Kastanienbraun - 1. Teil

Markus Veith

Mitglied
Kastanienbraun

Die träge Sonne des frühen Nachmittags schien viel zu müde zu sein, um sich durch die graue Barriere aus wassergetränkten Bäuchen zu drängeln. Von Zeit zu Zeit streute sie zwar eine hoffnungsvolle Brise Strahlen durch einen Zwischenraum, doch sah sie bald ein, wie erfolglos ihre Mühe war und ließ sich für einige Stunden unscheinbar sein.
Die Straßen und Gassen des Küstendörfchens waren leer. Der Regen nieselte heimlich und leise auf die Pflastersteine, und der Westwind leckte die salzig schäumenden Wellen über den langen Kieselstrand.
In dem Kaffee- und Teehaus an der Promenade war nicht besonders viel Betrieb, da die Bewohner des Dörfchens lieber in ihren warmen Stuben blieben und von Tourismus zu dieser ungemütlichen Jahreszeit keine Rede sein konnte. Nur etwa eine Handvoll Leute saß an den Tischen verteilt. Sie nippten genüßlich an den dampfenden Tassen, lasen Zeitung oder gingen anderen kleinen Beschäftigungen nach.
Und so schauten sich alle Anwesenden fast erstaunt um, als draußen ein dorffremdes Auto hielt und dessen Fahrer wenige Augenblicke später das kleine Wirthaus betrat. Sein schuldbewußtes, verkrampftes Nicken bemühte sich um eine stumme Begrüßung und um eine Verzeihung dafür, etwas von dem feuchten Wind und dem Nieselregen hereingebracht zu haben. Sein dunkler Lodenmantel war wie mit Wasserperlen bestickt, seine dunkelblonden Haare klamm. Unsicher blieb er bei der Tür stehen und schaute sich um, ließ seinen schüchternen Blick durch den Raum gleiten. Über die Tischnischen, die naiven Bilder an der Wand, den alten, vertäfelten Tresen, die zigaretterauchende Bedienung, die zur Farbe der Einrichtung passenden Gardinen vor den Fenstern, die anderen paar Besucher, die inzwischen ihr Interesse an dem fremden Neuankömmling verloren und sich wieder unter den gemütlich qualmenden Lichtkegeln ihrer Tische vergraben hatten.
Der suchende Blick des Fremden blieb an einem noch sehr jungen Mann haften, der an einem Tisch bei der hintersten Wand saß, den Kopf auf eine Hand gestützt hatte und auf braunem Papier irgendetwas mit Kohlestift skizzierte. Der Mann im Lodenmantel musterte ihn fast starrend, als hätte er in ihm jemanden erkannt, sei sich dem aber nicht ganz sicher. Als der junge Zeichner dies bemerkte, sah er auf und blickte dem Fremden fragend in das verwirrte Gesicht. Da schien der Herr sich einen Ruck zu geben und ging zögernd auf den Tisch des jungen Mannes zu.
"Verzeihen Sie", sprach er ihn an. "Wenn ich störe, dann sagen Sie's mir einfach und ich bin sofort wieder weg. Aber wissen Sie, ich bin fremd hier und suche jemanden und hoffte, Sie könnten mir vielleicht helfen, da Sie so ..." Er hielt irritiert inne. "Na ja, ... ich dachte halt, Sie könnten mir eventuell ... helfen."
Der junge Mann am Tisch lächelte ihn freundlich an.
"Ich mache ihnen einen Vorschlag", sagte er. "Sie legen Ihren Mantel ab, setzen sich zu mir hin und bestellen sich erst einmal einen heißen Tee. Während Sie den trinken, erzählen Sie mir, wen Sie genau suchen und dann werden Sie schon herausfinden, ob ich den- oder diejenige kenne oder nicht. Wie wäre es damit?"
Der Herr lächelte befreit und ging der Aufforderung nach. Und nachdem er auf dem Stuhl gegenüber Platz genommen und die Bedienung die kleine Kanne mit dem Tee gebracht hatte, begann er erneut. "Ich suche eine Frau."
