Kälteeinbrüche

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Bei den Sanftlebens starben die Männer früh. Friedemann Sanftlebens Vater mit einundsechzig. Sein Großvater wurde achtundfünfzig. Und sein einziger Onkel fiel als sechzehnjähriger Flak-Helfer im letzten Kriegsmonat.
Friedemann, inzwischen unerwartet in seinem sechsundsechzigsten Lebensjahr angekommen, fühlte sich der Kälte ausgeliefert. Er hasste der November, obwohl der in diesem Jahr zwei Tage vor seinem Ende ziemlich mild ausfiel.
Selbst die in der Jahreszeit üblichen Nebel blieben aus. Und so konnte er gestern bei blassem Sonnenschein in der Fußgängerzone herumschlendern.
Vor der Buchhandlung Bronsky sprach ihn ein Mann an, der etwa so alt war wie er selbst. „Was stehn Sie hier rum und beobachten Leute? Glauben Sie, die Leute finden das angenehm?“
Friedemann Sanftleben sah dem Mann, der einen grauen wadenlangen Lodenmantel und einen schwarzen breitkrempigen Hut trug, kurz in die Augen und wollte weitergehen.
„Laufen Sie nicht weg. Sie sehen Menschen ohnehin nicht, wie sie sind, sondern so wie Sie selbst sind. Mein Herr, gerade Sie kennen nur sich, wenn Sie verstehn, was ich meine.“
Friedemann wollte dem Fremden ausweichen. Der aber stellte sich im breitbeinig in den Weg, schob den Hut ein wenig in den Nacken und taxierte Friedemann von den Augen bis zu den ungeputzten Schuhen.
„Es geht Sie rein gar nichts an, ob ich mich kenne oder nicht.“
Grinsend wiederholte der Fremde: „Es geht Sie rein gar nichts an, ob ich mich kenne oder nicht.“
Friedemann Sanftleben holte Luft, machte einen Ausfallschritt zur Seite, kam, nicht ohne ihn anzurempeln, an dem Mann vorbei, hastete voran und sah sich dabei ein paar Mal um. Der Mann folgte ihm nicht und dennoch hatte er das Gefühl, ihn nicht abschütteln zu können. Er senkte den Kopf und vermied, die entgegen kommenden Passanten anzusehen
Als er Anna, mit der er inzwischen über vierzig Jahre dasselbe Ehebett teilte, davon erzählte, strich sie sich ihre dünnen grauen Haare aus dem Gesicht, lächelte ihn mitleidig an und meinte mit gewohnt sanfter Stimme, nur eingebildete Männer fühlten sich ständig beobachtet und verfolgt.
Anna behauptete gern und oft, Frauen seien grundsätzlich anders. Deswegen fragte er sie kaum um ihre Meinung, wenn er von ihr etwas über sich erfahren wollte.
Wie immer, wenn sie ihm besonders großes Interesse vorheuchelte, legte sie den Kopf besonders schief. „Wie sehen sie denn aus, deine Beobachter? Oder sind es Beobachterinnen?“
Friedemann begann zu frösteln. Er setzte sich in Annas Sessel an der Heizung, zog die Beine zum Schneidersitz an und holte Luft.
Anna nahm anderen Sessel, der eigentlich seiner war, und sah ihn an, die Hände im Schoß knetend und die Stirn in Falten gelegt.
Er musste sich kräftig räuspern. „Meine Haut wird dünner. Die Kälte dringt tiefer ein.“
Anna streichelte seine Hand. „Früher habe ich dich vor allem wegen deiner warmen Hände geliebt.“
„Manchmal…“, Friedemann musste sich erneut räuspern, „…manchmal denke ich, es sind gar nicht mehr meine Hände.“ Er hüstelte und Anna zeigte ihm für Momente ein glattes junges gerötetes Gesicht. Dann wurde sie blass und ihm fielen wieder die blauen Ringe unter ihren Augen auf und die Falten an ihrem dünnen Hals.
Er wich ihrem Blick aus. „Ich geh noch mal eben zum Fritz.“

