KLIRR - Ein Kind, Kapitel 7, 8 und 9

kinAski

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7

Das alte Steinhaus lag vor der Stadtmauer Gmünds, direkt neben der Maltabrücke, die in das große Tor des Stadtturms mündet. Es war größer und düsterer, als das von Tante Sophia und auf Vinz' Frage, ob es der Mutter gehöre, lächelte diese und meinte: »Nein. Es ist ein Mietshaus. Es wohnen auch andere Leute drin. Wir bleiben hier nicht lange. Es ist eine Übergangslösung.«
Vinz kannte das Wort nicht und er fragte nicht nach. Sie betraten einen dunklen Gang mit Steinboden und die Mutter sagte: »Deinen Bruder Eddy wirst du nicht vergessen haben. Du hast jetzt noch einen Bruder. Er heißt Frederick. Und einen Vater.«
»Meinen?«, fragte er.
»Nein. Dein Vater ist weit fort. Der Vater von Frederick ist jetzt auch deiner.«
Diese Worte fielen leer und gewichtlos in Vinz hinein. Er wusste nichts von Vätern ...
Am Ende des Ganges waren zwei Türen.
»Rechts, das ist euer Zimmer, die Küche ist links.«
»Wo schläfst du?«
»Ich schlafe in der Küche. Es ist eine Wohnküche. Dein Vater schläft auch dort.«
Die Mutter öffnete die rechte Tür und neben seinem Gitterbett saß Eddy vor einigen Bauklötzen. Daneben stand ein Stockbett. Im Hintergrund ließ ein kleines, vergittertes Fenster etwas Tageslicht herein.
»Hallo, Eddy. Das ist Vinzi. Kannst du dich noch erinnern?«, fragte die Mutter. Anscheinend nicht, denn nachdem Eddy kurz aufgesehen hatte, wandte er sich wieder seinen Klötzen zu. Ein Kopf wurde oben am Stockbett sichtbar.
»Das ist Frederick. Dein neuer Bruder.«
Frederick war vier Jahre älter als Vinz und kam sich bereits sehr erwachsen vor.
»Du könntest ruhig herabsteigen und deinen Bruder begrüßen. Du hast ja gewusst, dass ich ihn mitbringe.«
Frederick gab einen Laut des Unmuts von sich und sagte: »Hallo.« Er richtete etwas den Oberkörper auf, doch er blieb, wo er war. Er hatte wulstige Lippen, eine breite Nase, Sommersprossen und braunes Haar. Eddy und Vinz waren dunkelblond.
»Ich lass euch jetzt allein, bald gibt es Abendessen«, sagte die Mutter und schloss die Tür. Frederick musterte Vinz und meinte schließlich: »Ich komme aus Deutschland.«
»Wo liegt das?«
»Gleich neben Österreich. Übrigens: ich will nicht, dass du Frederick zu mir sagst.«
»Wie denn?«
»Fred. Meine Freunde sagen Fred. Fred Raffwaller. Heißt du auch Raffwaller?«
»Nein, wieso? Ich heiße Vinz. Vinz Sabotnik.«
»Hahaha ... Sabotnik. Wir heißen alle Raffwaller. Deine Mutter hat nämlich meinen Alten geheiratet. Und der heißt Raffwaller.«
»Ich heiß aber Sabotnik.«
»Wie du meinst. Wir jedenfalls heißen Raffwaller.«
Vinz sauste der Kopf. Das war zu viel gewesen. Das Warum unterschiedlicher Familiennamen konnte ihn noch nicht beschäftigen.
»Hast du gewusst, dass dieses Haus einmal ein Verlies war? Vor langer Zeit?«, fragte Fred.
»Nein. Was ist ein Verlies?«
»Da werden Verbrecher eingesperrt.«
»So?«
»Sicher. Was glaubst du, warum da Gitter sind?« Er zeigte zum Fenster.
»Aber wir sind keine Verbrecher.«
»Nein. Jetzt ist es ein normales Haus.«
Fred blickte ungehalten, dann fragte er: »Wie alt bist du?«
»Fünf.«
»Also noch ein Milchbaby.« Dann verschwand sein Kopf. Vinz sah, wie seine beiden Hände ein Comicheft hielten.
