Kartoffelernte (zur Schreibaufgabe)

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jon

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Die neueste Version steht weiter hinten im Thread - und zwar hier.


Kartoffelernte

Es war simpel: Alfons Bärbecker hatte nichts weiter zu tun, als den Weganenern zu zeigen, wie man Kartoffeln anbaut. Das Klima auf dem mittleren Kontinent war hervorragend dafür geeignet – es war gleichmäßig warm, weder zu nass noch zu trocken und der Boden war unglaublich fruchtbar.

Vor fünf Monaten hatte Bärbecker auf einem kleinen Stück Acker, den die Dorfbewohner ihm überlassen hatten, nach allen Regeln der Kunst – Bärbecker war vernarrt in die ursprünglichen Methoden der Nahrungserzeugung – die kleinen rötlichen Knollen in den Boden gelegt. Er hatte Unkraut gezupft und als die Pflanzen zu sprießen begannen, nach und nach die Dämme angehäufelt…

Die Feldarbeit beschäftigte ihn täglich zwei bis drei Stunden. Dann widtmete er sich regelmäßig der kulinarischen Seite seiner Mission und führte den Weganenern vor, wie sie auf ihren Herden die Vielfalt der Erdäpfel nutzen konnten. Mit Freude hatte er feststellen können, dass die um die zwei Meter großen hageren Geschöpfe mit der bleichen Haut und dem flaumdünnen Haar wahre Genießer waren: Was immer er aus den von der Erde mitgebrachten Kartoffeln zauberte – die dürren Riesen verputzten es. Sie waren so versessen auf Kartoffelspeisen, dass sie Bärbecker jeden Morgen von seiner Unterkunft am Schiff abholten und ihm die schweren Kartoffelstiegen ins Dorf trugen. Sechszehn, manchmal auch zwanzig Kilo Kartoffeln pro Mahlzeit verdrückte die knapp fünfzigköpfige Dorfgemeinschaft – als Beilage zu Fleisch, Fisch und Gemüse. Und was immer Bärbecker zubereitete, aßen die Weganener mit einem Ausdruck von Entzücken auf ihren bleichen Gesichtern restlos auf.

Das Einzige, woran sich Bärbecker nur mühsam gewöhnen konnte, war die Stille an der Tafel. Kein Ah! oder Oh! kam über die Lippen der Weganener, zumindest keines, das der Mensch hätte hören können. Natürlich gab es Übersetzungsgeräte, die die Ultraschalltöne der weganenischen Sprache erfassen, analysieren und ins Englische übersetzen konnten. Sie machten es allerdings so unzuverlässig, dass sie mehr Missverständnisse produzierten als vermieden. Ohnehin verfügten die Weganener über eine so sensible Wahrnehmungsfähigkeit, dass sie aus winzigen Gesten, der Mimik und dem wenigen, was sie von der menschlichen Sprache hörten, die offenbar immer richtigen Schlüsse zogen. Und irgendwie hatten sie auch geschafft, den ersten Menschen auf ihrem Planeten eines deutlich zu machen: Wir wollen Kartoffeln!

Alfons Bärbecker verstand dieses Ansinnen. Aus den vielen Kartoffelsorten, die er mitgebracht hatte, war eine lukullische Vielfalt erschaffbar, die jeden entzücken musste. Und da die Weganener an einer Laune der Natur leidend kein Getreide – weder roh noch gekocht noch gebacken – vertragen konnten, kam ihnen die Energie-Knolle gerade recht. Fast sah es so aus, als hätten die dürren Riesen während Bärbeckers Pommes-Marathon schon ein paar Gramm zugelegt, auf jeden Fall waren sie deutlich lebendiger geworden. Die Entdecker Weganens hatten seine Bewohner noch als phlegmatische und auf äußerste Energierationierung bedachte Wesen beschrieben, Bärbecker dagegen hatte seine Weganener, wie er sie gern nannte, in wilden Tänzen wirbeln sehen.

Morgen würde nun endlich der große Tag sein! Gerade zur rechten Zeit – die Kartoffelvorräte an Bord des Frachters schrumpften merklich – würde Bärbecker die ersten weganenischen Knollen ernten. Mit großen Gesten lud er seine Weganener an den kleinen Kartoffelacker ein. Das Laub der Pflanzen war welk zusammengesunken, die Knollen jedoch – Bärbecker hatte am Abend vorher heimlich eine Probe gemacht – waren groß, rund und prall.

