Katzenfutter - Katzenklo (gelöscht)

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Willibald

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Interessante Doppelkonstruktion der eventuell bis sicher gleichen Ereigniskette. Wurf der Katze aus demselben Stockwerk.
Perspektive des Sozialbetreuers. Perspektive des Betreuten.
Unterschiedliche Konzepte des Agierenden und Auslösers der Katzenvernichtung.

Und der Konsequenz in gleicher Formulierung der beiden Erzählinstanzen, heterodiegetischer Erzähler/Er-Erzähler und homoiodiegetischer Erzähler/Ich-Erzähler:

Heute habe ich Katzenfutter von meiner Einkaufsliste gestrichen.
Mitzeinander (sic) kompatibel, bis zu einem gewissen Grad.

ww
 

Val Sidal

Mitglied
@Willibald

Ja, man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass es im Text um Katzentod geht.

Um zu erfahren, ob und wie ich „Gödel, Escher, Bach“ verstanden habe, hätte ich darüber mit jemandem einen Dialog führen müssen.
Im Hinblick auf den Katzenzustand wäre vielleicht eher Schrödingers Katze relevant.

Danke für das Lesen und Deuten.
 

Willibald

Mitglied
Salve, Val!

Wer sagt denn, dass es um Katzentod geht?
Es geht sehr viel mehr um die Motive des vielleicht beschnapsten Katzenwerfers. Einmal reagiert er auf die Tierheimdrohung mit der Tötung. Der betreuende Sozialarbeiter braucht daraufhin kein Katzenfutter mehr zu besorgen. In der anderen Version gibt es die Formel von den sieben Leben der Katze als Experimentierfeld des Stockwerkbewohners. Die Katze überlebt allenfalls in den beiden Miniaturen auf dem Papier und dem Screen des Computers. Das Anullieren der Bestellung deutet darauf hin, dass der Katzenbesitzer bisher selber die Katze versorgte.

Aber kompatibel ist eben auch: Bisher hat der KB seine Bestellungen beim Betreuer abgegeben. Der Katzenwurf ist aus verrücktem Mutwillen getätigt, darauf deutet die zweite Version hin. Sie spart den Betreuer und das Heim aus und generiert das Bild, das Selbstbild eines situationsmächtigen spiel-, experimentier-, schrödinger- und narzissmusfreudigen Akteurs,vielleicht bedudelt gerade. Hinter beiden Versionen kann abgrundtiefe Verzweiflung stehen da oben im xxten Stock.

Was willibald in der Diskussion mit Val nicht erreichen konnte: es gibt auch in ästhetischen Fragen einen recht verbindlichen Horizont. In unserem Fall den literarischen Einsatz interner Fokalisierung in Kurztexten. Bis zu einem gewissen Grad anzuerkennen, wenn sich dieser Einsatz in anerkennenden Diskursen von Literaturgeschichten und Feuilleton findet. Kombiniert mit der Akzeptanz beim kaufbereiten Publikum. Wer wie Val scheint es diesen Diskurshorizont ausklammert, begibt sich in eine solipsische Position und in den Zwickzwack, aus dieser Position mit anderen diskutieren zu wollen. Und der weise Schüler sagt zu Recht: "Wem sagst du das?" Und lächelt voller Sanftmut.

Ausserdem: Bei aller erkenntnistheoretischen und wohlfundierten Skepsis. Diese Skepsis mildert dich beträchtlich, wenn der Erkenntnisskeptiker die detektivische Hilfe von Kriminalisten braucht. Oder im Krankheitsfall einen guten Diagnostiker.
Man kann als Agnostiker oder Atheist an sich selbst erfahren, dass bei Flugturbulenzen plötzlich ein totgeglaubtes Schrödingerich göttlichen Beistand erbittet.

Vale

ww
 

Willibald

Mitglied
Aja.
Beste Grüße von der Nachbarin im 37. Stock, der dritten Figur, keine unzuverlässige Auskunft-Geberin.

Und dann gibt es ja noch die Autorfigur. Je nach Laune und Grad der momentanen Erkenntnisskepsis deklariert sie a) die Katze lebt b) die Katze lebt nicht c) man kann a oder b nicht wissen, d) erst wenn man (sic!) akzeptiert, dass Sprache samt Kommunikation nicht möglich ist, kann man miteinander sprechen, e) man lese dazu "Gödel ,Escher Bach", vor allem Bach und Watzlawik, das verschaffe intersubjektive Gewissheit über die Ungewissheit.

ww
 

Val Sidal

Mitglied
interne Fokalisierung

Servus Willibald!

Es ist nicht so, dass ich Interne Fokalisierung/Vokalisierung nicht diskutieren will. Nur die im Kontext des Halloween-Textes vermutbare Vorstellung fand ich indiskutabel -- Wirkung auf Val, und so...

Im Gegenteil, ich nutze z.B. direkte, indirekte, explizite und implizite Varianten davon in meinen kürzeren Texten sehr gerne, weil sie, wenn sie gelingen, einen sehr attraktiven Beitrag zur Charaktergestaltung, Dramaturgie und Atmosphäre des Textes leisten können -- beobachtbar am "recht verbindlichen ästhetischen Horizont", wie du treffend sagst.