»Was ist das für ein Heftchen?«
»Gespenstergeschichten. Nichts für Milchbabys. Du scheißt dir in die Windeln, wenn du das liest. Ach, du kannst ja noch nicht lesen.«
Vinz stellte sich ans Fenster und starrte durch die Gitterstäbe. Er sah einen Gemüsegarten und dahinter die Front eines zweites Hauses. Rechts befand sich eine Ufermauer, dahinter gluckste ein Bach.
»Was ist das für ein Bach?«
»Die Malta.«
»Gehört der Gemüsegarten uns?«,
»Nein. Der gehört den Steiningers.«
»Wer sind die Steiningers?«
»Na, wer schon? Unsere Nachbarn. Frag nicht so viel.«
»Tante Sophia hat auch einen Gemüsegarten«, sagte Vinz. Niemand reagierte. Der Satz fiel wie ein Stein in einen dunklen Brunnen. Anscheinend wollte niemand wissen, wer Tante Sophia war, und wo er gerade herkam.
»Hey!« Fred war plötzlich wie verwandelt und stieg die Leiter herab. »Versuch einmal deinen Kopf zwischen die Gitterstäbe zu stecken. Eddy hat es schon getan.« »Ja. Das war lässig«, sagte Eddy und nickte eifrig. Eddy konnte reden! Vinz blickte ihn an. Er richtete sich am Gitterbett auf und trat näher. Eddy konnte gehen!
»Na?«, fragte Fred lauernd. Vinz besah sich die senkrechten Gitterstäbe. Die Versuchung war groß. Vinz tat es und fühlte die kalten Stäbe an seinen Ohren vorbeigleiten. Er sah jetzt mehr vom Gemüse und vom Himmel.
»Und? Gute Aussicht, was? Und jetzt zieh den Kopf wieder heraus«, sagte Fred und lachte meckernd. Er musste direkt hinter ihm stehen, denn Vinz konnte seinen heißen Atem spüren. Vinz machte den Hals steif und bewegte vorsichtig den Kopf. Seine Ohren wurden schmerzhaft nach vorne gebogen – dann war er frei. Fred schien enttäuscht. Er bohrte in der Nase und rollte ein Stück Popel zwischen Zeigefinger und Daumen. Eddy sagte: »Lässig, nicht?«
Fred warf den gerollten Popel verächtlich fort und meinte: »Ich habe das auch schon einmal getan. In Deutschland. Wäre fast nicht mehr herausgekommen.«
»Und jetzt traust du dich nicht mehr«, sagte Vinz.
Fred zögerte einen Augenblick, sah ihn plötzlich überlegen an und schob ihn zur Seite. »Aus dem Weg, Kleiner.«
Er beugte sich zum Fenster und begann seinen Kopf zwischen den Gitterstäben durchzuschieben. Er tat sich schwer, denn er er hatte keinen kleinen Kopf. Er fluchte und stieß Wörter hervor, die wie nichts Gutes klangen.
»Scheiße. Scheißdreck, ah ... aua ... scheiße ... «
Seine Ohren wurden flach an seinen Kopf gequetscht, ein letzter Fluch, eine letzte Drehung – und er hatte es geschafft.
»Na, siehst du, Kleiner? Ich bin durch.« Er drehte seinen Kopf langsam nach rechts und wieder nach links. »Lässig, was?«, sagte Eddy zu Vinz und betrachtete Fred voller Bewunderung.
»Ja. Lässig. Jetzt reicht es mir aber ... «, meinte der und versuchte sich aus dem selbstgewählten Pranger zu befreien. Vinz sah, wie sich seine Ohren nach vorne schoben.
»Aua. Verdammt.«
Er hing fest. Er stemmte sich mit beiden Händen an den Gitterstäben ab und drehte den Kopf einmal so und dann wieder so. Nichts half. Er stak fest.
»Hurerei!«, fluchte Fred.