Als sich alle achtundvierzig Dorfbewohner in einem dreireihigen Halbkreis um Bärbecker aufgebaut hatten, schritt dieser zur Tat: Er griff die nächstbeste Pflanze, zog ein wenig an ihr, rüttelte ein wenig an ihr und zog wieder und schaffte es tatsächlich, dass nichts abriss – jede einzelne Knolle dieser Kartoffelpflanze erblickte das Licht der Welt. Bärbecker schüttelte die Pflanze ein bisschen und locker krümelnd fiel die Erde von den Wurzeln, so dass man das Rot der jungen Kartoffeln vielfach hervorblitzen sah. Es war ein wunderbarer Anblick! Im Bewusstsein der Erhabenheit dieses Momentes drehte sich Alfons Bärbecker zu den Weganenern um und …

…erstarrte: Blankes Nichtverstehen schlug ihm entgegen. Nicht einmal das sonst übliche unverbindliche Lächeln war auf ihren Gesichtern. Vielleicht erkannten die Wegananer ja auch die Kartoffeln nicht richtig, also machte Bärbecker eine davon ab und befreite sie von der anhaftenden Erde. An einer Ecke der Zuschauerrunde kam Bewegung auf. Doch es war keine Freude, eher Besorgnis, die Bärbecker in den Gesten seiner Freunde sah.

Er musste wohl deutlicher werden: Er löste alle Kartoffeln von der Pflanze, sammelt sie in seinem Shirt, dass er vor den Bauch zum Beutel hochhielt, und ging damit zum Brunnen. Dort wusch er die Knollen, bis sie blank und appettitlich aussahen. Mit jeder Kartoffel, die er dieser Prozedur unterzog, stieg die Aufregung unter den Dorfbewohnern. Im Aufschauen glaubte Bärbecker sogar, wütende Gesichter zu erkennen, doch er ließ sich nicht beirren: Wenn er aus dieser Ernte erst einmal leckere Dämpfkartoffeln gezaubert hatte, würde er der Held des Dorfes sein. Ach was: Der Held des ganzen Planeten! Er würde…

Zu mehr kam Alfons Bärbecker nicht mehr: Ein Stein traf ihn am Kopf, Bärbecker verlor das Bewusstsein. Die Dorfbewohner schlugen – nur um sicherzugehen – noch einmal mit einem Holzscheit zu. Dann zerrten sie den Menschen vom Brunnen weg, vom Dorf weg, hin zu dem großen Kasten, mit der gekommen war, trugen ihn hinein. Dort ließen sie ihn einfach liegen, schlossen die Tür und verramelten sie mit einem Knüppel.

Dann gingen sie in ihr Dorf, sammelten alle Kochutensilien ein, die der Fremde benutzt hatte, und warfen sie in die Abfallgrube hinten am Waldrand. Als die grüne Sonne sich rot färbte, entzündeten sie ein Feuer, um das sie zu tanzen begannen. Sie sangen ein Vergebungsgebet an die Götter der Erde, sangen es wieder und wieder und hofften, die alles nährende Mutter würden ihnen irgendwann verzeihen, dass sie ihren Schoß entweiht und eine Frucht gegessen hatten, die die Erde noch nicht herzugeben bereit gewesen war.


Mal schnell – in knapp 90 Minuten – runtergeschrieben: Sozusagen als Beweis, dass die Schreibaufgabe lösbar ist… ;)


28.4.: Die überarbeitete Version steht hier im Thread.
 
Zuletzt bearbeitet:

Mazirian

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Schön gelöst

90 Minuten? Alle Achtung, dafür ist es wirklich klasse. Passt wunderbar zur Aufgabe. An der Form will ich angesichts der kurzen Zeit nicht rumkritteln (außer dass "erschaffbar" kein schönes Wort ist).

Aber woran merkt man denn, wann die Erde bereit ist, reifes Wurzelgemüse herzugeben. Ich meine, reife Karotten z.B. ploppen ja nicht einfach aus dem Boden, wenn's so weit ist. Man muss eigentlich immer ziehen oder graben... Oder kennen die Weganener gar kein Wurzelgemüse? Dann könnte es aber diesbezüglich auch keine religiösen Tabus geben *g*.

Was die Evolution zu der knappen Nahrungsenergie auf Weganen sagen würde, will ich mal dahingestellt sein lassen.

