun Whiskeyflaschen an Grabsteinen zerschellte. Aber mein Satz klang gut und gab dem Ganzen etwas Albernes, und da ich in meiner Trunkenheit gut gelaunt war, hob ich nun mahnend den Zeigefinger und zeterte wie eine Großmutter, was Alex so zum Lachen brachte, dass er beinahe hinfiel und sich mit Mühe an mir festhielt.
„Familie Dr. Dickmann“ las Alex die Inschrift eines Grabsteins vor, „die hatten aber echt kein Glück mit ihrem Namen“. Wieder lachten wir.
Wir schritten weiter von Stein zu Stein, bis uns eine Bierflasche ins Auge fiel, die auf einem der Gräber abgestellt worden war.
„Eh, ist noch jemand hier?“ grunzte Alex, nahm die Flasche in die Hand, linste auf das Etikett und stellte sie dann mit einem klirrenden Geräusch zurück.
Er schritt zwischen den angrenzenden Gräbern herum und ich ging zur Ostseite des Friedhofs um mich dort umzusehen. Ich erwartete nicht jemanden zu finden, denn jeder andere betrunkene Jugendliche hätte genauso viel Lärm gemacht wie wir selbst auch, aber ich wollte auch nicht mit Alex diskutieren, der direkt nach dem Fund der Bierflasche begonnen hatte, den Friedhof abzusuchen.
Zum ersten Mal betrachtete ich unseren Aufenthaltsort etwas genauer. Der Friedhof war klein und etwas verwildert. Viele der Grabsteine waren mit Efeu überwachsen oder wiesen Risse auf und die Farne und Sträucher aus dem angrenzenden Wald wucherten teilweise über den Gitterzaun in die Anlage hinein.
„Wetten, ich kann die Flasche von hier aus treffen?“ rief ich Alex zu und ließ einen Stein in meiner Handfläche rollen, den ich am Fuße eines von Efeu bedeckten Kreuzes aufgelesen hatte.
„Wirf“ sagte Alex nur und ich warf. Ich war ein guter Werfer, aber derart betrunken wie ich war, rechnete ich überhaupt nicht damit die Flasche zu treffen; und so hatte ich schon begonnen meine Augen in eine andere Richtung und vom vermeintlich fehlgeschlagenem Wurf wegzubewegen, als die Flasche mit einem geradezu dramatischen Knall zerbarst. Alex lachte und kam zu mir.
Mir fiel auf wie schwül und stickig die Nacht war. Der Robinienbaum auf dem Friedhof stand in Blüte und sein schwerer, süßer Duft floss mit jedem Windstoß zu uns herüber. Mit einem Mal wurde mir übel und setzte mich hin und lehnte mich an einen der Grabsteine.
„Hey Mann, alles in Ordnung bei dir?“ fragte Alex und seine Stimme wirkte nun nervös und etwas ernüchtert.
„Ja. Klar, mir ist nur etwas schlecht vom Trinken. Geht gleich wieder“.
Alex kickte ein paar Steine vom Weg auf die Blumenbeete und stapfte dann schwankend von Grab zu Grab.
Ich schloss die Augen und sofort kamen Bilder in mir hoch, wild durcheinander wirbelnd und in falscher Reihenfolge; bei manchen war ich mir nicht sicher war, ob sie wirklich so geschehen waren oder ich sie neu zusammensetzte. Ich sah meine Schwester weinend nach Hause kommen und die Fotowand von ihr und ihrer Freundin Julie von der Wand zerren, zerpflücken und dann Fetzen für Fetzen in den Papierkorb werfen, bis sich unter ihr ein großer Berg von zerstörten, tränenbetropften und zu ihr aufblickenden Julies bildete. Ich sah Julies gelbes Kleid mit den roten Blumen darauf; sie vor ihrem Spind stehend und mit den Fingern durch ihre Haare fahrend. Alex der sich zu ihr beugt, seinen Arm auf den Spinden abstützt und etwas zu ihr sagt, und sie lacht, wobei sich ihre Unterlippe sanft kräuselt. Ein Wohnzimmer in dem wir alle zusammensitzen und Eistee trinken. Julies Vater will mir irgendetwas furchtbar uninteressantes erklären und ich nicke und lächle, und Julie sitzt neben ihm und sieht mich an und versucht sehr offensichtlich nicht zu lachen, was mir das Zuhören nicht leichter macht. Und ich sehe Julies Schultern und Nacken; Alex und ich kitzeln sie während wir alle nebeneinander liegen.
„Fuck, fuck“ schrie ich und schlug meine Faust gegen den Grabstein, an dem ich lehnte. Es knackte leise und ich spürte eine Welle von Schmerz durch meine Hand rasen.
Alex drehte sich um und sah mich an. Seine großen, betrunkenen Augen waren blutunterlaufen und störrisch; seine Oberlippe war wie die Lefze eines Hundes hochgezogen. Auch ohne Worte verstand ich, dass er genau wusste woran ich gerade gedacht hatte.
Ich glitt wieder ab und sah mich meine Schwester fragen, warum sie Streit mit Julie hätte. Sie fauchte zurück, dass mich das einen Scheiß anginge. Textnachrichten, die in meinem Kopf laut vorgelesen wurden: ihr zwei seid echt süß, danke dass ihr mir beisteht oder du kannst dich offenbar nicht mit mir treffen, ohne bei jeder Gelegenheit zu demonstrieren, wie viel reifer du doch bist. Dabei ist deine Reife nichts weiter aus durchschaubares, manipulatives Verhalten, dass dazu führen soll, dass ich dich bewundere und dann haha, der Film ist verrückt, den müssen wir zusammen gucken.