Vinz fragte: »Soll ich dir helfen?«
»Nein, Kleiner. Das schaff ich schon selber.«
Plötzlich fiel ein Schatten über die Brüder. Eine fremde Frau in Arbeitsschürze und Kopftuch schaute zum Fenster herein. In der Hand hielt sie einen Kübel. »Na, wenn das nicht der Fred ist. Wie hast du denn das geschafft?«
»Eine Wette. Ich komm schon wieder heraus, Frau Steininger.«
»Soll ich dir helfen?«
»Nein, nein. Wo ist Hannes?«
»Beim Abendessen. Soll ich dir wirklich nicht helfen?«
»Nein.«
»Na, wie du meinst. Ich muss eh den Salat ins Haus tragen.« Die Frau verschwand.
»Wer ist Hannes?«, fragte Vinz.
»Mein Freund, und jetzt halt die Klappe ... aua ... verdammte, Scheiße! Hurerei!«
Die Tür ging auf und die Mutter stand im Zimmer.
»Was ist denn hier los? Was soll der Blödsinn, Frederick?«
»Ich komm nicht mehr heraus, verdammt.«
»Was soll das heißen, du kommst nicht mehr heraus? Hinein bist du ja auch gekommen. Was soll das überhaupt, den Kleinen so einen Blödsinn vorzumachen?«
Sie nahm ihn an den Schultern und zerrte daran.
»Aua, nicht. Nein, au!«
»Stell dich nicht so an!«
»Du tust mir weh, verdammt!«
»Und fluche nicht!«
»Aua.«
»Mach dein Genick steif. Hast du mich nicht verstanden? Stell dich bitte nicht so blöd an! Das Genick sollst du steif machen! Ja. Nein. Nicht so steif!«
Die Mutter zog und zerrte an Fred, als wäre er eine Stoffpuppe, und dann, mit einem Ruck, kam er frei. Seine Ohren waren feuerrot. »Aua, scheiße.«
»Diese Ausdrücke kannst du dir sparen, Frederick. Ich will nicht, dass du vor den Kleinen so redest, klar? - Wie kommst du überhaupt dazu, ihnen solchen Blödsinn zu zeigen? Spiel doch was mit ihnen ... Ab in die Küche. Essen ist fertig.«
»Spiel mit ihnen. Ich spiele doch mit keinen Babys«, murmelte Fred in sich hinein, als die Brüder der Mutter hinterher trotteten.
Das Esswohn-Schlafzimmer lag direkt neben dem Kinderzimmer. Es gab keine direkte Verbindung zu ihm. Man musste über den öffentlichen Hausgang, um ihn zu betreten. Eine Eckbank und ein Tisch standen drin. Dazu ein Ofen und daneben ein seltsames Gebilde.
»Was ist das?«, fragte Vinz.
»Ein Klappbett. Da schlafen die Alten«, sagte Fred. Der Raum hatte eine schmale Nische. Darin standen ein Holzherd und Küchengerät in einem Regal. Es kam Vinz nicht in den Sinn zu fragen, wo der Vater sei.
Als die Brüder am Ecktisch Platz genommen hatten und das Abendessen vor ihnen stand, wunderte sich Vinz, dass die Mutter in der Nische blieb und sich gegen die Wand lehnte. »Esst nur, Kinder. Ich muss eine rauchen«, sagte sie und hielt ein Zündholz unter einen Glimmstengel. Verwundert sah Vinz zu der Frau mit dem schwarzen Haar. Er erkannte sie gar nicht wieder. Und doch war es die Mutter. Schließlich setzte sich die Mutter zu ihnen und meinte verdrießlich: »Geht jetzt ins Zimmer. Ihr könnt noch ein wenig spielen, aber dann heißt es Licht aus und schlafen. Euer Vater kommt heute wahrscheinlich nicht so schnell nachhause.«
»Wo ist Papa?«, fragte Eddy.
»Im Gasthaus«, meinte Fred und grinste.
»Da gibt es nichts zu grinsen, Frederick! Geht jetzt. Gute Nacht.« Sie wünschten der Mutter eine gute Nacht, doch Vinz hatte das Gefühl, als würde etwas fehlen. Natürlich: Tante Sophia hatte ihm zum Schlafengehen immer einen Kuss auf die Wange gegeben. Die Mutter tat das nicht. Auch nicht, als sie kam, um das Licht zu löschen.