Sonst gibt's nix zu meckern - hat mir sehr viel Spaß gemacht.!

schönen Gruß

Achim
 

GabiSils

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Hallo Achim,

ist doch ganz einfach. Bei den Wegananern gibt es Pflanzen, die erst unterirdisch wachsen und sich dann ans Licht schieben. In den unterirdischen Früchten ist ein Gift, das erst durch Lichteinwirkung unschädlich wird. Da die Wegananer sich diesen Zusammenhang nicht erklären konnten, hat ein listiger Schamane die Gelegenheit ergriffen und die Macht der zürnenden Götter aufs Anschaulichste damit in Verbindung gebracht.
Nicht, jon?

Gruss, Gabi
 

jon

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So wird's gewesen sein, Gabi. Leider hat dieses Missverständnis die Kontakte zwischen Terra und Weganen abrupt beendet , so dass wir keine weiteren Nachforschungen anstellen können.

Irritierend ist an der Sache, dass keinem der hochqualifizierten Erstkontakter je aufgefallen ist, dass die Weganener nichts essen, das man aus dem Boden ausgraben müsste. Irgendjemand hatte sich mal darüber gewundert, dass die Weganener, die ihre Tiere sonst immer gut behüten, ihre Lila-Schweine ab und zu frei laufen lassen und es als unsittlich gilt, die Tier dann bei der Futtersuche zu beobachten. Vemutlich – so kann man mit dem jetzigen Wissensstand annehmen – graben die Tiere nach Futter und die Weganener wollen dabei nicht in der Nähe sein, um nicht den Zorn der Göttin auf sich zu ziehen. Lieber lässt man zu, dass sich die Göttin an den Schweinen "rächt", in dem sie eines oder mehrere einem Raubtier opfert.

Zu der Frage nach dem Wurzel-Gemüse: Es gibt Gemüse-Arten, die – so ähnlich wie unser Kohlrabi – aus dem Spross oberhalb der Erde die "Frucht" bilden, wobei die Verdickung unten anfängt und dann nach oben weiter wächst, was so aussieht, als schöbe die Alles Nährende Mutter die „Frucht“ von unten hoch. Es gibt auch eine Pflanze, bei der die Wurzelknolle kurz vor der Wachstumspause so viel Stärke und andere Nährstoffe angesammelt hat, dass sie die Oberfläche durchbricht – dort entspringt dann übrigens als erstes nach der Pause der Blütenspross. Diese Knolle wird dann auch gerntet – sie muss vor den Verzehr aber aufwendig entgiftet werden.

Was die Nahrungsgrundlage der Weganener angeht: Sie sind hervorragende Viehzüchter (und füttern die Tiere durchaus mit Getreide). Vermutlich – aber auch das können wir nicht mehr verifizieren – erlitten die Weganener eine dominant vererbte Mutation zu einem Zeitpunkt, als sie schon effektiv auf Nicht-Getreide-Ernährung zurückgreifen konnten, was das Leben der Betroffenen rettete. Welcher weitere Effekt der Mutation dafür sorgte, dass sie sich sogar stärker vermehren konnten als „Gesunde“ und so der ehemalige Defekt zum Merkmal der Spezies wurde, werden wir wohl auch nie erfahren…



PS: Doch, Achim, sag mal was zur Form!
Ich fass mich gern kurz – wer lacht da?! – und mit machbar zu sagen, dass man etwas machen (lesen, aufholen, schaffen…) kann, halte ich für einen akzeptablen Kompromiss zwischen Aussage und Klang.
 

Mazirian

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Vorsicht Mädels,

ich hab einen eigenen Garten! Aber ich will gar nicht darauf rumreiten, dass bei reifen Kartoffeln das Kraut einfach abreißt, wenn man dran zieht. Nehmen wir einfach an, die Kruste des Planeten Weganen besteht aus lockerem Torf (der Kern könnte dann aus hochverdichtetem Kompost bestehen, dessen Fermentationswärme die innere Hitze ersetzt, die bei der alten Erde durch radioaktiven Zerfall erzeugt wird).

Nehmen wir auch an, dass die weganenischen Knollen Kohlrabi oder Steckrüben ähneln - und sogar, dass sie im Gegensatz zu Kohlrabi genießbar bleiben, nachdem die Blüte und die Samenbildung abgeschlossen sind, und weiter, dass dann die Wurzeln absterben, die Pflanzen einfach umkippen, die Hänge hinabkollern, auf denen die Felder angelegt sind, und schließlich unten von den Eingeborenen aufgesammelt werden - stimmt, dann könnte es funktionieren.