Die multiple interne Fokalisierung im kleinen Katzenentwurf treibt den Text -- abhängig von Vorwissen, Lesart und Disposition) -- in einen Raum von Wahrscheinlichkeiten, bis an die Grenze des Vexierhaften oder Forensischen (fallls der Leser doch den Fall untersucht, ob nicht der Protagonist einen Sprung hat ...) -- ob es dem Leser gefällt, ist nicht Sache des Autors. Langweilen oder nerven, sollte der Text freilich nicht.

Gruß
Val
 

Willibald

Mitglied
(0) Darf ich noch mal erinnern?

Am Schluss (4) steht zitiert aus dem Diskurs um Halloween zuerst ein fettes Verdikt, scheint mir, gengenüber der Platzierung interner Fokalisation in Kurztexten, dann folgt ein Diskussionsangebot von mir. Und dann hier nicht mehr dokumentiert eine hochgestochene Diskursveranstaltung über die Möglichkeit intersubjektiver Kommunikation und Argumentation. Zunächst ein bisschen polemisch ("ha, ha"), dann zunehmend sachzugewandt, aber ...

Salute in die Runde,

beim aufmerksamen Lesen von Halloween sind mir zwei Texte in der Erinnerung aufgetaucht, einer von den Brüdern Grimm, der andere aus irgendeiner Witzsammlung der sechziger Jahre:


(1) Großvater und Schmuggelfahrt

Der alte Großvater und sein Enkel


Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch, und es floss ihm auch immer wieder etwas aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen musste sich der alte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen und noch dazu nicht einmal satt, da sah er betrübt nach dem Tisch, und die Augen wurden ihm nass.
Wie sie da so sitzen, so trägt das Enkelchen auf der Erde kleine Brettlein zusammen. Was machst du da, fragte der Vater. Ich mache eine Tröglein, antwortete das Kind, daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin.
Da sahen sich Mann und Frau eine Weile an. Fingen endlich an zu weinen, holten alsofort den alten Großvater an den Tisch und ließen ihn von nun an immer mitessen, sagten auch nichts, wenn er ein wenig verschüttete.

Schmuggelfahrt

Österreichische Grenze kurz nach Ende des zweiten Weltkrieges: Eier, Butter, Fleisch sind in Deutschland Mangelware. Konsumgüter sind über Lebensmittelmarken empfindlich rationiert. Auf österreichischer Seite liegt der Schwarzmarkt für die begierigen „Reichsdeutschen“.
Auf der Rückfahrt im Zug reißt der österreichische Kondukteur - Mütze, Uniform, untersetzt, rotes Gesicht -, die Abteiltür auf, kneift die Augen zusammen und raunzt: „Hamm´s Butter?“ „O, nein.“ „Gar nix.“ „Nur Brot“ murmelt man eingeschüchtert. Der Uniformierte schweigt einen Moment, dann - mit einer gleitenden Handbewegung die Tür hinter sich schließend - beugt er sich nach vorn: „Wolln´s Butter?“

(2) Texturen, Analyse

Der erste Text weicht sehr ab vom Märchenschema und seinen Wunderstandards. Vielmehr eine Alltagsgeschichte. Gewiss irgendwie erkünstelt in der Konstruktion. Oder? Und doch rührend. Das Kind will vermeiden, dass es den Eltern so geht, wie es jetzt deren Vater geht. Und das wird daran sichtbar, wie es sucht und mit dem Gefundenen hantiert. Und so wird den Eltern bewusst, wie sie mit ihrem Vater umgehen sollten. Eine indirekte, gar nicht breit ausgmalte Bekehrungsgeschichte. Eine Miniatur.

Und der zweite Text überrascht durch eine völlig unerwartete Wendung. Die gleiche Person in der gleichen Situation mit zwei kontradiktorischen Aussagen. Einmal als (scheinbarer) Diener des Staates und staatlicher Normen, die Schmuggel verbieten, dann als Anbieter von Schmuggelware, wohl zum eigenen Verdienst. Ein Kipp-Phänomen. Seltsam, auch in der Grimm-Geschichte gibt es ein Kipp-Phänomen. Beide Texte stimulieren das Bewusstsein des Lesers und berühren, einmal durch Komik, einmal durch Emotion und Trauer und Einfühlung und Gerechtigkeitsgefühl und Fürsorglichkeit eines Kindes.


(3) Wahrscheinlichkeiten und ein Textvorschlag


Der Teufelchentext ist ähnlich konstruiert: Ein empathisches Kind und noch eines. Und ein Kippen raus aus der Bitte um etwas rein in das Geben von etwas.