"Sie suchen eine bestimmte Frau, nehme ich an", warf der Junge nach der kurzen Pause grinsend ein und schob seine Zeichnungen und die Stifte beiseite. "Denn wenn nicht, dann würde ich an Ihrer Stelle in so einem kleinen, keuschen Nest wie diesem hier mit solchen Gelüsten besser hinter'm Berg halten."
"Nein, nein ...", sagte der andere rasch. "Ich meine schon eine bestimmte Frau."
"Sie müssen mir schon ihren Namen sagen oder zumindest, wie sie aussieht", riet der junge Mann, als der andere zögerte weiterzureden. "Hier kennt eigentlich jeder jeden in der Umgebung."
"O ja", leuchteten da die Augen des fremden Herrn auf. "Sie ist schlank. Aber sehr wohlgeformt schlank. Und sie hat lange, braune Haare. Kastanienbraun. Das schönste Kastanienbraun, das Sie sich vorstellen können. Und dazu blaue Augen. Können Sie sich das vorstellen? Kastanienbraune Haare und meerblaue Augen? Augen, so tief wie zwei Bergseen." Die Worte perlten nur so von seinen Lippen, während er verträumt das Tee-Ei austropfen ließ.
"Doch, das kann ich mir vorstellen", murmelte der Junge leise und sehr ernst.
"Kennen Sie sie? Sagen Sie schon. Kennen Sie sie?" Der Mann zitterte plötzlich vor Aufregung. Das Tee-Ei fiel klirrend in seine noch leere Tasse. "Lebt sie hier? Bitte, Sie müssen es mir sagen", bat er aufgebracht und umklammerte fast flehend die Hände des Zeichners.
"Das habe ich nicht gesagt", antwortete dieser ruhig. "Es tut mir leid, mein Herr. Ich fürchte jedoch, ich kann Ihnen nicht helfen."
Mit einem Seufzer sackte der Mann auf seinem Stuhl etwas in sich zusammen. Er hob matt die Schultern, und seine Stimme klang arg resigniert. "Nun ja ... war ein Versuch. Als ich eben hier hereinkam und sie hier so sitzen sah, dachte ich für einen Augenblick, daß ..." Er schluckte. "Hm. War nur so ein Gedanke. Vergessen Sie's."
Der junge Mann nickte und ging nicht weiter darauf ein. "Sie müssen sie ja sehr geliebt haben", sagte er dann.
"Ich liebe sie immer noch. Und ich glaube sogar, mehr als mein Leben. Wenn ihr etwas zugestoßen sein sollte ..." Er versuchte, diesen Gedanken abzuschütteln. "Ich könnte für nichts mehr garantieren. - Und sie wissen auch ganz genau, daß so ein Mädchen nicht hier irgendwo in dieser Gegend lebt?" fragte er noch einmal nach.
Der junge Mann hob nur leicht die Schultern. "Sagen Sie mir doch ihren Namen, vielleicht kommt der mir ja bekannt vor."
Ein nervöses Zucken glitt nun über das vom scharfen Wind noch gerötete Gesicht des Herrn. "Ihren Namen ...", begann er zögernd. "Ich ... kenne ihren Namen nicht."
Im Gesicht des Zeichners war keinerlei Verwunderung zu erkennen. "Sie lieben eine Frau über alles und kennen nicht einmal ihren Namen. Hm. - Klingt kompliziert."
"Oh nein," wiedersprach der Mann. "Im Gegenteil. Es war alles so herrlich einfach."
Sein Gegenüber legte den Kopf schief. "Wollen Sie es mir erzählen?"
Der Fremde schaute ernst zum Fenster hinaus, in den nieselnden Nachmittag.
"Ich weiß nicht. - Ich habe es noch nie jemandem erzählt." In seinem Gesicht arbeiteten viele bewegte, zweifelnde Gedanken. "Doch warum nicht?" murmelte er dann. "Sie können ja sowieso nichts weiter mit der Geschichte anfangen, als sie als einen interessanten Nachmittagsplausch zu nehmen. Nichts für ungut." Er nahm einen Schluck aus seiner Tasse.