Sorry Ulrike, aber du hast nicht "machbar" gesagt (hätte ich als Hobby-Anarchist gerade noch so akzeptiert), im Text steht "erschaffbar", eine deutlich erkennbare Improvisationskreation.
Hier eine Lösung für Leute die sich gern kurz fassen (nein ich lach nicht!):
...in den vielen Kartoffelsorten, die er mitgebracht hatte, schlummerte eine kulinarische Vielfalt... gut, gell?

Zur Form (Rechtschreibung, Stilfehler)will ich trotzdem nichts sagen, weil es m.E. lediglich Flüchtigkeitsfehler sind und ich genug von dir gelesen habe, um zu wissen, dass sie nur durch den Zeitdruck bedingt sind :)

Aber noch ein paar dramaturgische Merkwürdigkeiten sind mir aufgefallen:

wo ist auf einer Kugel der mittlere Kontinent? (Zwischen zwei andern Kontinenten... eh kloar, vergiss es)

warum ist es wichtig. dass die Kommunikation der Weganener so "unmerklich" ist. Du wendest einen ganzen langen Absatz dafür auf, aber weiter hinten wird es nicht mehr benutzt.

Wieso können die Weganener auf einmal tanzen, wenn sie seit hunderten von Generationen zu schwach dazu waren. Ich meine, woher kennen sie plötzlich die notwendigen Schritte und Rhythmen. Selbst auf den ersten Blick wild wirkende Eingeborenentänze gehorchen strengen rituellen Regeln.

Kann eine grüne Sonne einen roten Sonnenuntergang produzieren? - der Hinweis auf etwaiges atomares Brom oder polymeren Schwefel in der Ionosphäre fehlt hier.

Ist die Verehrung der Mutter Erde durch die Eingeborenen noch plausibel wenn sie zugleich ihre Abfälle in ihr versenken (Abfallgrube am Waldrand)

Ohje, jetzt hab ich eine wundervolle, rasante Geschichte mit einer geistvollen Pointe völlig zerbeckmessert ... das hat sie nicht verdient ... ich fühl mich schlecht...

trotzdem schönen Gruß

Achim
 

jon

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Teammitglied
Danke, Achim, die Anmerkungen sind sehr hilfreich. Tatsächlich muss sich m.E. die Präzision eines Textes umgekehrt proportional zu seiner Länge verhalten (wobei es nach unten hin natürlich einen Grenzwert geben muss, der deutlich über „Null Präzision“ liegt).


Da hab ich wohl was falsch im Gedächtnis gehabt: Wahrscheinlich hat mein Opa damals prüfen wollen, ob die Kartoffeln schon reif sind, … oder sowas ähnliches. Aber stimmt, jetzt wo du es sagst: Wenn es so einfach wäre (rausziehen, abpuhlen, fertig!), wozu hat mein Großvater dann mit der Grabgabel hantiert beim Kartoffelernten… (Ich hoffe meine Mutter liest das hier nicht, sie lädt mich dann bestimmt zur nächsten Kartoffelernte in ihren Garten ein – zwecks Rechereche.)

Das mit den Hinabkollern ist nicht nötig: Wenn die Knolle aus dem Boden rausguckt, ist Mutter Erde halt bereit, sie herzugeben, und dann darf man die Knolle auch rausnehmen. Der Boden an sich ist ja nicht tabu – sonst wäre Ackerbau nicht möglich. Der aber muss möglich sein, sonst wären die Weganener A) nicht sesshaft geworden (obwohl das für die Geschichte vielleicht nicht zwingend nötig ist) und B) sofort, als Bärbecker mit dem Anbau begann, auf den Barrikaden gewesen.

Die schlummernde Vielfalt ist wirklich gut, die werd ich beim Überarbeiten (demnächst, aus einem gewissen Abstand heraus) wohl nehmen. (Ich werde meine geliebten -bar-Konstruktionen vielleicht doch auf die „Tu's nur im Notfall!“-Liste setzen und lieber nach Lösungen suchen, die die deutsche Sprache schon hat.)

Die Kommunikation muss deshalb auf der Zeig- und Zeichen-Ebene bleiben, weil die Weranener sonst nicht nur signalisiert hätten, dass sie Kartoffeln haben wollen, es hätte sich bestimmt auch ein zumindest kurzes Gespräch über den Anbau der tollen Knolle ergeben.