»Es ist erst acht Uhr«, maulte Fred im Dunkeln. »Ich bin doch kein Milchbaby.«
Die Aufregungen des Tages und der neue Ort ließen Vinz lange nicht einschlafen. Von irgendwoher fiel ein Lichtschein durch das vergitterte Fenster, das keine Vorhänge hatte. Vinz hörte, wie Fred mit seinem Comic raschelte. Wahrscheinlich war es hell genug, um darin zu lesen.
Vinz sagte: »Bei Tante Sophia ist es ruhiger. Und schöner. Sie hat ein ganzes Haus. Es liegt mitten im Wald und es gibt Hühner und sogar Schweine.«
»Interessiert mich nicht, deine Tante Sophia, verstanden? Und jetzt: Klappe halten, ich muss lesen«, sagte Fred.
Endlich schlief Vinz – doch nicht für lange. Ein lautes Brüllen riss ihn aus unruhigen Träumen. Ehe er begriff woher es kam, ging auch schon das Licht an und die Mutter nahm Eddy aus dem Gitterbett. Der zeigte, immerzu brüllend, und mit verzerrter Fratze, auf die Wand. Dort zitterte ein Weberknecht hektisch seines Weges. Die Mutter erschlug ihn mit einer rasch zur Hand genommenen Socke, doch es dauerte lange, bis Eddy wieder ruhig war. Seltsamerweise schlief Eddy sofort ein, als die Mutter das Licht gelöscht hatte. Vinz starrte entgeistert auf das kleine Wesen im Gitterbett. Das Brüllen war ihm durch Mark und Bein gegangen. Fred sagte: »Das hat er öfters. Schreit, als ob ihn jemand abstechen würde. Und wie auf Kommando.«
»Wieso.«
»Keine Ahnung. Du musst nur Eierkopf zu ihm sagen. Dann schreit er auch.«
»Eierkopf?«
»Ja. Eierkopf. Ich hoffe, du bist kein Brüllaffe.«
»Nein.«
»Gut. Einer reicht mir nämlich.«


8

Am anderen Morgen war Vinz ausgeschlafen und bereit zu frischen Taten. Es gab eine neue Umgebung zu erforschen – und sie war wie es aussah interessanter als die Natur bei Tante Sophia. Es gab ja ein ganzes Städtchen mit einem altehrwürdigen Stadtturm. Sein rotes Zwiebeldach war Vinz gestern schon aufgefallen. Es gab die alte Stadtmauer, es gab einen breiten Bach und eine Brücke. Dann gab es die Gärten, die Häuser und die Wiesen, die vor der Stadtmauer lagen.
Vinz stellte die Beine aus dem Bett, gespannt auf seine erste Expedition. Mutter erschien in der Tür. Bleicher als gestern, mit derangiertem Haar. Glücklich sah sie nicht aus.
»Aufstehen, Kinder! Das Frühstück steht auf dem Tisch. Aber vorher waschen und Zähneputzen!«, befahl sie mit lauter Stimme. Fred wusste wohin. In Patschen und Unterhosen, die Zahnbürste in der Faust, schritt er den Brüdern erhobenen Hauptes voran. Der Hausgang erschien Vinz dunkler und länger als gestern. Der Steinboden war kalt. Rechts, vor dem hellen Viereck des offenstehenden Haustors, befand sich eine unscheinbare Tür in der Wand. Fred rüttelte an der Klinke. Sie ließ sich nicht öffnen. »Einen Moment«, erklang eine freundliche Männerstimme aus dem Inneren.
»Mist, besetzt«, zischte Fred.
»Wer ist da drinnen? Der Vater?«, fragte Vinz.
»Blödsinn. Das ist Herr Fleischbein. Er wohnt einen Stock höher«, belehrte ihn Fred.
»Mir wird kalt«, jammerte Eddy, der wie Fred und Vinz in seiner Unterhose dastand. Vinz blickte in den Gang zurück. Die zwei Türen waren gut zu erkennen. Man musste also über diesen Gang, wenn man von einen Raum in den anderen wollte. Dann gab es dieses Klo mit Waschbecken auf dem andere Leute saßen. Irgendwie wollte Vinz das nicht in den Kopf.
