KLIRR - Ein Kind, Kapitel 16

kinAski

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16

In diesem Winter passierte nicht mehr viel. Der Raffwaller war nie zuhause, die Mutter stand meistens am Herd und Fred war immer bei Hannes. Vinz atmete jedes Mal auf, wenn er in den Kindergarten ging. Dort war alles hell, frei und schön, während im Verlies alles dunkel war, ungut und unschön.
Die Raffwallers trieben damals keinen Wintersport. Doch eines Tages meinte Fred vor dem Einschlafen, dass er jetzt bei den Skispringern sei.
»In diesem Winter ist es schon zu spät. Doch im nächsten. Da bekomme ich Sprungski. Man bekommt sie vom Verein gestellt. Und dann ... «
Fred erzählte von Schanzen, Flugweiten und Helden der Lüfte, während Vinz gruselte, als er sich vorstellte, wie Menschen mit Skiern an den Füßen durch den Äther segelten ...
Der Frühling kam und die Mutter versteckte Osternester.
Vor dem Haus lag ein Rasenstück, das an die steinernen Bögen der Maltabrücke grenzte. Fred und Vinz fanden ihre Nester rasch, doch Eddy, der wegen einer überstandenen Verkühlung eine rote Mütze trug, suchte lange und bekam schließlich eine seiner Brüllattacken, sodass eine Frau entsetzt von der Brücke schaute.
»Es ist nichts«, rief die Mutter hinauf, hob Eddy hoch und marschierte mit ihm zu seinem Nest. Er hörte nicht auf zu brüllen, obwohl ihm die Mutter das Nest unter die Nase hielt. Als er endlich ruhig war, und die Mutter im Haus, meinte Fred: »Der kleine Hosenscheißer. Das nächste Mal, wenn er so brüllt, bekommt er von mir ein paar Kopfnüsse verpasst.«
»Von mir auch«, entschlüpfte es Vinz und er blickte auf Eddy, wie er mit rotgeweintem Gesicht auf seinen Sandhaufen saß und sich kleine Zuckereier in den Mund stopfte, als sei er allein auf der Welt.
In diesem Moment bog Hannes um die Ecke, kauend, ein angebissenen Schoko-Ei in der Hand. Die Taschen seiner kurzen Hosen waren ausgebeult. Er klopfte drauf.
»Alles Süßigkeiten. Was hat euch der Osterhase gebracht? Gehen wir eine Runde, Fred?«
»Wohin?«
Hannes trat näher und flüsterte: »Der Stadtturm ist nicht zugesperrt. Schaun wir mal nach, ob es was zu sehen gibt.«
»Oder zu holen«, flüsterte Fred.
»Vinz soll mit und Schmiere stehen.«
Fred wandte sich an Vinz.
»Du darfst mit, Kleiner. Wir erkunden den Stadtturm.«
Eddy hatte den letzten Satz mitgeschnitten und als sich die drei in Bewegung setzten rief er: »Ich will auch Schmiere stehen!«
»Du bist zu klein«, sagte Fred knapp und Eddys Mund verzog sich bereits zum Viereck – für ein erneutes Schreikonzert. Hannes sagte schnell: »Nimm ihn mit, sonst schreit er noch die Leute zusammen.«
Fred ging zum kleinen Mann auf dem Sandhaufen. »Nicht schreien, Eddy. Du darfst mit.«
Eddy schaute ihn ungläubig an. Mit rotem Kopf und wie eingefrorenem Vierecksmund. Er sah aus, als hätte er eine Teufelslarve auf.
»Du ... darfst ... mit«, wiederholte Fred langsam und Eddys Züge glätteten sich. Das Quartett schlenderte unter den Stadtturm durch und probierte seine alte Holztür.
»Offen, siehst du?«, triumphierte Hannes.
Sie stiegen die knarrende Holztreppe hoch und standen vor einer Gittertür: Dahinter staute sich Gerümpel. Sie starrten es eine Weile an.
»Ganz schön düster hier«, meinte Fred und hatte plötzlich ein Feuerzeug in der Hand. Nach einer kleinen Bewegung des Daumens tanzte eine Flamme über der Öffnung. »Hat mein Alter daheim vergessen«, meinte er, während Vinz und Eddy fasziniert auf das kleine Feuer starrten.