Sowas wie rituelle Tänze gab es ja schon… Vielleicht sind sie auch gar nicht heftiger geworden, Alfons Bärbecker neigt ein wenig zur Übertreibung, wenn es um Geschmack und Wirkung seiner geliebten "Ärbern" (was für ein schönes sächsisches Wort!) geht (und aus „seiner“ Sicht ist ja der Text bis zur Ernteszene geschreiben).

Der Sonnenuntergang auf der Erde ist ebenfalls rot – auch ohne Brom und Schwefel. Die Luftschicht, die das Licht beim Untergang bis zum Auge des Betrachters zurücklegt, ist einfach dicker und da kommen nur noch die ernergieärmeren langen (roten) Wellen durch.

Das mit der Müllgrube ist ein berechtigter Einwand. Dieses Detail muss – da es sich unmittelbar auf die Pointe bezieht – unbedingt stimmen.
Wo könnte so ein Volk sonst seinen Abfall los werden? Ich hatte im ersten Moment an Verbrennen gedacht, aber die Methode dürfte bei Kochgeschirr kaum wirken. Ein Meer oder einen See in der Nähe zu postulieren, erschien mir so spät am Ende des Textes – weil es ein spürbar nur diesem Zweck dienendes neues Element wäre – als unharmonisch.
Vielleicht kann man die Grube beibehalten und eine "Zurück zum Urspung damit!"-Idee hinterlegen. Ich weiß nur nicht, wie man das ohne großes Brimborium vermitteln könnte…
 

Mazirian

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zur Abfallgrube hätt ich noch einen:
Naturvölker sind ja pragmatischer als man manchmal denkt. So opfern sie ihren Göttern oft das, was sie gerade am leichtesten entbehren (bzw. nicht gebrauchen) können. z.B. die Eingeweide des soeben erlegten Wildes.
Wenn du die Grube also "Opfergrube" nennst, passt wieder alles und die Weganener hätten sogar einen Beweis für die Wohlgefälligkeit ihres Tuns, wenn an den Rändern der Grube das Unkraut besonders fett sprießt :)
 

jon

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Teammitglied
Kartoffelernte

Die Aufgabe war simpel: Alfons Bärbecker hatte nichts weiter zu tun, als den Weganenern zu zeigen, wie man Kartoffeln anbaute. Das Klima auf dem mittleren Kontinent war hervorragend dafür geeignet. Es war gleichmäßig warm, weder zu nass noch zu trocken und der Boden war ausgesprochen fruchtbar. Und Bärbecker war der beste Mann für den Job, denn er war vernarrt in Kartoffeln. Er kannte alle Sorten: welche Tricks beim Anbau halfen, wann der beste Moment für die Ernte war und natürlich, wie man die Erdäpfel zubereitete. In den besten Restaurants hatte er sein Können unter Beweis gestellt und nun würde er diese Segnung der menschlichen Zivilisation nach Weganen bringen.

Wie gesagt: Bärbecker war Kartoffelspezialist und so fiel es ihm nicht schwer, schon nach einem Tag die passenden Saatkartoffeln auszuwählen. Er entschied sich für die Sorte „Himmelsrot“. Er hatte sie selbst gezüchtet und auf vielen Kolonieplaneten Terras heimisch machen können. Selbst unter widrigen Bedingungen erbrachte „Himmelsrot“ noch akzeptable Ernten, vor allem hatte ihr aromatisch mehliger Geschmack sich als kaum von den Wachstumsbedingungen beinflussbar erwiesen.

Vor fünf Monaten also hatte Bärbecker auf einem kleinen Stück Acker, den die Dorfbewohner ihm überlassen hatten, die kleinen rötlichen Knollen in den Boden gelegt. Er hatte Unkraut gezupft und als die Pflanzen zu sprießen begannen, nach und nach die Dämme angehäufelt. Die Feldarbeit beschäftigte ihn täglich zwei bis drei Stunden. Dann widmete er sich der kulinarischen Seite seiner Mission und führte den Weganenern vor, wie sie auf ihren Herden die Vielfalt der Erdäpfel nutzen konnten. Mit Freude hatte er feststellen können, dass die um die zwei Meter großen, hageren Geschöpfe mit der bleichen Haut und dem flaumdünnen Haar wirkliche Genießer waren: Was immer er aus den Kartoffeln aus seinem Vorrat zauberte – die dürren Riesen verputzten es. Sie waren so versessen auf Kartoffelspeisen, dass sie Bärbecker jeden Morgen von seiner Unterkunft am Schiff abholten und ihm die schweren Kartoffelstiegen ins Dorf trugen. Sechszehn, manchmal auch zwanzig Kilo Kartoffeln pro Mahlzeit verdrückte die knapp fünfzigköpfige Dorfgemeinschaft – als Beilage zu Fleisch, Fisch und Gemüse. Und was immer Bärbecker zubereitete, aßen die Weganener mit einem Ausdruck von Entzücken auf ihren bleichen Gesichtern restlos auf.