Die Spülung ging. »Einen Moment noch«, klang die freundliche Stimme, die nicht dem Vater gehörte. Vinz trat kurz in das Haustor. Wunderbar würzige Morgenluft empfing ihn. Ein Stück Wiese führte zu den gemauerten Bögen der Stadtbrücke. Rechts, an der Hausmauer, lag ein Sandhaufen mit Plastikspielzeug. Oben prangten Stadtturm und -mauer. Schlanke Pappeln säumten ein Sträßchen, das an ihr entlanglief. Ein zweites Sträßchen führte unter einen Brückenbogen hindurch in die entgegengesetzte Richtung. Gelegentlich knatterte ein Auto über die Brücke. Eine Frau mit Einkaufstasche verschwand im Fußgänger-Durchgang des Stadtturmes. Sein neues Terrain! Phantastisch!
Die Klotür ging auf. Heraus trat ein freundlicher Herr mit schwarzem Haar. »Oh, guten Morgen, Kinder«, sagte er. Als er schwungvoll an Vinz vorbei ins Freie trat, streifte ihn eine Rasierwasserwolke. Angenehm. Er blieb kurz stehen, legte ihm die Hand auf den Kopf und sagte: »Dann musst du der Vinzi sein.« Vinz nickte. Der Herr nickte ebenfalls und ging. Fred war schon dabei, sich über dem Waschbecken, das neben der Klomuschel angebracht war, die Zähne zu putzen.
»Gehört ihm das Haus?«, fragte Vinz.
»Fleischbein? Nein. Dem nicht. Puh. Das stinkt! Mach den Klodeckel zu, Eddy. Das Aroma kann ich nicht brauchen.« Eddy tat es. Als es ans Gesichtwaschen ging, fragte Vinz: »Wo ist das warme Wasser?«
»Gibts nicht«, sagte Fred.
»Bei Tante Sophia ... «, begann Vinz.
»Interessiert mich nicht, diese Tante«, bellte Fred. Vinz schluckte. Das war das letzte Mal, dass er die Tante erwähnte. Wenig später saßen sie angezogen am Frühstückstisch. Auf dem nun heruntergeklappten Bett lag jemand unter einer Decke und schnarchte. Vinz sah ein Büschel blondes Haar.
»Das ist Papa!«, verkündete Eddy stolz. »Er ist stark und hat solche Muskeln.« Er demonstrierte es mit seinen Händchen.
Fred meinte: »Genau betrachtet ist er mein Vater. Eure sind woanders.«
»Fred!«, schalt ihn die Mutter aus der Kochnische. »Er ist der Vater von euch allen. Kapier das endlich. Wir sind eine Familie.«
»Ja, ja. Dann hab ich halt zwei Familien, eine in Deutschland und eine hier ... «, murmelte Fred fast unhörbar. Vinz begriff nichts. Und es war im auch wurscht. Gesehen hätte er den Vater allerdings schon einmal gerne. Doch da war nur dieses blonde Haarbüschel.
Nach dem Frühstück schickte die Mutter Vinz und Eddy zum Spielen hinaus. »Aber dass ihr mir nicht auf die Ufermauer steigt«, warnte sie. Fred ging mit ihnen nach draußen. Es war ein schöner Sonntagmorgen.
»Wenn Mama fragt, ich bin bei Hannes!«, sagte Fred und blickte zur Ufermauer. »Ich gehe darauf spazieren wie es mir passt. Aber ihr seid noch zu klein.«
»Ja«, meinte Eddy. »Wenn wir darauf herumgehen, kommen wir ins Verlies. Wie die Verbrecher.«
»Wir sind ja schon im Verlies!«, lachte Fred. Dann wurde er ernst: »Früher hat man die Menschen noch aufgehenkt, wenn sie etwas verbrochen haben.«
»Was ist das?«, fragte Vinz.
»Man suchte einen Baum und ließ sie an einem Seil von einem Ast hängen, bis sie tot waren.«
»Ja, bis sie keine Luft mehr bekamen«, japste Eddy eifrig.
»Oder man hat ihnen auch den Kopf abgeschlagen. Zack!«, sagte Fred.
»Mit was?«, fragte Vinz.