Plötzlich standen Alex Schuhe vor mir, seine Hände griffen mich an den Schultern und zogen mich hoch.
„Komm zu dir, ok?“ herrschte er mich an, „dreh jetzt nicht durch!“
„Ja, aber lass uns weg von hier“, erwiderte ich matt, drehte mich um und schlurfte, seine rechte Hand noch auf meiner Schulter, zum Gitterzaun.
Auf der anderen Seite des Zauns schwoll dickes Gras aus dem Boden und federte leicht unsere Landung. Von hier aus fiel der Boden in einem sanften Hügel ab und gab schließlich Raum für eine matt beleuchtete Turnhalle. Dahinter glühten die Straßenlichter der Stadt.
Ich nickte zur Halle und unterbrach den Lärm der Grillen für einen Moment: „Mann, seitdem ist alles ziemlich abgefuckt geworden, oder?“
Alex wusste, dass ich unseren 10er Abschlussball meinte und lachte: „Ich erinnere mich gut. Du warst schockiert darüber, wie „viel“ Sophie getrunken hat, sprich drei Bier. Daniel ist zum ersten Mal umgekippt und eigentlich hätte man es sich da schon fast denken können. Und Julie…“ er stockte und verzog das Gesicht.
„Ich hab sie damals noch überhaupt gar nicht wahrgenommen“ sagte ich und das stimmte. Vor dem Streit mit meiner Schwester war sie für mich völlig blass gewesen, ein Gesicht das man in den Fluren sieht, aber nicht wahrnimmt.
„Ich schon. Sie hat sich mit Anderen an unserem Tisch unterhalten. Damals wirkte sie echt noch…sehr unschuldig“. In Alex Augen lag ein gewisser Zorn.
Wir gingen schweigend den Hügel herunter und auf die Turnhalle zu. An die Außenwand war ein Graffiti gesprüht (Heinrich-Heine Gym Fickt Euch Alle!) und Schwärme von Mücken surrten um die Leuchter an der Dachtraufe.
„Drecksding!“ murrte Alex plötzlich und trat gegen die Außenwand, „die ganzen Versprechungen und Pläne die man hat. Ein Scheiß kommt dabei raus. Im Endeffekt sind alle, die wir von damals kennen total kaputt.“
Ein Stein aus meiner Hand flog durch die Scheibe eines der engen, langgezogenen Fenster und ließ ein Spinnennetz aus feinen Rissen zurück. Alex folgte meinem Beispiel und verschwand anschließend um die Ecke um sich, wie er laut verkündete, an der Eingangstür zu erleichtern.
Mit dem Blick den Mücken folgend, tauchte in mir das Bild eines Mädchens auf, an einem Tisch sitzend, ihre Haare zurück streichend und etwas scheu mit ihrem Nachbarn im Gespräch vertieft. Ich dachte, ich hätte Julie damals nicht wahrgenommen, aber jetzt schien es mir, als könnte ich mich doch an etwas erinnern.
„Hatte Julie auf dem Abschlussball ein blaues Kleid an?“ fragte ich Alex, der gerade zurückgetorkelt kam und dabei seinen Hosenstall schloß.
„Kann sein“, antwortete er knapp.
Ich bat ihn zurück zum Auto zu gehen und er willigte ein. Gemeinsam entfernten wir uns von der Turnhalle, und liefen außen um den Friedhof herum, zurück.
„Gib mir mal die Schlüssel“ sagte ich zu Alex, als wir am Auto standen. Er hielt damit inne, die Fahrertür aufzuschließen und drehte sich drohend zu mir um: „Hör endlich auf mit dem Scheiß! Komm zu dir, okay und dreh nicht durch! Halt einfach die Schnauze!“
- „ Gib mir einfach…“
- „Hör auf mit dem Scheiß!“ schrie Alex und Speichel flog aus seinem Mund.
- „Gib mir einfach die verfickten Schlüssel!“ schrie ich zurück und trat nun meinerseits drohend auf ihn zu.
Alex blickte mich ausdruckslos an und warf mir die Schlüssel zu, die im Flug, vom Mondlicht getroffen, hell aufblitzen,
„Mach doch was du willst“ erwiderte Alex mit bebender Stimme. Er ließ sich ins Gras vor einen der Autoreifen plumpsen und vergrub seinen Kopf in die Arme. Ich war mir nicht sicher, ob er weinte.
Es klackte, als ich den Kofferraum öffnete und schon ergoss sich das Mondlicht auf die verkrümmt daliegende Julie. Eine Pfütze aus geronnenem Blut war unter ihr sichtbar und ihre Kleidung war zu großen Teilen darin getränkt.
Ich hatte erwartet, geschockt oder traurig zu sein, sie noch mal so zu sehen, aber mit einem Blick auf ihre arroganten, selbst im Tode seltsam höhnisch verzogenen Augen, spürte ich nur Wut in mir aufsteigen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, ballte ich die Fäuste und schlug ihr mit voller Wucht in das kalte, leblose Gesicht.
 



 
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