Jung und jünger

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Bekanntlich unterscheiden sich infantile Kinder und senile Greise nur durch die Anzahl ihrer Lebensjahre.
So ist es kaum verwunderlich, dass mich, den so genannten Senior, gerade in den letzten Jahren ständig irgendwelche Gefühle aus meiner zumeist zu frühen Kinderzeit sowohl plagen als auch erfreuen.
Seit gut sechs Monaten lebe ich in meinem zweiundsiebzigsten Jahr.
Und immer wieder steht urplötzlich so ein Kleiner vor mir und sieht mich mit seinen fast runden Knopfaugen an. Fragend, fordernd, spöttisch und zumeist auch noch belustigt. Und das nicht nur in meinen Träumen, sondern häufig genug am helllichten Tag auf der Straße, auf Spielplätzen, im Schwimmbad oder im Supermarkt. In Begleitung von Mama und Papa. Oder auch allein, da er sich gerade aus dem Aufsichts- und Zugriffsbereich seiner Eltern davongeschlichen hatte.
So einer von der absolut neugierigen, charmant frechen Sorte. Einer, wie ich einst sicherlich gern gewesen wäre, aber eben einer, wie ihn damals die meisten Nachkriegserwachsenen in ihren Familien, in der Schule und Nachbarschaft nicht wirklich mochten, da sie seinen viel zu glaubwürdigen Spott kaum ertragen konnten. Denn echter Spaß in jenen Zeiten des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte wahrlich nicht zu den Alltagsbeschäfti-gungen so genannter Erwachsener.
Was blieb mir also übrig? Auch ich musste es damals vermeiden, mich als Kind zu zeigen oder gar als solches zu mögen, da ich fürchten musste, nicht als vernünftig zu gelten und dadurch weniger ge- und beliebt zu sein.

Immerhin kam meine einstige Berufsentscheidung, Erzieher und Sozialarbeiter zu werden, vermutlich dadurch zustande, dass ich anderen Kindern und Jugendlichen (aber eigentlich mir selbst) zu mehr Spass, Eigenleben und Selbstbewusstsein verhelfen wollte. Doch an das vernachlässigte Kind in mir wagte ich dabei nicht einmal zu denken. Es kam nicht vor und versuchte, sich so erwachsen - und damit so altklug wie eben möglich - zu geben.
Inzwischen bin ich altklug und senil zugleich. Und das ist nicht nur ungefähr das Gleiche. Mich ödet es jedenfalls an - von Tag zu Tag mehr.
Dabei will ich nur ein bisschen staunen und mich nicht langweilen müssen wie ein vermeintlicher Erwachsener.
Leider habe ich die alberne Phase bei meinen Kindern und Enkeln weitgehend verpasst, weil ich selbst denen immer noch den vernüftigen Vater und Opa vorleben wollte.
Doch kürzlich kam einige Tage nach Weihnachten so ein feixender knapper Meter in Jeans und Pullover auf mich zu, blieb breitbeinig vor mir stehen und wollte von mir, der ich einen weißen Vollbart spazieren trage, wissen: „Bist Du der Weihnachtsmann auf Urlaub?“
„Noch bin ich auf Urlaub. Aber bald muss ich schon Geschenke für das nächste Jahr aussuchen.“
„Soll ich Dir helfen?“
Leider kamen in dem Moment die besorgten Eltern um die Straßenecke und riefen ihren „Paul“ zu sich.
Widerwillig trottete er zu ihnen.
Die Eltern sahen mich misstrauisch und vorwurfsvoll an. „Was wollte der Mann von Dir? Wir haben Dir doch oft genug gesagt, dass Du Dich nicht von fremden Männern ansprechen lassen sollst.“
„Erstens hab ich ihn angesprochen. Und zweitens ist der Weihnachtsmann doch wohl kein Fremder.“ Trumpfte Paul auf.
Wütend blickte mich der Vater an, griff nach der Hand seines Sohnes und zog ihn ziemlich grob mit sich.
Paul sah sich lachend zu mir um. „Schönen Urlaub. Und an den Weihnachtsmann glaube auch nicht mehr.“
 

der Kelly

Mitglied
Gefällt mir sehr gut, aber "infantile Kinder" also kindliche, kindische Kinder ist m.E. doppelt bezeichnet. LG Martin
 

Annette Paul

Mitglied
Hallo Karl,

der zweite Teil des Textes gefällt mir besser als der erste, der mir etwas zu umständlich, zu langatmig ist. Insgesamt aber ein schöner Text.