Mir scheint die Kürze und das Filigrane der Geschichte wichtig. Die Leerstellen sind da und funktional, sie können bei aufnahmebereiter Lektüre sehr wohl gefüllt werden. Der Opa ist zornig, auch wegen dem Verschmieren der Türe vor einem Jahr. Ein kleines Unglück in der Küche und schon sollen die Halloween-Kinder draußen dafür und für letztes Jahr angeraunzt werden, auch wenn sie wohl gar nicht die früheren Täter sind.
quote:
________________________________________
Dann schlurft er grummelnd in die Küche und spült das Geschirr. Eine Tasse rutscht ihm aus der Hand, der Henkel bricht ab.
„Herrgott noch mal, nur Scherereien!“
Letztes Jahr meinte irgendeiner dieser Rotzlöffel, er müsse sich mit einer Ketchup-Fratze auf der Haustür verewigen.
Da, es klingelt! Dieses Mal wird er den frechen Gören gehörig den Kopf waschen!
________________________________________

Ab "letztes Jahr" haben wir eine summierende erlebte Rede, interne Fokalisierung: Die Gedanken und Emotionen sind recht deutlich als Opaanteile markiert, etwa über das idiomatische "irgendeiner dieser Rotzlöffel". Die interne Fokalisierung setzt sich - ohne weitereres als logisch einsehbar fort in personengebundener Wahrnehmung der Außenwelt: "Da, es klingelt" und der emotionalen Aufrüstung in "Dieses Mal wird er den frechen Gören gehörig den Kopf waschen!"
Eione Doppelcodierung: Der Erzähler und die Er-Form, narrationale Perspektive, figurale Perspektive im Futur und der emotionalen Rede: "Dieses Mal wird er ...!"

Das schon diskutierte "Was?!" ist gar nicht schlecht gewählt, gar nicht. Es ist ja eine gewisse, wenn auch schroffe Kontaktaufnahme mit den beiden Kindern vor der Tür. Auch dass nun keine explizite Klärung der emotionalen Prozesse beim Großvater kommt, ist nicht unbedingt ein Nachteil. Das Kindchenschema und die Verkleidung - so interpolieren wir - hat eine durchaus besänftigende Wirkung. Und so kann dann - zwar überraschend, aber durchaus nachvollziehbar der Wechsel in der Kinderbehandlung und der Kinderhandlung (Bitten-Geben) folgen. Und ja, da folgt ein komischer Effekt. Eine Erwartungsdurchbrechung und Überraschung eindrucksvoller Art, fern von automatisierten Frames und Scripten.

Was mir in der Diskussion eingeleuchtet hat, ist die gewisse Unwahrscheinlichkeit in der Reaktion des Mädchens. Das "Drücken" ist wohl doch eine eher intime Geste, abrufbar im engen privaten Kreis der Familie oder der Freunde.

So gesehen scheint mir eine Veränderung dieser Schluss-Passage diskutabel. Vielleicht könnte nun der Text - orientiert an der ersten Fassung - so aussehen. Ich halte die erste Fassung für durchaus plausibel und wirksam, auch wenn der Autor inzwischen voller Skepsis eine andere Variante gewählt hat.

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„Neumodischer Kram! Zu meiner Zeit hat’s das nicht gegeben!“
Rentner Dorn mustert mit zusammengekniffenen Lippen die Gestalten auf der Straße.
Dann schlurft er grummelnd in die Küche und spült das Geschirr. Eine Tasse rutscht ihm aus der Hand, der Henkel bricht ab.
„Herrgott noch mal, nur Scherereien!“
Letztes Jahr meinte irgendeiner dieser Rotzlöffel, er müsse sich mit einer Ketchup-Fratze auf der Haustür verewigen.
Da, es klingelt! Dieses Mal wird er den frechen Gören gehörig den Kopf waschen!

Dem Teufelchen und der kleinen Hexe vergeht schlagartig das Lächeln, als sie dem alten Mann in die Augen blicken.
„Ja?!“
Die Steppkes zögern kurz, holen tief Luft und singen: „Jack o'lantern …“
„Das haben wir in der Schule gelernt.“
Milder als geplant meint Herr Dorn: „Ich habe nichts. Und nun?“
Keine Süßigkeiten im Haus?!
Das Hexlein macht große Augen. Der arme Opa!
Und der Junge zögert, dann atmet er tief ein und hält dem alten Mann sein Körbchen hin: „Möchten Sie vielleicht ein paar Bonbons?“
---------------------------------------
greetse

ww

(4) Nachklapp

val
Übrigens: deine Breispiele illustrieren, wie [blue]man mit der "erlebten Rede" im Kurzformat umgehen sollte -- man sollte sie vermeiden ...
[/blue]

willibald
Na gut. Wie könnte man mit Val ins Diskutieren gelangen?

"Breispiele" für [blue]kurze[/blue] interne Fokalisation bei Gross-Schriftstellern, anerkannt in Lit-Geschichte Feuilleton und auch Publikumserfolg?
Beste Grüße. Hast Du also noch weitere akzeptable kurze Texte mit Beispielen für kurze, eventuell personalwechselnde interne Fokalisation? Auch aus eigener Schreibe natürlich so wie die multiple Perspektive in der Katzensache?

ww
 

Willibald

Mitglied
p.s.


a)
willibald hat eine Analyse der beiden Versionen und ihrer Kompatibilität an-gelegt, siehe oben.

b)
Das textuelle Vexierschema wurde angedacht und ...