Fritz stand hinter der Theke, zapfte Bier und winkte kurz. „Ein Pils, einen Kurzen, wie immer?“
Friedemann nickte.
Herbert Hostel saß allein am Stammtisch, erhob sich stöhnend und stellte sich neben Friedemann an die Theke. Sie trafen sich immer nur hier. Nicht einmal, wo Herbert wohnte, wusste Friedemann. Über Politik sprachen sie und waren sich einig, dass alle Politiker Lügner seien. „Die ehrlichsten Politiker geben wenigstens zu, dass sie lügen.“ War eines der geflügelten Worte Herberts, der vor seiner Pensionierung im städtischen Amt für öffentliche Ordnung arbeitete. Bevor er ein geflügeltes, oft jedoch eher flügellahmes Wort von sich gab, richtete er sich auf, seufzte, nahm die Pose eines durch und durch engagierten Redners ein, rückte seine Hornbrille zurecht und winkte mit der rechten Hand kurz und verächtlich ab. „Tritt ein Politiker einem harmlosen Bürger auf die Füße, schreit der Politiker vor Schmerz so laut auf, dass der Getretene glaubt, sich bei ihm entschuldigen zu müssen.“ Damit keiner die Pointe verpasste, begann Herbert sofort ansteckend zu lachen. Friedemann lachte mit. „Ham ja sonst nix zu lachen. Jetzt wolln die uns wieder die Rente kürzen!“
Herbert nickte. „Politik ist nicht die Kunst des Möglichen sondern die, Unmögliches als möglich zu verkaufen.“
Diesmal verzichtete Herbert auf sein Lachen. Friedemann sah ihm in die tief liegenden von dunklem Blau umrahmten Augen. „Wir sind doch ungefährt gleich alt? Fühlst du dich auch beobachtet und verfolgt?“
„Ja, früher schon mal von der einen oder anderen Frau.“
Friedemann schüttelte unwillig den Kopf. „Ne, mal ernsthaft. Ich dachte immer, im Alter gelassener zu werden und die Angst vor mir zu verlieren.“
„Du hast Angst vor dir selber?“
„Ja, ich bring mich ständig in Lebensgefahr.“ Friedemann gab Herbert die Hand und warf Fritz ein paar Münzen auf die Theke. „Stimmt so.“

Kaum auf der Straße, war er wieder auf der Flucht. In seinem Kopf begann es zu schwindeln. Kälte kroch über die Füße in die Beine und von den Fingern in die Arme. Er kniff sich in den Oberarm, spürte keinen Schmerz, kniff kräftiger, stieß sich mit der Faust in die Seite, empfand den Stoß doch auch keine Schmerzen.
Von der anderen Straßenseite winkte Kramer, sein Nachbar. Friedemann ging zu ihm hinüber. Kramer, klein und vor allem drahtig, drückte ihm kräftig die Hand und schüttelte sie. Es war Friedemann, als überließe er dem Nachbarn einen hölzernen Puppenarm, den der wild auf und ab bewegte.
„Wie geht’s?“
Friedemann zuckte mit den Schultern.
Kramer lächelte. „Es gibt halt Tage, da steht man irgendwie neben sich.“ Er beeilte sich, weiter zu gehen.
„Bleiben Sie sofort stehen!“ hörte Friedemann sich brüllen.
Kramer riss die Arme in die Höhe, drehte sich um und ergriff die Flucht.
Friedemann lief ihm ein paar Schritte hinterher, blieb schließlich stehen, sah dem Davonhastenden eine Zeit lang nach und setzte dann frierend seinen Weg fort.
Als er die Fußgängerzone verließ, begann es zu dämmern und leicht zu regnen. Er schlug den Kragen seiner alten Lederjacke hoch.
Viele Fenster der Häuser, an denen er vorbeikam, waren erleuchtet und nur wenige zugehängt. Er sah Kinder vor Fernsehapparaten, Leute beim Essen, Frauen bei der Hausarbeit und Männer Zeitung lesen. Der Regen nahm zu. Am liebsten hätte er an einer der Haustüren geklingelt. Schließlich stellte er sich unter das Vordach eines Ofengeschäfts und sah sich die Auslagen an. Ein Kaminofen gefiel ihm. Leider konnte sie so einen in ihrer Wohnung nicht anschließen, da es keinen passenden Kaminabzug gab.
Das Haus neben dem Ofenladen ragte ein wenig in die Staße hinein. Ein Fenster, offenbar das Wohnzimmerfenster war erleuchtet. Eine Frau, ihr Gesicht konnte er im Gegenlicht kaum erkennen, goss mit einer kleinen Messingkanne Zimmerpflanzen. Sie sah Friedemann, winkte verlegen und verschwand hinter der Wand. Friedemann ging unwillkürlich einen Schritt auf das Haus zu. Die Frau erschien wieder und begann mit einem Lappen die Fensterbank zu wischen. Er ging noch einen Schritt näher. Dort schütze ihn das Vordach nicht mehr vor dem Regen.
Die Frau verschwand wieder. Gerade wollte Friedemann unter den Schutz des Vordach zurückkehren, da flammte Licht hinter der Tür neben dem Fenster auf. Langsam wurde sie geöffnet und die Frau winkte Friedemann, in den Hausflur zu kommen. „Das ist aber nett von Ihnen. Vielen Dank.“Ließ Friedemann sich vernehmen. Die Frau hingegen zeigte mit dem Zeigefinger der einen Hand auf ihre geschlossenen Lippen, schüttelte den Kopf und bewegte den Zeigefinger der anderen Hand schnell hin und her.
Friedemann folgte ihr schweigend durch den Flur. Im Wohnzimmer wies sie mit der Hand auf einen alten mit Schaffellen behängten Sessel.
Friedemann setzte sich, wollte wieder etwas sagen. Sie aber zeigte auch diesmal auf ihre verschlossenen vollen Lippen, holte aus der Schublade eines Sideboards ein Blatt Papier, legte es vor ihn auf den Tisch, nahm einen Bleistift und schrieb in Druckbuchstaben auf den Zettel: TAUBSTUMMN, schob ihre lange braunen Haare aus dem geröteten Gesicht und lachte ihn an. Sie mochte vielleicht dreissig sein.
Friedemann nahm ihr vorsichtig den Bleistift aus der Hand und schrieb VERFOLGT auf das Papier.
VON WEM wollte die junge Frau wissen und sah ihn forschend an.
VON MIR. Er zuckte mit den Achseln.
WERDE AUCH VON DIR VERFOLGT. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, kicherte prustend und tätschelte ihm besänftigend den Oberamr.
Friedemann drehte den Zettel um und schrieb: HABE ANGST ZU ERFRIEREN.
Die junge Frau setzte sich auf die Sessellehne, legte einen Arme um seinen Schultern, drückte seinen Kopf behutsam gegen ihre volle Brust und streichelte ihm mit der freien Hand zärtlich die Wange.
Regungslos saß Friedemann in dem alten Sessel. Sie ließ sich Zeit und als sie schließlich aufhörte, ihn zu streicheln, nahm den Bleistift und schrieb: HABE KEINE ANGST MEHR.
Sie ließ ihn los und gab ihm ein Zeichen aufzustehen. Widerwillig erhob er sich. Sie nahm noch einmal den Bleisitift und schrieb in besonders großen Buchstaben JETZT HABE ICH DEINE ANGST, ging ohne Hast zur Wohnzimmertür und hielt sie ihm weit auf.