"Es ist nun zweieinhalb Jahre her, da fuhr ich mit dem Auto nach Hause. Es war ein Sonntag. Ich war übers Wochenende bei einem Freund gewesen und da ich Zeit hatte, fuhr ich diesmal nicht über die Autobahn, sondern über die Landstraßen nach Hause. Natürlich dauerte das länger, aber ich hatte ja Zeit, wie gesagt, und es war ein herrliches Frühlingswetter. Jedoch änderte sich das bald. Es ist schon erstaunlich, wie schnell so ein Gewitter aufziehen kann, nicht wahr? Innerhalb einer halben Stunde ballte sich scheinbar der ganze Himmel über mir zusammen und bald schüttete es in Strömen." Er schmunzelte leise. "Wissen Sie, ich hatte damals ein altes Cabriolet, bei dem das Verdeck klemmte. Das kann in einem solchen Moment zu einer üblen, eigenwilligen Technik werden ... o ja ..."
Sein Zuhörer grinste breit. "Und was haben Sie gemacht?"
"Nun, ich wollte mich natürlich unterstellen", antwortete der Erzähler. "Doch wo? Ich war ja mitten in der Knüste, wie man so schön sagt. Zudem kam noch, daß ich mich verfuhr und mich der Irrweg in ein Wäldchen führte, in dem die vorherige Staße bald zu einem selten befahrenen Pfad mutierte.
Es war der reine Horror, wie Sie sich vorstellen können. Mit einem unbedeckten Cabrio im strömenden Regen in einem Wald am Ende der Welt. Schrecklich. Doch es sollte noch schlimmer werden. Der Wagen sackte mit einem Hinterrad in eine Kuhle ab und drehte sich hoffnungslos in dem weichen Waldboden fest. Das war's dann. Endstelle. Himmel, was war ich wütend.
Aber da - wirklich, es war wie im Märchen - entdeckte ich durch die regenumströmten Bäume hindurch ein Licht und schloß auf ein Haus oder eine Hütte oder ähnliches und da der Regen nicht nachlassen wollte, ich eh klitschnaß war und sich das Wasser bereits in meinem Auto sammelte, kämpfte ich mich halt auf dieses Licht zu.
Ich war sehr erstaunt. Als ich es erreichte, entpuppte sich das Hüttenlicht als ein kleiner Bungalow. Wäre er nicht beleuchtet gewesen, hätte ich ihn niemals gesehen. Er lag an einem wunderschönen See. Aber zu diesem pudelnassen Zeitpunkt war mir das eigentlich egal. Ich stapfte also zum Haus, klopfte und bat, doch aufzumachen und mich hereinzulassen.
Und da machte sie auf und stand in der Tür ... kastanienbraune Haare ..." Er hielt inne und es dauerte eine ganze Weile, bis er weitersprach.
"Kennen Sie diese Augenblicke, die nur Sekunden andauern, die man jedoch nie vergißt. Bei denen man aber dafür vergißt, was kurz darauf geschah? - Das war so ein Augenblick. Ich hätte mir niemals erträumt, hier, an diesem gottverlassenen Ort mitten im Wald, so einen Menschen ... so ein wunderschönes Mädchen zu treffen. Es war wohl wirklich ein Märchen, glaube ich."
Sein in die Hand gestützter Blick sank tief in die Teetasse vor ihm. Erst nach einer ganzen Weile tauchte er lächelnd aus der Tiefe wieder auf und fand nickendes Verständnis in den Augen des Zuhörers.
"Dann bat sie mich herein und gab mir eine Decke, so daß ich meine Kleidung trocknen konnte. Es gab einen großer Kamin, in dem ein Feuer brannte und jede Menge dicke Felle als Teppiche und Wandbehänge. Die Möbel waren alle aus Holz. Das Bett, der Tisch, die Stühle, der Schrank. Sie kochte uns Kaffee und wir redeten. Na ja, über dies und jenes halt. Worüber man eben spricht, wenn man sich gerade erst kennengelernt hat.