Wer spricht hier und mit welchen Motiven?
Welche Handlungsmodelle werden in den beiden Varianten evoziert? Wieweit sind sie miteinander kompatibel?)

c) das stützt sich auf Strukturen, die durchaus grenzwertig bei Halloween beschimpft werden:

- Ein Stereotyp-Schema mit asozialem besoffenen Betreuten.
- Das Stereotypschema der wohlwollenden Nachbarin.
- Das Schema des Alkoholismus, aber all das eher nicht ausgeführt und von daher so knapp wie die Halloween-Story. Val meinte, sie müsse durch Vertiefungen erweitert werden und hat den entsprechenden Text geliefert).
- Eine eher unglaubhafte Reaktion mit Katzenwurf.
- Die Redensart der sieben Leben und des Überlebensexperimentes, wie plausibel ist das denn?
- Eine recht unscharfe lokale Deixis (oben, unten,)gleich zu Beginn, kontraproduktiv: der Leser wird dabei so irritiert, das er nur schwerlich weiterliest


....
 

Val Sidal

Mitglied
Val meinte, sie müsse durch Vertiefungen erweitert werden und hat den entsprechenden Text geliefert).
-- naja, Du hast wohl die ausdrücklich ironische Absicht auch nicht erkannt.
- Eine eher unglaubhafte Reaktion mit Katzenwurf.
tja, glaubhaft oder nicht -- vielleicht ist der Prot selbst gesprungen ...

"Hast Du also noch weitere akzeptable kurze Texte mit Beispielen für kurze, eventuell personalwechselnde interne Fokalisation?"
-- ob, kurz genug und akzeptabel ... Jedenfalls ein Beispiel aus meinem Roman "Krötenwanderung" © Val Sidal, 2006:

Weißt du,
wo du suchst, dort findest du. Wie du suchst, so findest du. Was du suchst, das findest du. Wenn du suchst, dann findest du. Warum suchst du?
Wozu? Wer bist du? Wessen Geist Kind?

Umgeben von den zweifelhaften Individuen wachte Lars schweißgebadet auf. Jetzt bildeten sie einen Kreis um sein Bett. Er wusste, sie würden ihm solange nicht mehr von der Seite weichen, bis er gefunden hat, was zu suchen war.
Der Meister und seine Tochter sprachen leise:
„Erkenne, damit du glauben kannst! Werte Worte nach ihrem Wesen, denn sie sind das Werden! Du sollst sie lieben wie sie sind; ein Nicht-Gott, ein Nicht-Geist, eine Nicht- Person, ein Nicht-Bild, mehr noch: wie sie ein lauteres, reines, klares Eines sind, abgesondert von aller Zweiheit.

Und in diesem Einen sollen wir ewig versinken vom Etwas zum Nichts, um wieder Etwas werden zu können.“, sagte einer, der sich Lövenix nannte. „Das Senfkorn zeigt hier Tiefe ohne Grund. Schach und Matt der Zeit, den Formen, dem Ort! Der Wunderring ist Ursprung, unbeweglich steht sein Punkt. Werde wie ein Kind, werde taub, werde blind! Dein eigenes Ich muss zunichte werden, alles Etwas und alles Nichts treibe hinweg! Lass Raum, lass Zeit, meide auch das Bild! Gehe ohne Weg den schmalen Pfad, dann findest du der Wüste Fußspur.“
„Wie wünschte ich, ich wüsste, wer ich bin! Was in der Welt ist, welche ich will!“, seufzte Lars.
„Bekenne dich doch zu deiner Unwissenheit!“, sagte der, der sich Krebs nannte.
„Und doch gibt es in der Natur eine gewisse reine Substanz, welche, wenn sie entdeckt und durch Kunstfertigkeit in ihren vollkommenen Zustand gebracht wird, alle un- vollkommenen Körper, welche sie berührt, zur Vollkom- menheit verwandelt!“, sagte streitlustig der, der aus der neuen Stadt kam.
Sein Freund ergänzte: „Man findet sie auf dem Land, in Dörfern und Städten, in allen Dingen. Reich und Arm legen gleichermaßen jeden Tag Hand an sie, Diener werfen sie auf die Straße, und Kinder spielen damit. Niemand schätzt sie, obwohl sie das kostbarste auf Erden ist, das Könige und Prinzen vernichten kann. Aber man betrachtet sie als das gemeinste, niedrigste aller Dinge.“
Lars erschauderte, heiße und kalte Wellen strömten durch seinen Körper, von vorne nach hinten, von oben nach unten – immer wieder. Er bekam eine Erektion.