»Mit einer Hacke. Der Kopf hat dann noch gelebt«, meinte Eddy mit großen Augen. Fred warf ihm einen mitleidigen Blick zu – und weg war er. Vinz und Eddy vergnügten sich eine Weile mit dem Plastikspielzeug auf dem Sandhaufen. Besonders zwei kleine Gummiautos hatten es ihnen angetan. Ein roter, offener Sportwagen und ein grüner Mittelklassewagen. Sie brummten damit auf selbstgebauten Straßen den Sandhügel entlang.
»Den Sand hat der Papa hierher gekippt, extra für mich, zum Spielen«, sagte Eddy an einer Stelle.
»Den Sand?«, fragte Vinz mit halbem Ohr, den etwas anderes fesselte seine Aufmerksamkeit. Laute Stimmen, die durch den Steingang heraus in den Sonntag drangen. Im nächsten Moment kam eine dunkle Gestalt den Gang entlang. Es war die Mutter, die ans Licht tretend sagte: »Komm, Vinz. Dein Vater ist jetzt wach. Begrüßt euch.«
Vinz, den Sportwagen in der Hand, zögerte.
»Na, was ist? Komm«, gebot die Mutter, nahm ihn an der Hand und führte ihn in das Esswohn-Schlafzimmer. Der Vater saß mit zerknautschtem Gesicht auf dem Bett. Auf Vinz wirkte er wie ein Seeräuber. Das blonde Haar stand ihm wirr in alle Richtungen. Dazu trug er einen gepflegten Vollbart, ebenfalls blond. Zwei stahlblaue Augen musterten ihn kurz.
»Das ist er«, sagte die Mutter zum Raffwaller.
Der brummte etwas in seinen Bart und die Mutter meinte: »Los Vinz, gib ihm die Hand.«
Vinz trat näher und gab ihm die Hand. Der Vater schüttelte sie kurz und meinte: »Trudl, mein Schädel zerspringt. Ich brauch ein Aspro.«
Die Mutter begab sich in die Kochnische und kramte in einer Schublade. Vinz fühlte sich unbehaglich, weil er nicht wusste, was noch kommen würde ... und es kam - nichts. Die Mutter war mit der Tablette und einem Glas Wasser zurück. Der Vater warf sie ruckartig in seinen Rachen, wobei er zwei Reihen gelber, aber makelloser und sehr kräftiger Zahnreihen entblößte. Er schluckte vernehmlich, als er mit dem Wasser nachspülte. Als danach vier, fünf Sekunden wieder nichts geschah, gab die Mutter Vinz einen Klaps: »Jetzt kannst du wieder spielen, los.« Wie von einem Druck befreit, lief Vinz durch den dunklen Gang und setzte sich zu Eddy in die Sonne.
»Was hat der Papa gesagt?«
»Nichts.«
»Gelt, solche Muskeln hat er.« Eddy zeigte den Umfang mit seinen kleinen Händen, doch Vinz war schon wieder abgelenkt. Die beiden lauten Stimmen waren wieder da. Da stritten sich zwei und die zwei waren die Mutter und der Vater. Vinz wurde mulmig zumute – während Eddy nichts zu hören schien und mit seinem grünen Mittelklassewagen auf dem Sandhaufen herumkurvte: »Brrrrr ... eehm ... ehhm ... brrrrrrr ... ehm, ehm, ehm ... «
Plötzlich wurde eine Tür laut zugeschlagen und im nächsten Moment stürmte der Raffwaller mit grimmiger Miene an ihnen vorbei. Vinz wollte Eddy, der ins Spiel vertieft war und nichts mitbekam, antippen, ließ es aber. Er sah, wie der Raffwaller über die steinerne Treppe zum Stadtturm hinaufstürmte und im Fußgängerdurchlass verschwand.
»Brrrrr ... ehm ... ehm ... «, machte Eddy.
Der Sandhaufen unterhielt die Brüder, bis sie die Mutter zum Mittagessen hineinrief.
»Was ist mit Fred?«
»Der ist bei Hannes«, sagte Vinz.
»Das sieht ihm ähnlich, er weiß genau, dass um zwölf das Mittagessen auf dem Tisch steht«, sagte die Mutter.
»Ich hol ihn«, meinte Eddy und rutschte von der Eckbank.
»Gut, aber pass auf der Straße auf.«
Zum ersten Mal fand sich Vinz mit der Mutter allein. Er fragte: »War das Haus früher ein Verlies?«
»Nein«, antwortete die Mutter geistesabwesend.