Wissen Sie, normalerweise war ich sonst immer wahnsinnig schüchtern in solchen Situationen und eigentlich hätte ich es in dieser erst recht sein sollen, denn schließlich saß ich ja halbwegs nackt, nur in eine Decke gewickelt, mit ihr am Tisch ... Aber ... das war nicht so wie sonst ... Sie sprach so offen mit mir, so frei, so ... anders, so ... schön, verstehen Sie? Und ich saß da und hörte ihr zu und wenn ich erzählte, dann plapperte ich wie ein kleiner Junge. So müssen Stunden vergangen sein. Jedenfalls wurde es Nacht und keiner von uns beiden hatte es bemerkt.
Wir wurden auch gar nicht müde. Ich erzählte ihr von mir, von meinem Leben als freier, jedoch recht erfolgloser Schriftsteller, woher ich komme, und sie erzählte, sie käme aus einem kleinen Dorf und sei dort, in dieser Hütte am See, nur ab und zu.
Irgendwann, schon spät, fiel mir plötzlich auf, daß wir unsere Namen noch gar nicht kannten, und ich fragte sie daraufhin, wie sie denn überhaupt hieße. Da wurde sie mit einem Male sehr ernst und mein erster Gedanke war, daß dieser Ausdruck gar nicht zu ihr paßte. Sie schaute vor sich nieder, sah dann wieder auf und blickte mir direkt in die Augen.
Ich weiß genau, mir hatte bis zu diesem Tag nie ein Mädchen so in die Augen gesehen. Sie hat blaue Augen - meerblau sind sie. Und es wollte mir schwindelig werden. Die ganze Welt über meinem Verstand zusammenschwappen ...
Doch dieser Ausdruck in ihren Augen ... der war so ... ernst. Und sie sagte: 'Nein. Ich möchte dir meinen Namen nicht sagen.'
Ich fragte sie, aus welchem Grunde sie dies denn nicht wolle und wollte ihr eben meinen Namen nennen, da legte sie mir ganz sacht ihren Finger auf die Lippen. 'Nicht. Bitte ...', hat sie lächelnd gesagt und den Kopf geschüttelt. - Versuchen sie dann, solchen Augen zu widersprechen.
Ich glaube, ich habe nur noch stumm genickt und nichts mehr dazu gesagt.
Wir redeten in dieser Nacht noch sehr lange und sehr viel. Am nächsten Morgen hatte es aufgehört zu regnen und ich hätte eigentlich in die Stadt zurück gemußt, da ich an jenem Tag Termine hatte. Aber als sie mich bat, doch noch zu bleiben, waren die mir völlig egal. Ich ließ sie einfach sausen und blieb noch volle zwei Tage bei dem Mädchen an dem See.
Das schönste Fleckchen Erde, das ich jemals kennengelernt habe. Mitten im Wald. Die lautesten Geräusche dort machen die Vögel und der Wind. Rings herum dichtbelaubter Buchenwald, aus dessen Boden hier und da moosüberzogene Findlinge herauslugen.
Der See ist nicht groß. Ist mehr ein Teich. Mit einem Bach als Zulauf auf der einen und einen weiteren als Ablauf auf der anderen Seite. Das Wasser ist so sagenhaft klar. Man kann es so abschöpfen und trinken.
Etwas abseits vom Haus ist ein kleiner, eingezäunter Garten, in dem sie allerlei Gemüse, Kohl, Kräuter und sogar Blumen angepflanzt hat. Und neben dem kleinen Holzbungalow steht eine große Buche. Ein riesiger, ein mächtiger Baum, größer und älter als irgendein anderer Baum um den See herum. Majestätisch. Ein herrlicher Ort.
Wir machten dort lange Spaziergänge in den Wald. Mittendurch. Da waren keine Wege. Doch sie kannte sich genau aus. Und die Tiere ... Sie störten sich gar nicht an uns. Da waren Rehe und Hirsche, die uns sahen, aber nicht davonliefen. Sie schienen nur zu zögern, noch näher zu kommen. Und sie ging ganz ruhig voraus, zu den Tieren hin. Die ließen sich von ihr streicheln und beruhigen. Doch sie sprach kein Wort mit ihnen. Sie lächelte sie einfach nur an." Für einen kurzen Moment hielt er erinnernd inne. "Haben Sie schon einmal einen wilden Fuchs aus ihrer Hand fressen lassen?"