Das Einzige, woran sich Bärbecker nur mühsam gewöhnen konnte, war die Stille an der Tafel. Kein Ah! oder Oh! kam über die Lippen der Weganener, zumindest keines, das der Mensch hätte hören können. Natürlich gab es Übersetzungsgeräte, die die Ultraschalltöne der weganenischen Sprache erfassen, analysieren und ins Englische übersetzen konnten. Sie machten es allerdings derart unzuverlässig, dass sie mehr Missverständnisse produzierten als vermieden. Ohnehin verfügten die Weganener über eine so sensible Wahrnehmungsfähigkeit, dass sie aus winzigen Gesten, der Mimik und dem Wenigen, was sie von der menschlichen Sprache hörten, die offenbar immer richtigen Schlüsse zogen. Und irgendwie hatten sie auch geschafft, den ersten Menschen auf ihrem Planeten eines deutlich zu machen: Wir wollen Kartoffeln!

Alfons Bärbecker verstand dieses Ansinnen. In den vielen Kartoffelsorten, die er mitgebracht hatte, schlummerte eine kulinarische Vielfalt, die jeden entzücken musste. Außerdem vertrugen die Weganener kein Getreide. Ihre bisher einzige halbwegs ergiebige Stärke-Quelle war eine wild wachsende Wurzel. Kurz bevor sie einen Blütenspross trieb, schob sie die Austriebsstelle aus dem Boden hervor. In diesem Zustand wurde die Wurzel geerntet. Vorher, so wusste Bärbecker, war die Pflanze hochgiftig. Doch auch in reifem Zustand bot sie keinen Genuss. Bärbecker schüttelte sich beim bloßen Gedanken an den grauen Brei. Klar, dass die wohlschmeckenden Kartoffeln den Weganenern gerade recht kamen. Ja, es sah fast so aus, als hätten die dürren Riesen während Bärbeckers Pommes-Marathon schon ein paar Gramm zugelegt. Auf jeden Fall kamen sie ihm lebendiger vor als bei seiner Ankunft. Damals entsprachen seine Weganener, wie Bärbecker die Dorfbewohner gern nannte, ganz dem Bild des typischen Weganen-Eingeborenen: phlegmatisch und auf äußerste Energierationierung bedacht. Inzwischen verging kaum ein Abend, an dem sich die Gemeinschaft nicht auf dem Dorfplatz versammelte und in wahre Tanzorgien verfiel. Oft dauerte die bis spät in die Nacht, Bärbecker hatte längst aufgegeben, da mithalten zu wollen.

So verging die Zeit. Die Kartoffelpflanzen gediehen prächtig. Das üppige Grün ließ das Futtergetreide auf dem Nachbarfeld spärlich aussehen. Einmal hatte Bärbecker eines der weganenischen Lila-Schweine verscheuchen müssen. Er hatte versucht, den Weganenern klar zu machen, dass sie auf die Tiere aufpassen müssten, wenn sie sie aus dem Stall ließen, war damit jedoch auf Unverständnis gestoßen. Selbst das Argument, dass dann nicht mehr so oft eines der Schweine spurlos verschwinden würde, beeindruckte die Dorfbewohner nicht. Vielleicht begriffen sie nicht, was Bärbecker meinte, mit Händen und Füßen ließ es sich auch schlecht erklären. Als Bärbecker das Übersetzungsgerät zur Hilfe nahm, behauptete dies, die Weganener gäben zur Antwort, dass es unschicklich sei, einem Schwein beim Fressen zuzusehen. Was natürlich Unsinn war, denn die Dorfbewohner beobachtenen ihre Tiere gerade beim Fressen im Stall sehr genau, um Veränderungen sofort zu bemerken. Nachdem dieser Kommunikationsversuch also gescheitert war, baute Bärbecker einen Zaun um seinen Kartoffelacker. Die Weganener halfen ihm dabei.