„Warum quält ihr mich, da ihr wisst, keine Gewissheit konnte mein Geist empfangen, ohne auf dem Prüfstand meiner Seele als zu leicht befunden und abgestoßen worden zu sein?“, flehte Lars. „Wer bin ich, dass Ihr glaubt, die Kraft und die Weisheit zu besitzen, eurem Widerstreit entfliehen zu können? Gott, bin ich ein Schwachkopf, dass ich glaube, über meinen Geist überhaupt sprechen zu können!“
Er klang verzweifelt.
Einer aus der Runde kam näher und legte seine Hand auf seine Stirn.
„Es ist der Geist Gottes, der uns ein Ding auf eine bestimmte Weise und ein zweites auf eine andere Weise verstehen lässt“, verteidigte Krebs die Gruppe.
„Wie ein in einem Kreis einbeschriebenes Vieleck, das die Zahl seiner Seiten vermehrt und doch nie ein Kreis wird, so nähert sich deine Erkenntnis der Wahrheit an, stimmt aber nie ganz mit ihr überein... Wissen ist also im besten Fall Vermutung.“, ergänzte ruhig Lövenix.
„Jawohl, coincidentia oppositorum, die Vereinigung von Gegensätzen führt zur Vereinigung von Gegensätzen: ein Kreis mit unendlich großem Radius hat eine Gerade als Umfang!“
„Als Luther der Medizin6 kann ich dir sicher helfen“, sagte bombastisch einer aus der Gefolgschaft von Hermes, einer stummen Beobachter der Szene zugewandt, der eine Smaragdtafel vor sein Gesicht hielt, um sein amüsiertes Lächeln zu verbergen. Er wusste ja, was kommen würde.
„Laudatus Laudanum!“, schrie also Luther und holte aus einem Beutel ein golden glänzendes Kügelchen, das wie Mäuseexkremente geformt war.

Lars schluckte die bittere Pille. Er fiel erneut in einen tiefen Schlaf – um zu träumen. Als er wieder aufwachte, waren die Individuen verschwunden. Stattdessen kam seine Mutter auf ihn zu und reichte ihm ein mit Schinken belegtes Sandwich. Lars erzählte ihr von den Figuren seiner Traumzeit.
Wie soltte sie Ihn bloß beruhigen? „Auch große Geister unterliegen Irrtümern. Täuschungen aus der Tiefe dieser Individuen sind wirr und vielfältig, ihre Dogmen trennen, was nicht zu trennen ist und führen zusammen, was nicht zusammengehört – sie bringen alles durcheinander. Sie tragen ihre Trugbilder auf den Markt und beschädigen dabei das wichtigste Instrument des zwischenmenschlichen Verkehrs – die Sprache. Auch unser Verstand macht Fehler – und diese Fehler sind am schwierigsten zu erkennen und zu vermeiden.“
Mutters Stimme wirkte wie Balsam auf sein entzündetes Gemüt.
„Du solltest mal wieder malen, es entspannt dich doch so schön“, empfahl Mutter.
„Das ist nicht mehr so. Das Monster in mir zwingt mich in der letzten Zeit immer wieder zu versuchen, mich selbst zu malen. Könnte ich doch nur meinen Geist erfassen! ES malen!“, Lars resignierte
Gib nicht auf, hätte sie gerne gesagt, er hört ja nie zu!
„Ich kann die Welt nicht malen, weil ich sie nicht ertragen kann“, sagte er, „im selben Maß, in dem wir durch Technik die Welt und das All erobern, haben wir auch begonnen, die Welt und uns selbst zu zerstören. Unsere Un- menschlichkeit wird nicht nur in den zwei Weltkriegen offensichtlich, in Faschismus und Stalinismus, sondern auch in der Fremdheit und Vereinsamung in unserem modernen Alltag der Vereinzelung, Zerrissenheit, geprägt von Glaubensverlust und Selbstverlust.“7
Mutter schüttelte nur den Kopf, Lars trat ihr in den Bauch und schnürte ihr den Hals zu.
Er nahm eines seiner Selbstporträts in die Hand und zerschnitt es.
„Ich habe den Schinken selbst gemacht. Schmeckt er dir?“, fragte die Mutter ihren Sohn, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.
„Durchwachsen...“, antwortete er.
Vaters Worte kamen ihm in den Sinn.
„Die Menschen verstehen nicht was sie denken. Sie hören sich sprechen, verstehen aber nicht, was sie sagen. Hüte dich vor ihnen. Hüte dich vor denen, die sagen, die Wahrheit zu kennen. Zeige ihnen aber das Gegenbeispiel, das du findest nicht. Sie könnten dich dafür töten. Halte dich fern von denen, die in spitzfindigen Diskussionen nach dem Ersten Beweger oder nach der Weltseele suchen. Wenn du etwas finden möchtest, suche es. Wenn du eine Vorstellung hast, probiere es aus. Der Traum wird dir immer den Weg weisen.“
Um seine Gedanken zu ordnen fing er an, all das, was er zu wissen glaubte, in einer Tabelle, mit der Überschrift „Entitäten“ aufzuschreiben. Er zählte sie, er ordnete sie immer wieder neu. Er suchte das eine Bild, welches seinen Geist befriedigt und seine Seele besänftigt hätte.
Als die Tabelle eine Größe erreicht hatte, die auch mehrfach gefaltet, den Boden des ganzen Zimmers abdeckte, hielt er inne.
Du bist auf dem Holzweg ist.
Sein und Denken sind unvereinbar. Alles was du in die Tabelle eingetragen hast sind Verallgemeinerungen, sie haben mit den Einzeldingen nichts mehr zu tun. Das Bild, das ich entworfen habe, kann zwar in sich logisch sein, es hilft mir aber nicht, die Wirklichkeit zu erkennen. So bleibt die Welt für dich unergründlich.
Ich muss sie als unverstanden hinnehmen. Ich bin unfähig, eine göttliche Ordnung in der Welt zu erkennen, so ist für mich auch der Wille Gottes unergründlich. Die Welt ist durch die menschliche Vernunft nicht beweisbar. Man kann über die Welt also nichts wissen.
Du musst glauben!
Hier angekommen, begann er zu weinen. Nach einer Suche, die Tage und Nächte der letzten Monate gedauert hatte, war er an seinem Ausgangspunkt angekommen.
Mutter versuchte ihn zu trösten.
Er stand auf, ging ins Bad und holte Vaters Rasiermesser, ein sehr scharfes Gerät der Marke Ockham.
„Was machst du da?“, schrie seine Mutter verängstigt.
„Sei ruhig, ich bringe mich schon nicht um!“.
Ich hoffe, der Junge kommt mit heiler Haut davon, sagte sich die Mutter und ließ ihn mit seiner Pubertät allein.