Der Gefragte schüttelte etwas ungläubig den Kopf.
"Nun, glauben Sie mir einfach oder lassen Sie es sein", sagte der Mann und ließ ein Lächeln über sein nun sehr jugendlich wirkendes Gesicht huschen. "Es ist ein ganz eigenes, ... ein ... besonderes Gefühl von Stolz. Ich wußte auch zunächst nicht, ob ich meinen Augen wirklich trauen sollte. Und auch nicht, ob und wie ich meinem Herzen trauen sollte ...
Ich war schon einige Male verliebt gewesen, wissen Sie, und ich bin dabei auch von einigem wilden Herzklopfen begleitet worden.
Aber dieses Mal ... auch wenn ich dieses Mädchen erst zwei Tage kannte ... wenn ich sie ansah ... das war kein Klopfen mehr, verstehen Sie ... das war ein ... Flattern ... ein Fortfliegenwollen. Und ich meinte, das auch bei ihr erkennen zu können."
"Und?" fragte sein Zuhörer, der bisher aufmerksam den Worten gelauscht hatte. "War dem denn so?"
Doch der Fremde ging scheinbar nicht darauf ein.
"Am Abend des zweiten Tages saßen wir zusammen in dem dicken Moosteppich, der sich vor dem Haus bis zum Seeufer hinzieht und warteten auf den Sonnenuntergang. Am nächsten Morgen mußte ich nach Hause, bevor man mich noch vermißt melden würde. Es war für uns jedoch völlig selbstverständlich, daß ich wiederkommen würde und trotzdem war die Stimmung an jenem Abend seltsam sentimental.
Ich weiß noch, wie verträumt sie in die Krone dieses mächtigen, alten Buchenbaumes hinaufschaute.
'Ist er nicht wunderschön?' hat sie geflüstert. 'Höre doch mal genau hin. - Hörst du das auch? Glaubst du nicht auch, zu hören, wie er uns ruft: Kommt! So kommt doch! Klettert in mir. Klettert in mir empor. Und dann holt euch ein Stückchen Wolke, einen Funken Sonnenuntergang. Doch bringt mir etwas davon mit und hängt es mir zwischen die Blätter. Kommt doch. So kommt. - Hörst du's?'
Darauf sprang sie lachend auf und lief zu der großen Buche hin, hangelte sich auf den untersten Ast des Baumes und kletterte empor. Ich folgte ihr natürlich. Es war gar nicht so einfach, mit ihren flinken Bewegungen mitzuhalten, doch ich fühlte mich plötzlich wie ein kleiner Junge und es machte mir wahnsinnigen Spaß, immer höher und höher zu steigen, immer weiter hoch mit ihr, bis hinauf in die oberste Krone, wo die Äste uns gerade noch trugen. Dort setzten wir uns so bequem wie möglich in das Astwerk und beobachteten, wie die untergehende Sonne die entfernten Waldkronen abendrot entzündete.
Wir saßen sehr lange dort und blickten auf den See. Völlig ruhig und glatt war er, und still. Wie ein Spiegel. Irgendwann fragte ich dann noch einmal, möglichst leise und vorsichtig, welchen Grund es denn gäbe, warum sie mir ihren Namen nicht nennen und den meinen auch nicht wissen wolle.
'Keinen Grund', sagte sie da kopfschüttelnd. 'Ich möchte nur dich und nicht deinen Namen. Wer keinen Namen hat, der ist auch unschuldig und wer unschuldig ist, den kann man auch nicht hassen. Und wen man nicht hassen kann, dem weint man auch nicht nach.'
Daraufhin sah sie mich wieder so an ... ein Blick, für den ich alles getan hätte ... und sie flüsterte: 'Es gibt da keinen Grund, glaube mir. Es fängt doch alles so hoffnungsvoll an, oder nicht? Finde mir doch einen Namen ... aber suche bitte nicht nach ihm.'