Und dann endlich kam der große Tag! Gerade zur rechten Zeit – die Kartoffelvorräte an Bord des Frachters schrumpften merklich – würde Bärbecker die ersten weganenischen Knollen ernten. Mit großen Gesten lud er seine Weganener an den kleinen Acker ein. Das Laub der Pflanzen war welk zusammengesunken, die Knollen jedoch – Bärbecker hatte am Abend vorher heimlich eine Probe gemacht – waren groß, rund und prall.

Als sich alle achtundvierzig Dorfbewohner in einem dreireihigen Halbkreis um Bärbecker aufgebaut hatten, schritt dieser zur Tat: Er griff zur Grabegabel, stieß sie in die Erde und hebelte die nächstbeste Pflanze hoch. Er zog das Kraut aus dem Boden, überzeugte sich, dass keine Knolle an den Wurzeln hing und tauchte seine Hände tief in die duftenden Erde. Er fühlte das Rund von ein paar großen Kartoffeln, griff danach und holte die Erdfrüchte andächtig an Licht. Bärbecker wandte sich um, damit die Dorfbewohner die historischen ersten Weganenischen Kartoffeln sehen konnten. Sie würden – dessen war sich er sicher – die Bedeutung dieses Momentes rasch erfassen. Sie würden ihn mit Hochachtung im Blick, ja Ehrfurcht ansehen. Im diesem Vorgefühl hob er triumphierend die Kartoffeln und…

…erstarrte. Die Weganener sahen ihn an und sahen auf die erdigen Hände hoch über seinem Kopf an. Sie sahen auf die aufgewühlte Erde und dann in Bärbeckers Gesicht. Einem der Weganener war das übliche Lächeln im Gesicht eingefroren, die anderen waren das vielfach personifizierte Nichtverstehen.

Der Moment zog sich in die Länge, wurde unerträglich. In der hinteren Reihe bewegte sich jemand. Er schien etwas zu sagen, denn einzelne Blicke wandten sich ihm zu. Doch statt Freude zeichnete sich Besorgnis in den Gesichtern ab. Vielleicht hielten sie ihren terranischen Freund ja für übergeschnappt.

Er musste wohl deutlicher werden. Bärbecker klaubte alle Kartoffeln, derer er im aufgeworfenen Boden habhaft werden konnte, zusammen, legte sie demonstrativ in die mitgebrachte Stiege und ging damit zum Brunnen. Dort wusch er die Knollen lange und sorgfältig. Mit jeder Kartoffel, die er dieser Prozedur unterzog, stieg die Aufregung unter den Dorfbewohnern, doch Bärbecker ließ sich nicht beirren: Wenn er aus dieser Ernte erst einmal leckere Dämpfkartoffeln gezaubert hatte, würde er der Held des Dorfes sein. Ach was: Der Held des ganzen Planeten! Er würde…

Zu mehr kam Alfons Bärbecker nicht mehr: Ein Stein traf ihn am Kopf, Bärbecker verlor das Bewusstsein. Die Dorfbewohner schlugen noch einmal mit einem Holzscheit zu. Dann zerrten sie den Menschen vom Brunnen weg, vom Dorf weg, hin zu dem großen Kasten, mit er gekommen war. Sie trugen ihn hinein, schlossen die Tür und verrammelten sie mit einem Knüppel.

Dann gingen sie in ihr Dorf. Sie sammelten alle Kochutensilien ein, die der Fremde benutzt hatte, und warfen sie in die Opfergrube am Waldrand – jedes Stück einzeln und jedes von einem gemurmelten Nimm-An-Gebet begleitet. Sie rissen den Zaum um den Kartoffelacker nieder, trieben ihre Schweine auf das Feld und eilten sich, fortzukommen. Als die grüne Sonne sich sinkend rot färbte, entzündeten sie ein Feuer, um das sie zu tanzen begannen. Sie sangen ein Vergebungsgebet an die Göttin der Erde, sangen es wieder und wieder und hofften, die Alles Nährende Mutter würden ihnen irgendwann verzeihen, dass sie ihren Schoß entweiht und eine Frucht gegessen hatten, die die Erde noch nicht herzugeben bereit gewesen war.
 



 
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