Viele Grüße
Annette
 
Lieber Annette,
ja, ich habe zu viel Text gebraucht, um mich in die Geschichte hineinzuschreiben. Ich werde über ein paar Kürzungen nachdenken.
Danke Dir und Gruß
Karl
 
Bekanntlich unterscheiden sich infantile Kinder und senile Greise nur durch die Anzahl ihrer Lebensjahre.
Seit gut sechs Monaten lebe ich in meinem zweiundsiebzigsten Jahr.
Und immer wieder steht urplötzlich so ein Kleiner vor mir und sieht mich mit seinen fast runden Knopfaugen an. Fragend, fordernd, spöttisch und zumeist auch noch belustigt. Und das nicht nur in meinen Träumen, sondern häufig genug am helllichten Tag auf der Straße, auf Spielplätzen, im Schwimmbad oder im Supermarkt. In Begleitung von Mama und Papa. Oder auch allein, da er sich gerade aus dem Aufsichts- und Zugriffsbereich seiner Eltern davongeschlichen hatte.
So einer von der absolut neugierigen, charmant frechen Sorte. Einer, wie ich einst sicherlich gern gewesen wäre, aber eben einer, wie ihn damals die meisten Nachkriegserwachsenen in ihren Familien, in der Schule und Nachbarschaft nicht wirklich mochten, da sie seinen viel zu glaubwürdigen Spott kaum ertragen konnten. Denn echter Spaß in jenen Zeiten des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte wahrlich nicht zu den Alltagsbeschäfti-gungen so genannter Erwachsener.
Was blieb mir also übrig? Auch ich musste es damals vermeiden, mich als Kind zu zeigen oder gar als solches zu mögen, da ich fürchten musste, nicht als vernünftig zu gelten und dadurch weniger ge- und beliebt zu sein.

Immerhin kam meine einstige Berufsentscheidung, Erzieher und Sozialarbeiter zu werden, vermutlich dadurch zustande, dass ich anderen Kindern und Jugendlichen (aber eigentlich mir selbst) zu mehr Spass, Eigenleben und Selbstbewusstsein verhelfen wollte. Doch an das vernachlässigte Kind in mir wagte ich dabei nicht einmal zu denken. Es kam nicht vor und versuchte, sich so erwachsen - und damit so altklug wie eben möglich - zu geben.
Inzwischen bin ich altklug und senil zugleich. Und das ist nicht nur ungefähr das Gleiche. Mich ödet es jedenfalls an - von Tag zu Tag mehr.
Dabei will ich nur ein bisschen staunen und mich nicht langweilen müssen wie ein vermeintlicher Erwachsener.
Leider habe ich die alberne Phase bei meinen Kindern und Enkeln weitgehend verpasst, weil ich selbst denen immer noch den vernüftigen Vater und Opa vorleben wollte.
Doch kürzlich kam einige Tage nach Weihnachten so ein feixender knapper Meter in Jeans und Pullover auf mich zu, blieb breitbeinig vor mir stehen und wollte von mir, der ich einen weißen Vollbart spazieren trage, wissen: „Bist Du der Weihnachtsmann auf Urlaub?“
„Noch bin ich auf Urlaub. Aber bald muss ich schon Geschenke für das nächste Jahr aussuchen.“
„Soll ich Dir helfen?“
Leider kamen in dem Moment die besorgten Eltern um die Straßenecke und riefen ihren „Paul“ zu sich.
Widerwillig trottete er zu ihnen.
Die Eltern sahen mich misstrauisch und vorwurfsvoll an. „Was wollte der Mann von Dir? Wir haben Dir doch oft genug gesagt, dass Du Dich nicht von fremden Männern ansprechen lassen sollst.“
„Erstens hab ich ihn angesprochen. Und zweitens ist der Weihnachtsmann doch wohl kein Fremder.“ Trumpfte Paul auf.
Wütend blickte mich der Vater an, griff nach der Hand seines Sohnes und zog ihn ziemlich grob mit sich.
Paul sah sich lachend zu mir um. „Schönen Urlaub. Und an den Weihnachtsmann glaube auch nicht mehr.“
 



 
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