Und dann nahm sie meine Hand und legte sie sich ans warme, weiche Herz. 'Ich spüre hier etwas', sagte sie leise. 'Ich weiß, daß es dafür einen Namen gibt, aber ich weiß auch, daß dieser eine Name nicht alles umfassen kann, was ich hier in diesem Moment fühle. Dieses Gefühl in fünf einfache Buchstaben zu hüllen, hieße, es einzusperren. Meinst du nicht auch? ... Hm?'
Ja-a, und dann küßten wir uns."
Der Mann schwieg. Er saß da und sah etwas an, das irgendwo jenseits des Raumes und wohl schon sehr lange zurücklag. Schließlich lächelte er und sah zu seinem Gegenüber auf.
"Das müssen Sie sich mal vorstellen. Wir saßen wie Kinder in der Krone einer Buche und küßten uns, während vor uns langsam die Sonne hinter den Baumwipfeln verschwand.
Ist das nicht wahnsinnig kitschig, hm? Aber glauben Sie mir: Wenn Sie dort gewesen wären, an meiner Stelle, es wäre das Größte für Sie gewesen." Er nahm einen Schluck von seinem Tee, der inzwischen schon kalt sein mußte. "Irgendwann kletterten wir den Baum wieder hinunter. Unten nahm sie mich ganz, ganz fest in den Arm und sagte zärtlich einen Namen in mein Ohr: 'Noah.'
Ich glaubte zunächst, nicht recht verstanden zu haben. 'Noah', sagte sie. 'Du heißt heute für mich Noah. Der floh auch vor einem Unwetter.'
'Ja-a', sagte ich. 'Und er fand auch das gelobte Land.' Da lachte sie und ich schaute sie an und nannte sie dann - Suzanne.
'Suzanne ...' wiederholte sie, als wolle sie den Namen anprobieren und legte dabei ihren Kopf schief. Ich nickte und sagte: 'Ein Name wie ein Lied.' Und ich nahm mein Taschenmesser und schnitzte den Namen in den Stamm der Buche. Ganz groß.
SUZANNE - Und sie schnitzte ein großes & NOAH in die Rinde.
Dann fuhr sie mit den Fingerspitzen über ihren neuen Namen. 'Suzanne', murmelte sie. 'Der Name gefällt mir sehr.' Und ich fragte, ob das denn vielleicht ihr richtiger Name sei.
'Nein', lachte sie da. 'Nein. Dann würde er mir doch nicht so gut gefallen. Aber für heute ... für diese Nacht ... für diese Nacht heiße ich so - Suzanne ...'
Oh, mein Herr, ich schwöre Ihnen: In jener Nacht habe und wurde ich so geliebt wie noch nie in meinem Leben zuvor. Der ganze Wald hätte abbrennen können."
Sie lachten beide in sich hinein und rührten beide ein klein wenig verlegen in ihren Teetassen. Das leise Klingeln der Löffel vertonte die entstandene Stille und erleichterte ihnen ihre Gedanken.
"Die darauf folgenden zweieinhalb Jahre waren die wohl schönste und freieste, aber auch die seltsamste und geheimnisvollste Zeit meines Lebens. Ich schrieb vier erfolgreiche Bücher und jede Menge Geschichten, die ebenfalls Anklang fanden. Alle wurden unter dem Name Noah verlegt und sie verkaufen sich prächtig. Man hat mal über sie gesagt, daß diejenigen, die sie lesen, sich unweigerlich irgendwann fragen würden: Wo nimmt dieser Mann solche Gedanken her?
Dieses Mädchen ist meine Muse. Mit jedem Kuß von ihr ist stets eine Bombe, randvoll mit Ideen, in meinem Kopf zerplatzt.
Na ja, dadurch verdiene ich nicht schlecht und ich bin nur noch in der Stadt, wenn dies wirklich nötig ist. Manchmal kam sie dann auch mit. Doch sie fühlte sich dort nie so recht wohl. Es war ihr zu laut, zu schnell, zu unruhig und irgendwie auch ... Wie sagte sie noch? ... zu tot. Die meiste Zeit waren wir daher bei unserer kleinen Hütte am See. Zweieinhalb Jahre lang. Und an jedem Tag gaben wir uns einen neuen, einen anderen Namen."
