Karlchen Kastanie

healthnut

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Karlchen Kastanie


Am Ende der Straße stand ein großer Kastanienbaum, an dem schon viele prächtige Kastanien hingen. Es wurde nun langsam Herbst und jeden Tag riefen die aufgeregten Kinder, die unter dem Kastanienbaum entlangliefen: ”Hoffentlich fallen sie bald runter!”
Die Kinder machten immer ziemlichen Lärm, wenn sie zum Kindergarten am Ende der kleinen Straße gingen. Wie das bei Kindern so ist, mussten sie vor Vorfreude oft quietschen und hüpfen. Wären sie unter dem Baum ein bisschen leiser gewesen, so hätten sie hören können, wie sich die Kastanien unterhielten.
“He, Leute”, rief nämlich gerade eine besonders dicke Kastanie, die ganz vorne an einem Zweig hing, “ich glaube, bald ist es soweit! Mein Stiel ist schon ganz locker, bald geht’s auf die Reise!”
“ Du hast es gut, Kurti, ich bin noch ganz grün”, piepste ein kleine Kastanie hinter ihm.
“Mach dir nichts daraus Karlchen, das wird schon noch”, tröstete Kurti.
Überall am Baum zappelten aufgeregte Kastanien an ihren Zweigen und konnten es gar nicht mehr erwarten. Bald würde der erste Herbstwind den Baum kräftig durchschüttelten und sie alle auf ihre abenteuerliche Reise schicken.
“Wo werden wir hinkommen, Mama?”
“Werden unsere grünen Mäntel kaputtgehen?”
Verschiedene Stimmen ertönten aus allen Winkeln des Baumes. Unter den großen gelblichen Blättern lugten neugierige grüne Köpfchen hervor.
“Immer mit der Ruhe, meine Schätzchen”, hörte man nun die tiefe Stimme des Kastanienbaums.
“Ihr werdet alle eine Reise erleben. Passt nur schön auf, dass ihr nicht auf die harte Straße fallt, denn dann kommen die da und fahren euch zu Matsch, bevor ihr was erleben könnt.”
In diesem Moment fuhr eine Reihe knatternder Autos auf der Straße vorbei und alle Kastanien hielten den Atem an. Davor musste man sich also in Acht nehmen.

Am nächsten Tag fing der Wind so kräftig an zu blasen, dass es den Leuten unten auf der Straße fast die Mützen vom Kopf riss.
“Juchhe, es geht los!”, rief Kurti und machte sich als erster auf den Weg. Mit einem ”Plop” löste sich sein Stiel und er segelte mitsamt seinem großen Blatt elegant hinunter.
“Auf Wiedersehen”, hörte man jetzt auch von anderen Kastanien. Sie fielen auf den Fußweg, rollerten noch meterweit weg, landeten in weichen Blätterhaufen oder platschten in Pfützen. Bald waren alle weg, nur Karlchen hing traurig an seinem Zweig.
“Wann darf ich los, Mama?”, fragte er unglücklich.
“Bald, mein Liebling”, anwortete der Kastanienbaum.” Deine Zeit wird kommen, du musst noch wachsen.”

Mittlerweile hatten die Kinder die Kastanien entdeckt und sammelten sie unter lautem Rufen und Lachen auf.
“Guckt mal, so viele habe ich!”, prahlte ein kleiner Junge und hielt seine große Tüte voller Kastanien hoch.
“Ich habe noch mindestens tausend mehr!” Ein Mädchen mit lustigen Zöpfen schlenkerte ihre Tasche. Dabei fielen alle Kastanien wieder hinaus. “Hoppla”, lachte das Mädchen.
Karlchen wunderte sich. Was wollten die Kinder mit all den Kastanien?
“Hallo?”, rief er leise. Die anderen hörten ihn nicht mehr.

Ein paar Tage später fühlte Karlchen sich dicker und größer, er hatte auch das Gefühl, dass sein Stiel lockerer wurde.
“Bald geht es los, mein Liebling”, sagte Mama Kastanienbaum. “Gute Reise.”
Und tatsächlich – in der Nacht fühlte Karlchen plötzlich einen Ruck, dann sauste er nach unten.
Er landete auf etwas Weichem, aber weil es so dunkel war, konnte er gar nichts sehen.
Am nächsten Morgen stellte er fest, dass er auf einem Laubhaufen gelandet war. “Und was nun?”, dachte er.
Eine ganze lange Zeit lag er da. Leute kamen und gingen, Kinder guckten auf den Boden, aber sahen ihn nicht.
“Hier gibt’s nichts mehr”, rief ein ganz kleines Kind. Es wurde grauer und kälter und der Laubhaufen verwandelte sich langsam in braunen Matsch.
Da kam eines Tages ein kleiner Junge vorbei, der mit den Füßen im Matsch herum stapfte.
“Jonas, komm da weg, du wirst ganz schmutzig!”, rief seine Mama.
“Ooch”, murrte Jonas und plötzlich bückte er sich. “Mama, hier ist noch eine Kastanie!”
“Aber du hast doch schon so viele!” Die Mama verdrehte die Augen. “Na, nimm sie halt mit.”
Karlchen wurde aufgehoben und in eine dunkle warme Tasche gesteckt.
Als er wieder herausgeholt wurde, sah er ein Kinderzimmer voller Spielsachen und auf einem Tisch stand das Wundervollste, was er je gesehen hatte: Jemand hatte aus Kastanien herrliche Figuren gebastelt. Wie schön und lustig sie aussahen! Jetzt endlich verstand Karlchen, wozu die Kinder Kastanien brauchten. Er fragte sich gerade glücklich, was man wohl aus ihm basteln würde, als Jonas sagte ”Ach, mit einer Kastanie alleine kann man ja gar nichts machen.”
Mit diesen Worten legte er Karlchen in eine Schachtel auf dem Tisch. Das konnte doch nicht wahr sein! Sollte Karlchen jetzt in der Schachtel vertrocknen?
Am Abend, als die Mama Jonas zu Bett brachte, sagte sie plötzlich: “Jonas, ich habe ein gute Idee, was du mit der Kastanie machen kannst. Wir fahren doch morgen zu Oma und …” Den Rest flüsterte sie in Jonas Ohr.

Die Oma hatte einen großen Garten auf dem Land und Jonas buddelte am nächsten Tag ein Loch in die Erde und legte Karlchen hinein. Vorsichtig deckte er ihn mit kühler brauner Erde zu. “Wie wird mir so warm und seltsam?”, dachte Karlchen schläfrig und glücklich. Er lag eine lange Zeit und schlief, bis er eines Tages wieder aufwachte und einen kleinen grünen Zipfel auf seinem Kopf fühlte.
“Das ist also das Ziel meiner Reise”, dachte er glücklich. “Ich werde ein Kastanienbaum, wie Mama!” Und mit einem kräftigen “Hurra!” stieß er den grünen Spross durch die Erde hindurch.
 



 
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