»Lass das mal lieber«, meinte Hannes.
»Gleich. Doch vorher zünde ich noch Vinz' Leibchen an.« Vinz wich entsetzt zurück. Die beiden Freunde lachten.
»Und jetzt schauen wir in die Kirche«, meinte Fred.
»Was? Das ist doch fad«, protestierte Hannes.
»Ich war da noch nie.«
»Du warst da noch nie? Auch nicht mit deinen Alten?«
»Nein. Die glauben an nichts. Und ich übrigens auch nicht«, fügte er naseweis hinzu.
»Was? Mir hast du gesagt, du bist evangelisch?«
»Ja, aber ich scheiß drauf«, sagte Fred und grinste dreckig. Er glaubte etwas sehr Verruchtes gesagt zu haben.
Sie verließen den Stadtturm und schlenderten die Gasse zur Kirche hinab. Sie drangen in das Kirchenschiff ein. Die Weite und Kühle erhoben Vinz' Inneres.
»Wäh, hier riecht es grausig«, meinte Eddy.
»Das ist Weihrauch. Und hier wird leise geredet«, belehrte ihn Hannes. Mit dem Weihrauch schienen die Kinder das Odium des Verbotenen in sich aufzusaugen.
»Kommt«, befahl Fred und seine Stimme hallte im Kirchenschiff geheimnisvoll wider.
»Ich will wieder heim«, jammerte Eddy.
»Ruhe. Schaut, man kann hinter diese Wand gehen. Da vorne«, flüsterte Fred.
Sie marschierten zum Altar. Fred sackte einige Kerzen ein. Dann ging es hinter den Hochaltar. Sie drängten sich in dem engen, dunklen Spalt zwischen Altar und Kirchenwand. Fred machte das Feuerzeug an.
»Was suchst du eigentlich hier?«, fragte ihn Hannes.
»Weiß ich selber nicht ... still, da kommt wer.« Fred ließ das Feuerzeug wieder ausgehen. Tatsächlich ging die Kirchentür auf und man hörte Schritte näher kommen. Dann erklang das Murmeln einer alten Frau.
»Die betet«, meinte Hannes.
Fred ließ einen fahren und lachte leise. Das Murmeln hörte auf. Hastige Schritte entfernten sich. Die Kirchentür wurde auf- und zugemacht.
»Die hat sich sicher in die Hosen geschissen!«, freute sich Hannes.
»Ja. Wahrscheinlich hat sie gemeint, ein Engel furzt«, lachte Fred.
»Wisst ihr, was gut riecht?«, fragte er im nächsten Moment und ehe jemand antwortete, hatte er schon das Feuerzeug an Vinz' Haare gehalten. Sofort begann es zu stinken. Ehe Vinz etwas begreifen konnte, schlug Fred die kleine Flamme wieder aus. Vinz verspürte nichts, als eine leichte Schärfe im Genick, doch der Gestank, der sich verbreitet war bestialisch. Vinz war noch dabei, sich von seinem Schock zu erholen, als Fred die Flamme an Eddys Haar halten wollte. Der wich zurück und brüllte augenblicklich los.
Eddys Geschrei hallte von den Kirchenwänden wider wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts. Von Panik erfasst und so rasch sie ihre Füße trugen, suchten die Frevler das Freie, während Eddy in der Kirche brüllte, und erst ins Freie trat, als die anderen schon ein gutes Stück weg waren. Dort blieb er und brüllte, als wollte er den Herrgott vom Himmel herabrufen, ein kleiner Gnomenpapst mit krebsrotem Gesicht und einer schiefsitzenden Mitra ... Sie ließen ihn einfach stehen und hasteten die Kirchgasse zum Stadtturm hinauf.
»Wir hätten ihn nicht mitnehmen sollen«, keuchte Hannes.
»Wieso?«, fragte Fred. »War doch lustig?«
Vinz hoffte, Eddy würde daheim den Mund halten. Und das tat er auch. So klein er war, so sehr fühlte er, dass er mit drin hing.
 



 
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