"Jeden Tag?" fragte der junge Zeichner dazwischen. "Sie haben sich jeden Tag einen neuen Namen gegeben?"
Der Mann nickte und zuckte die Achseln. "Nicht genau an jedem Tag. Wie gesagt, ich war ab und zu mal ein paar Tage fort und manchmal gaben wir uns an einem Tag auch mehrere Namen, wenn die Situationen es erforderten und oft blieben wir auch bei unseren allerersten Namen. Aber alle diese Namen schnitzten wir in die Rinde der alten Buche."
"Alle Namen?" flüsterte der junge Mann ungläubig, und wieder nickte der andere.
"Überall im ganzen Baum verteilt. Auf jedem Ast, auf jedem Zweig. Doch unten am Stamm kamen keine mehr hin. Da stehen nur zwei Namen. Unsere allerersten, gemeinsamen Namen."
"Und wieviele folgten?" wollte der Zeichner wissen.
"Oh, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe sie nie gezählt und das werde ich wohl auch nicht. Sind schon einige. Und die wenigsten sind gängige Namen. Aber ich kann mich an alle erinnern.
Ich weiß noch, daß sie mich an dem Tag, an dem ich mich zum ersten Mal in das kalte Wasser des Sees traute, Schmelzwasser nannte und sie hieß an jenem Tage einfach nur Fisch. Sie sah aus wie eine Nixe, wie sie so auf den See hinausschwamm. Im Sommer bedecken dort herrliche Seerosen die halbe Wasseroberfläche. Sie steckte sich dann immer eine davon ins Haar ... Eine Nixe mit langen, kastanienbraunen Haare in denen eine Seerose steckte ...
Und an dem Tag, an dem wir uns einen Drachen bauten und ihn auf einer entfernteren Lichtung steigen ließen, da hieß sie Windbraut. Und mich nannte sie Sturmschimmel.
Als wir die Sonnenfinsternis beobachteten, da war sie Firmamentia und ich war Saturnaris.
Einmal - das war im Sommer - da haben wir gemeinsam Bilder gemalt. In Öl auf Leinwand. Wir haben uns nackt vor die Staffelei gestellt und einfach angefangen. Immer abwechselnd. Jeder einen Pinselstrich." Bei dieser Erinnerung schlich ein spitzbübisches Grinsen über sein Gesicht. "Wer gerade nicht am Zuge war, liebkoste eben den gerade Malenden. Sie sollten die Bilder mal sehen, die an jenem Tag entstanden sind." Sein Grinsen wurde nun zu einem der unschuldigsten Lächeln der Welt, begleitet von einem kurzen, nicht minder unschuldigen Schulterzucken. "Da nannte ich sie Venus und sie mich Vincent, da meine Linien meist kurz, gerade und breit waren.
Im Herbst warf ich mal während eines Spazierganges mit einem Stock eine reife Kastanie vom Baum. Als ich den Stachelpanzer öffnete, waren zwei Früchte darin. Jede an einer Seite flach, wie zwei Halbkugeln. Sie bekam die eine Hälfte und ich die andere. Seit diesem Tag hat jeder von uns seine Kastanie bei sich ..." Er kramte kurz in seiner Hosentasche und holte die Kastanie hervor, die schon längst nur noch matt glänzte und an einigen Stellen abgeschabt und etwas runzelig aussah. "Ihre heißt Kastanielle, diese hier Kastaniotto.
Zu Weihnachten wollte sie mich erst Owie nennen, doch da hatte ich was gegen. Wir einigten uns dann auf Schawanalelia, das war sie, und Kosanario, das war ich.
Als wir uns Liebesbriefe auf den tief gefrorenen und zugeschneiten See schrieben, unterzeichnete sie mit ihrem Handabdruck und bei mir mit ..." Er kniff die Augen zusammen und überlegte kurz. "... Snorrfretje. Und ich drückte meinen nackten Fuß daneben in den Schnee und schrieb unter ihren Handabdruck ... Kaschnamiriken.