»Hat man früher Leute geköpft?«
Die Mutter nahm die Zigarette aus dem Mund.
»Wer hat dir denn das erzählt?«
»Fred.«
Sie schwieg und rührte eine Weile in ihrem Topf.
»Ja. Sogar hier in Gmünd. Man hat einer Frau den Kopf abgeschlagen.«
»In der Stadt?«
»Nein oben, am Galgenbichel. Wo man alle Verbrecher hingebracht hat.«
»Wo ist der?«
»Hinter der geteilten Kirche.«
»Die geteilte Kirche?«
»Ja, eine Straße führt durch sie durch.«
»Mitten durch?«
»Ja.«
»Und wie hieß die Frau? Was hat sie getan?«
»Faschaunerin. Sie hat ihren Mann vergiftet.«
»Aber warum?«
»Weil sie ihn nicht leiden konnte. Sie hat mit ihm nicht weit von hier gelebt. Er hat sie tyrannisiert und da hat sie ihm Rattengift in das Essen getan. Er war ein böser Mann.« Die Mutter starrte in den Topf.
»Und da hat man ihr den Kopf abgeschlagen.«
»Nein. Zuerst hat man sie eingesperrt, oben auf der Burg, und ... « Die Mutter hielt inne.
»Ja?«, fragte Vinz.
»Sie verhört und dann hat man sie geköpft. Hör her. Fred soll euch nicht immer solche Geschichten erzählen.«
»Aber die ist doch wahr?«
»Ja. Diese Geschichte ist wahr«, sagte die Mutter und schwieg als würde sie an etwas Fernes erinnert. Eine Weile hörte man nur das Knistern des Herdfeuers und das Schaben des hölzernen Kochlöffels im Topf.
»Mama?«
»Ja.«
»Lebt ein abgeschlagener Kopf noch?«
Die Raffwallerin nahm die Zigarette aus dem Mund und sah ihn an.
»Nein. Und wenn euch Fred weiter solche Sachen erzählt, werde ich einmal ein ernstes Wörtchen mit ihm reden müssen. So, gib mir dein Teller.«
»Was gibt es denn?«
»Gerstelsuppe ... vorsicht, heiß.«


9

Die erste Glotze stand im Esswohn-Schlafzimmer. Groß, sperrig und irgendwie bedrohlich. Der Vater war mit dem monströsen Ding gegen Abend aufgetaucht. Ganz allein hatte er es hereingetragen und auf einen Schemel gestellt. Nun thronte es zwischen Eingangstür und Kochnische. Das Stück Technik beherrschte den Raum völlig.
»Gütz! Wo hast du denn den her?«, fragte die Raffwallerin und wischte sich die Hände an der Schürze ab.
»Von Sepp dem Elektriker.«
»Ein Fernseher!«, rief Eddy erfreut.
»Er ist gebraucht, funktioniert aber prächtig«, meinte der Raffwaller.
»Bist du sicher?«, zweifelte die Raffwallerin.
»Auf Sepp kann ich mich verlassen. Immerhin ist er Elektriker. Der verkauft mir keinen Krempel.«
»Ist es ein Farbfernseher?«, meinte Fred hoffnungsvoll.
»Nein, schwarzweiß.
»Ooch. Nur schwarzweiß.«
Der Raffwaller war am Gerät zugange.
»Einschalten, einschalten!«, rief Eddy. Der Raffwaller drückte einen Knopf und drehte die Zimmerantenne. Es dauerte eine Weile, bis das Bild hell wurde und zuerst war da nur der lautlose Schneesturm der Störung. Er drückte Knöpfte und drehte die Antenne. Plötzlich flammte ein bedrohliches Standbild auf, das bei längerem Hinsehen wie ein Totenkopf wirkte.
»Ich geh zu Hannes!«, rief Fred, dem das Ganze zu blöd wurde, und schon war er weg.
»Da bewegt sich ja gar nichts«, jammerte Eddy.
»Weil kein Programm läuft. Das ist das Testbild«, knurrte der Raffwaller.
»So, eingestellt habe ich ihn. Ich muss wieder fort.«
»Du musst wieder fort? Aber heute ist Samstag und wir wollten ... «, protestierte die Raffwallerin.