Er verbrachte noch einmal Wochen und Monate damit, einzelne Zellen der Tabelle mit dem Rasiermesser aus- oder abzuschneiden.
Übrig blieb etwas, was er ohne Mühe auf dem Wohnzimmertisch ausbreiten konnte – eine Tabelle mit achtzehn Spalten und sieben Zeilen.
In den Zellen hatte er nur noch Buchstaben und Zahlen mit tiefer Bedeutung eingetragen.
Die Schönheit und Einfachheit der Tabelle begeisterte ihn. Er sah schon fast das Ende des Tunnels. Aber die Geister ließen nicht locker.
„Und was ist mit der Zelle in der Spalte vierzehn und Zeile sieben? Warum hast du dort keinen Buchstaben ein- getragen?“, fragten sie ihn.
„Ich hätte schon die Buchstaben dafür, wenn ich nur wüsste, was in die Zelle gehört“, antwortete er.
„Dann finde es! Und denk dran es ist die magische Zelle, sogar die doppeltmagische!“
„Wo soll ich es den finden?“ „Wo du es suchst, dort findest du es.“ „Wie soll ich es denn finden?“ „Wie du es suchst, so findest du es.“ „Was soll ich denn suchen?“ „Was du suchst, das findest du.“ „Wann soll ich den suchen?“ „Wenn du suchst, dann findest du.“ „Warum soll ich suchen? Wozu?“, fragte er schließlich. „Wer bist du eigentlich? Wessen Geist Kind?“, antworteten die Geister.

Gequält von den Geistern, die er rief, sah er die einzige Chance, ihnen zu entkommen, in der Flucht. Ohne etwas mit zu nehmen, machte er sich auf den Weg in den Busch. Ohne zu prüfen, wieviel Sprit im Tank seines Geländewagens noch war, fuhr er einfach los.
Nach etwa drei Stunden Fahrt auf dem Highway bog Lars in einen sandigen Weg ab. Hätte ihn jemand gefragt: Warum verlässt du die Hauptstraße, ist das nicht gefährlich?, hätte er geantwortet: „Gefährlicher als der Busch ist die Hauptstraße, die mich zu Umkehr bewegen versucht: Wende, fahr nach Hause, trink ein kaltes Bier und genieße die Kühle der Klimaanlage.“
Der aufgewirbelte Staub markierte seinen Pfad, wie ein roter Faden. Hätte er es sich anders überlegt, dann hätte er, auch nach dem er diesen schmalen, einspurigen Buschweg verlassen hatte, vom Ariadnefaden des Staubes geleitet, zurückgefunden.
Lasst ihn! Er hatte es sich noch nicht anders überlegt!
Und als es so weit war, als Hunger, Durst und die Hitze gesiegt hatten, hatte er seinen Wagen schon längst, mit leerem Tank, irgendwo unauffindbar liegen gelassen.
Für die Fledermäuse war die Zeit gekommen, aufzuwachen und in einem Schwarm mit tausenden Flügelpaaren sich auf Nahrungssuche in die Eukalyptusweiten aufzumachen. Jetzt hätte er gerne wenigstens die arrogantklugen Stimmen seiner Geister gehört. Aber das Schreien der Tiere übertönte alles. Und der Geister ...
OK. ich gebe auf. Ich bin zu schwach und zu feige für diese Welt. Ich werde ein Paar Stunden schlafen und beim Sonnenaufgang gehe ich nach Hause.
Seht ihr? Er gibt doch auf!