Draußen regnete es nicht mehr. Das Fenster war dunkel. Offenbar hatte sie das Licht gelöscht. Im kahlen Geäste einer Buche hinter dem Haus hing ein zunehmender Mond und spiegelte sich auf dem nassen Straßenpflaster.
Friedemann fror nicht und rechnet an den Fingern nach, wie viele Jahre er noch leben wollte. Die Finger beider Hände brauchte er mindestens zwei Mal.
 
H

HFleiss

Gast
Lieber Karl, nicht ganz verstehe ich, warum sich Friedemann bei der Begegnung mit dem anderen Mann eigentlich verfolgt fühlt, denn es ist doch der andere (der ihn ja auch daraufhin anrempelt), der sich beobachtet fühlt. Die Idee der Geschichte, jemand fühlt sich verfolgt, scheint mir in diesem Text nicht logisch genug aufgezeigt zu sein. Und die Begegnung mit der taubstummen Frau am Schluss sagt mir zu diesem Thema im Grunde sehr wenig, zumindest ist sie meiner Ansicht nach keine Auflösung der Geschichte. Wie immer bei deinen Texten ist die Geschichte gut lesbar, der Stolperer liegt im Plot. Oder: Was habe ich selbst bei dieser Geschichte nicht verstanden?

Lieben Gruß
Hanna
 
Liebe Hanna,
der Mann, der Friedemann Sanftleben zuerst begegnet, sagt ihm, er (Friedemann) könne in anderen Menschen nur sich sehen. Damit wird er nur von Menschen verfolgt, in denen er sich sieht... .
Die Auflösung mit der Taubstummen ist, so denke ich inzwischen auch, ist nicht nur nicht gelungen sondern hat auch Klischeehaftes. Daran werde ich noch arbeiten. Gedacht hatte ich mir, Friedemann lebt mit einer Frau, die Worte macht und nicht wärmt, während er bei der Taubstummen auf eine Frau trifft, die wärmt, ohne zu reden.

Aber, wie oben geschrieben. Ich muss noch an der Geschichte arbeiten.
In jedem Fall erst einmal herzlichen Dank für deine Kritik und einen guten Rutsch.
Karl
 



 
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