»Keine Angst, Trudl – zum Abendessen bin ich wieder da«, sagte der Raffwaller und ging.
»Was ist ein Testbild?«, fragte Eddy.
»Na, ein Testbild halt. So jetzt muss ich kochen.« Die Mutter stellte sich an den Herd. Vinz und Eddy starrten noch eine Weile auf das unbewegliche Bild und verzogen sich ins Zimmer zu ihren paar Spielsachen.
Abends war der Vater wirklich da. Es liefen die Nachrichten. Als die Brüder nach dem Sport noch Werbung schauen wollten, sagte er: »Es ist genug für heute.« Und mit einem Blick auf die gierigen TV-Novizen fügte er hinzu: »Der Kasten macht eh nur deppert. Am besten, man wirft ihn gleich wieder aus dem Fenster.«
Die Brüder waren entsetzt.
»Gütz!«, rief die Mutter.
Im Kinderzimmer sagte Fred: »Mir wäre es wurscht, wenn ihn der Alte aus dem Fenster schmeißt. Ist eh nur ein Schwarzweiß-Kasten. Billiger Krempel. Wie alles von Elektrosepp. Der ist gar kein richtiger Elektriker, sondern Hilfstschack. Die Steiningers haben einen Farbfernseher. Und dahin verschwinde ich jetzt. Tschüss, Babys.«
Vinz und Eddy starrten ihm nach. Dann wandten sie sich ihren Spielsachen zu.
»Komm, Eddy. Jeder nimmt sich fünf Matchbos-Autos. Dann machen wir eine schiefe Bahn und lassen sie hinunterollen. Das Auto, das am weitesten rollt, gewinnt.«
Eddy machte mit. Die Autos waren noch nicht lange gerollt, als Vinz Stimmen durch die Wand hörte. Oder war das Fenster offen? Ja, war es. Kamen sie also von draußen, vom Garten? Er stellte sich ans Gitter. Vinz unterschied einen Brummbass und eine hohe Stimme. Diese Stimmen waren nicht freundlich zueinander, doch niemand stand im Garten. Vinz ging zurück und konzentrierte sich wieder auf das Spiel.
»Du hast die besseren Autos. Der rote Bus gewinnt immer«, jammerte Eddy.
»Gut, dann darf er nicht mehr mitspielen.« Vinz legte ihn zur Seite. Der Brummbass wurde plötzlich lauter und die helle Stimme wurde weinerlich.
»Eddy, hörst du das?«
Eddy ließ ein Auto die schiefe Ebene hinabrollen. Vinz stand auf und legte ein Ohr an die Wand. Kein Zweifel. Der Vater und die Mutter waren es, die da stritten. Etwas schien umgefallen zu sein. Und nun hörte Vinz die Mutter weinen.
»Eddy, hörst du das? Die streiten ja.«
Eddy nahm stoisch ein neues Auto und ließ es hinunterrollen.
»Eddy. Hörst du das nicht?«
Eddy sagte: »Du bist dran. Mein Auto hat einen neuen Rekord aufgestellt.«
Vinz setzte sich zu seinem Halbbruder und schaute ihn lange an. Er musste den Streit doch hören. Oder hatte er diesen unheimlichen Zweigesang schon so oft gehört, dass er ihn gar nicht mehr hören wollte? Vinz ahnte die Wahrheit. Wenn die Eltern stritten, legte sich in Eddys Kinderhirn ein Schalter um und er wurde taub.
 

kinAski

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Spoiler der Kapiteln 7, 8 und 9 von "KLIRR - ein Kind".

Der kleine Vinz wird von seiner Mutter aus der Obhut seiner Großtante zurückgeholt ... in ein halbes Kellerloch von Wohnung. Er hat jetzt einen Stiefvater und einen zusätzlichen "Bruder." Was er als Kind nicht begreift: Er ist in einem Alkoholikerhaushalt angekommen und gehört jetzt zum Bodensatz der Gesellschaft. Wird Vinz in diesem Milieu ersticken? Oder gibt es Sonnenseiten in seiner unerwünschten Existenz? Den unerwünscht ist er jetzt, wie er zwar nicht begreift, aber fühlt ...

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