Python beobachtete sehnsüchtig seinen kleinen, verzweifelten Freund.
Die Geister waren ihm nie von der Seite gewichen, weißt du? Sie wandelten nicht ihr Wesen sondern nur ihre Form.
Bei dem Gedanken erschauderte Lars.

Am Abend des nächsten Tages wusste er, dass sein „Zuhause“ etwas Fernes, Unerreichbares und Fremdes geworden ist.
„Wo du suchst, dort findest du. Was du suchst, das findest du.“, hallte es nun aus jener Ferne. Er folgte der Stimme, der einzigen und letzten Verbindung zu seiner alten Welt, denn der Busch, in seiner eintönigen Gleichförmigkeit, machte den Unterschied nicht mehr. Länge und Breite verloren das Maß. Die Tiefe und die Höhe, die wahrnehmbar übrig blieben, waren ihm nicht vertraut. Er hatte sich verlaufen.
Man kannte die Geschichten von Leichtsinnigen (nicht nur Touristen), die im Outback die Orientierung verloren hatten und häufig erst nach aufwändigen Suchaktionen, in der Regel nur noch tot gefunden werden konnten.
Ich habe Angst! Er spürte aber zugleich, dass das Wort sein Gefühl nicht richtig beschrieb. Es war nämlich ein neues, fremdes Gefühl.
Das Atmen fiel ihm schwer, aber das erste Mal in seinem Leben bemerkte er überhaupt, die Luft die einströmte – mit Haut und Haar. Immerhin --- die Luft. Seine Augen brannten. Er fühlte sich von seinen Augen im Stich gelassen. Hatten sie früher alles Wichtige über die Welt blitzschnell weitergeleitet, so versagten sie nun. Fehlgeleitet von den sich nicht mehr auffällig genug abhebenden Ähnlichkeiten, beschlossen sie, ein Standbild zu zeigen. Seine Ohren sendeten nur noch das Brummen eines Lautsprechers mit verstärkten Wackelkontakten.
Noch einmal drang eine Stimme zu ihm. Sie kam aber diesmal von weit draußen:
„Wer bist du?“
 

Willibald

Mitglied
Mein Gott, den Lars als Langtext mit innerer Fokalisierung habe ich doch schon längst erwähnt.
Vale These heisst, Man müsse in Kurztexten auf innere Fokalisierung möglichst verzichten.
Im übrigen tägliche ich einen möglichst sachlichen und respektvollen Ton. Den möchte ich unbedingt beibehalten.
ww
 

Val Sidal

Mitglied
Vale These heisst, Man müsse in Kurztexten auf innere Fokalisierung möglichst verzichten.
-- dem habe ich in präzisierender Absicht
Man kann alles machen -- wenn's funktioniert.
hinzugefügt.


Okay, noch ein Beispiel aus meinem Kurzgeschichtenband "Zeit.E":

Hängepartie

„Unerwarteter Nahschuss, so nannten die das in der Zentralen Hinrichtungsstätte …“, sagt mein Gegenüber.
Ich hasse Konversation. Lese gerade Luhmanns Das Recht der Gesellschaft. Das Deckblatt des Buches scheint ihn angesprochen zu haben. Suhrkamp, Ferrari-Rot. ... eine Norm schreibt vor, was gesollt ist …
„Im Erdgeschoss der Leipziger Arndtstraße 48 wurde eine Hausmeisterwohnung umgebaut.“
Ich reagiere nicht. Will keine Konversation. ... in interdisziplinäre Kontaktsuche getriebene Reflexionstheorie des Rechtssystems mit …
„Der Staatsanwalt hat lediglich mitgeteilt, dass das Gnadengesuch abgelehnt wurde und die Hinrichtung unmittelbar bevor stand.“
Die Ansichten der Leute interessieren mich nicht. Habe genug mit meinen Gedanken zu schaffen. Und den Meinungen meiner Studenten, meiner Frau. Ich möchte nur in Ruhe lesen.
„So war das damals in der DDR.“
Normalerweise würde ich jetzt meine Sachen packen und den Platz wechseln. Oder in den Speisewagen gehen – der Kaffee ist zwar ungenießbar, aber fünf Euro soll mir meine Ruhe wert sein. Stattdessen blicke ich in sein Gesicht und sage: „Sie kennen sich mit der Materie gut aus …“, vielleicht war er mal ein DDR-Henker – vom Alter her könnte es passen.
„Ach wo! Das kann man im Internet nachlesen.“
Auf Familienfesten entkomme ich dem Smalltalk, indem ich den Kindern Geschichten erzähle. Ihre Gesellschaft ist mir auch sonst lieber.
„72 wurde der Kindermörder Erwin Hagedorn hingerichtet …“
Der Schaffner schiebt den schwer beladenen Servierwagen, eckt an Hindernissen an.
Wenn der Zug im letzten Bahnhof vor der Endstation hält, wird mein Gegenüber von einem Jungen erzählt haben, den er mal kannte.
„Er war immer schon ein Außenstehender. Die anderen Jungs in der Vorstadt waren Fußballbegeisterte ...“; er sagt es, als müsste der Junge verteidigt werden, „er musste für eine große Zukunft üben ...“
Er blickt durch das Fenster und schweigt. Als suchte er jene große Zukunft, da draußen.
„Die Züge nach Dresden sind immer überfüllt. Die Klimaanlage ist wohl auch ausgefallen ... Die Bahn könnte da mal was tun", sage ich.
„... Schach spielen. Mit seinem Schachlehrer. Privat. Während Mutter … Morgen wird sie beerdigt ...“
Der Schaffner hält an unserem Tisch den Servierwagen an. Das Fenster spiegelt das Getränkesortiment.
Mein Gegenüber blickt auf. Beunruhigend, der Glanz in seinen Augen.
„Sie wünschen …?“, fragt der Schaffner.
Er nimmt Kaffee im Pappbecher – ohne Milch, mit viel Zucker. Seine Stimme kratzt wie Sandpapier. Klingt gehaucht, wie seine Brust die Luft – fast alles – zurückhält, was drängt und droht zu entweichen.
Während er lächelnd bezahlt, sagt er: „Es war nicht alles schlecht in der DDR.“
 