Und als wir uns im Sommer in der hohen, blühenden Wildwiese liebten ... Kalaranaa und Salvestio ..." Langsam nickte er.
"Wie konnten Sie sich nur alle diese Namen merken?" wollte der junge Mann wissen, und der Erzähler lächelte geheimnisvoll.
"So etwas brennt sich ein. Ganz fest und unauslöschlich zusammen mit der Erinnerung. Wie ein wohltuendes Brandmal."
"Und ...?" Der Zeichner zögerte zunächst, weiter zu fragen. "Und seit wann ... Weshalb suchen Sie sie jetzt?"
Der Mann rückte träge und ungemütlich auf seinem Stuhl hin und her. Sein Gesicht wurde zu einer ernsten und doch auch traurigen Maske.
"Ich war für ein paar Tage in der Stadt, um mal wieder ein Lebenszeichen von mir zu geben. Bei meinen Eltern, meinen Freunden, die mich meist nur noch aus Briefen kennen.
Als ich wieder zurückkam, war sie fort. - Weg. - Einfach so ... Und das ist jetzt zwei Monate her." Wieder kramte er in der Hosentasche herum und holte nun einen schon recht zerknitterten Zettel hervor, den er dem jungen Mann reichte. "Nur dies hier fand ich."
Ihre Schrift war königsblau und fraulich rund.

Mein Noah!
Sei der weißen Taube, die dich in das gelobte Land führte, nicht bös'.
Wer keinen Namen hat, ist auch unschuldig.
Wer unschuldig ist, kann nicht gehaßt werden.
Und wen man nicht hassen kann, dem kann man auch nicht nachweinen.

Suzanne

Nachdenklich ernst faltete der junge Mann das Papier zusammen und gab es zurück.
"Weshalb suchen sie hier nach ihr?" fragte er nach einer grübelnden Weile.
"Im letzten Herbst war es mal sehr stürmisch", antwortete der Mann. "Und wir standen vor dem Haus und lauschten dem Wind, wie er sich an jenem Tag wild in den hohen Bäumen verfing und es so schien, als wolle er sich wieder freischütteln. Da sagte sie wie beiläufig, daß sie den Westwind sehr lieben und vermissen würde. - 'Wie er vor mir mit der Brandung naß gegen die Steine prescht und mir salzig durch das Haar krault ...' - So hat sie's gesagt."
Sein ausdrucksloser Blick fixierte starr und leer einen Punkt an der holzvertäfelten Wand und seine Stimme murmelte sich von ganz weit weg heran, stieg auf, wie aus einer fernen Tiefe. "Hatte ich gesagt, daß es braun war? ... Kastanienbraun ... Lange, kastanienbraune Haare ..."
Der junge Zeichner glaubte, etwas sagen zu müssen. "Glauben Sie mir", versicherte er, "ich wünschte, ich könnte ihnen helfen. Bitte glauben Sie mir, das wünschte ich wirklich."
"Ja", machte der Mann und zwang sich ein Zucken in den Mundwinkel. "Ich denke, das tun Sie wirklich." Er erhob sich langsam und legte etwas Geld neben die kleine Teekanne auf den Tisch. Dann reichte er dem jungen Mann, der nicht viel jünger war als er selbst, die Hand.
"Ich danke Ihnen, mein Freund", sagte er dann. "Leben Sie wohl. Und seien Sie sich sicher: Sie haben mir sehr geholfen." Daraufhin zog er sich den dunklen Lodenmantel über und wandte sich dem Ausgang zu. Kurz bevor ihn die Tür in den windigen, feuchten, halbdunklen Abend schluckte, lächelte er dem jungen Zeichner, der da am Tisch bei der gegenüberliegenden Wand saß, noch einmal freundlich zu. Wenig später brauste draußen ein Auto davon.

(Fortsetzung: "Kastanienbraun - Ende")
 



 
Oben Unten