Val Sidal

Mitglied
und noch ein letztes Beispiel:

Blütennarben
© Val Sidal, 2014

Auf verrückte Gedanken kommt man in der Blumen- und Gartenabteilung eines Baumarktes, wenn man sich für einen Intellektuellen hält. Palmen: Globalisierte Exotik. Gentechnologie: den Rosenduft weggekreuzt. Meine Enkelkinder mussten einmal ihre Nasen in das Glas mit der Rosenblütenmarmelade stecken, die ich beim Türken extra für die Übung geholt hatte, damit sie davon eine Vorstellung bekommen. Riecht gut, sagte der Kleinere, und ich beobachtete, wie er sich eine Erinnerung anlegte. Ein Gefühl. Für später. Und: Warum dürfen Freesien immer noch duften?

Ich bereite gerade meine nächste Lesung vor. Die ersten Termine waren schlecht besucht – eine Handvoll Gäste. Hätte ich auch zuhause veranstalten können – ohne Stühle: die Wohnzimmergarnitur zwischen den Zimmerpflanzen hätte gereicht. So kam mir die Idee, künftig immer unter einer Palme zu lesen. Jetzt suche ich sie.

„Kennen Sie mich noch?“ – die Stimme – sie kommt mir bekannt vor. Ich drehe mich zu ihr.

Er hat sich kaum verändert – die paar Wunden mehr im Gesicht, die er sich nach der Zeit geholt hat, als wir uns einmal die Woche in der Förderschule sahen, waren auch längst verheilt.

„Ich habe hier einen richtigen Job!“ – wie sehr ich damals gezweifelt habe, diesen Stolz jemals auf diesem Gesicht zu sehen.

Als Lesepate übte ich damals mit Schülern. Damit sie wenigstens die Zeitung lesen können. Oder ein zweites Buch. Obwohl das erste – das Eine – sie auch nur vom Sagenhören kannten, verkündet in der Moschee, oder von der Kanzel. Sie mühten sich redlich, doch meist blieben die Geschichten wie die Geheimnisse von verführerischen Jungfrauenkörpern hinter der Buchstabenburka der Texte verschleiert und unberührt. Darum erfand ich welche, die sie dann hören konnten. Und sie machten sich begeistert ihren eigenen Reim darauf.

Ob ich es ehrenamtlich tun würde, wurde ich manchmal gefragt. Nein – ehrenhalber, antwortete ich dann. Dass es eigentlich Sühne war, wollte ich nicht jedem auf die Nase binden.

Ein paar Narbeninseln mehr auf dem Wuschelkopf rufen mir das Bild des Kleingewachsenen in Erinnerung, wie der von Schülern und Lehrern gefürchtete Rabauke mit Knasterfahrung es genoss, wenn ich mit der Hand durch seine Stoppelhaare fuhr und erzählte. Nur, dass er nicht schnurrte.

„Kannst du dich noch an irgendeine Geschichte erinnern?“ Wie der Bauer lange nach der Aussaat das Feld mustert, will ich auch wissen, ob es nur um sonst, oder auch vergebens war.

„Ja, ich muss oft an Franz und die Magd denken …“, sagt er, und ich muss lachen – mein Franz, der am Vorabend der letzten Schlacht des Dreißigjährigen Krieges (Die Schlacht von Wevelinghoven) desertiert war – der Liebe wegen ...

Seine kleingehauene Seele braucht auch heute kaum mehr Körper als damals.

„Schlägt dich dein Vater noch?“
„Er ist tot.“

Das tut mir Leid, will meine Kopfstimme reflexartig beteuern, aber ich halte den Mund. Ich will nicht lügen.

„Beim Gebet hat ihn der Schlag getroffen.“

Allah ist gerecht, sagt er zum Abschied, während ich ihm die Hand reichen würde.
 
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