Kauf dir einen bunten Luftballon

Es klappt nicht. Andreas hält die Luftballons umklammert und blickt auf den Boden unter sich. Er schwebt immer noch nicht in der Luft. Nein, nein, er sitzt nach wie vor auf dem Sand.
Mit einem Seufzer wickelt er die Leine von seinem rechten Zeigefinger und bindet die Ballons an ein kräftiges Stück Treibholz neben sich. Schade. Er hätte sich sosehr gewünscht, dass die Atemübungen diesmal eine Wirkung gezeigt hätten. Siebenundsiebzig Mal hat er rhythmisch und bewusst die Luft eingesogen und durch den leicht geöffnetem Mund ausfließen lassen. Naja, vielleicht stehen die Sterne noch nicht so günstig wie das Horoskop angab. Oder er ist, wie immer, zu ungeduldig.
Aber so schnell gibt Andreas nicht auf. Er greift sich einen kleinen Ast und kniet sich hin. Dann malt er ein Dreieck in den Sand. In dieses Gebilde zeichnet er nun ein senkrecht entgegengesetztes Dreieck, das sich mit dem ersten in der Mitte überschneidet.
Nun steht er auf und umrundet das Zeichen, zuerst sieben Mal in Uhrzeiger Richtung. Anschließend vollführt er die Prozedur in die Gegenrichtung. Während der Umrundung tanzt er wechselseitig auf einem Bein. Dabei intoniert er leise die Formeln aus dem Buch des aufgestiegenen Meisters von Chinoa.
Andreas setzt sich wieder hin und hält sein Gesicht eine Zeit lang in die untergehende Sonne. Nichts rührt sich.
Wortlos steht er auf und geht über den Strand zu seiner Wohnung zurück.

In dem kleinen Apartment bei der Kolonie zündet er eine Kerze an. Umsichtig verschließt er die Tür. Er prüft zwei Mal, ob das Schloss und der Riegel auch richtig eingerastet sind. Dann zieht er die Vorhänge am Fenster zu.
Behutsam holt er den Umschlag mit der Kreditkarte und dem Kontoauszug hervor. Das Versteck ist sehr raffiniert angelegt. Manchmal verspürt er selbst eine leichte Furcht davor, dass er seinen Schatz auch wirklich dort verborgen hält – und wiederfinden wird. Das Konto zeigt siebenunddreißigtausend Euro und ein paar Zerquetschte. Damit kommt er roundabout noch drei Jahre aus.
Andreas verstaut den Umschlag wieder und setzt sich im Schneidersitz auf den Schaffellteppich. Zittern seine Hände? Nein, nicht sehr. Er überlegt. Was soll er machen, wenn weder das Luftballonritual noch die Geheimformeln ihn in eine höhere Dimension tragen?
Er nagt am Nagel seines rechten Zeigefingers. Na klar, er hätte den Posten als Niederlassungsleiter nicht so ohne weiteres aufgeben sollen. Die Bank hatte die Filiale wohl geschlossen. Sie hatte ihm aber auch eine fast gleichwertige Position in einer Nachbarstadt angeboten.
Allerdings wollte er schon lange raus aus der Tretmühle. Alternativ leben, mehr Zeit für sich haben. Spiritualität erfahren. Frei sein. Und außerdem, so sagt man, wird der Bankensektor zur Stahlindustrie der nächsten Jahre, personell gesehen. Das gibt ein Gemetzel, das weiß er jetzt schon. Wo sollen alle diese Leute hin? Hoffentlich kommen nicht allzu viele auf den gleichen Gedanken wie er selbst.
Also, er hat die fünfzig Mille Abfindung genommen und sich hier auf La Gomera einquartiert. Zehntausend sind für die Umzugs-Logistik, für das Horoskop und für das Jahresabo der Gruppensitzungen draufgegangen. Dreitausend haben die ersten drei Monate gekostet. Das war im Plan. Für den Aufstieg in die nächste Dimension hätte er laut Horoskop einhundertneunundsechzig Tage gebraucht, dreizehn Mal dreizehn.
Heute ist er genau einhundert Tage dabei. Die berühmten hundert Tage. Es ist Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen.
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Die magischen Rituale haben bisher keinerlei Wirkung gezeigt. Keine kosmische Zufriedenheit – nix. Hat er Mist gebaut?
Die Sache mit den Luftballons und dem Atemritual hat ihm einer aus der Gruppe eingeredet. Andreas hatte sich schon gewundert, dass man ihm dieses Requisit aus einem Schlagertext und keine uralten Runentafeln oder Ähnliches empfohlen hatte. Er ist auch der Einzige, der genau diese „Technik“, gegen einen kleinen Obolus, erhalten hat. Andere fahren während der Atemübungen mit dem Zeigefinger auf handlichen Labyrinthen herum oder schwingen Glöckchen mit Fibonacci Spiralmustern. Und er sitzt halt wie ein Kind mit Luftballons am Strand.
Zuerst dachte er, der Gruppenleiter würde ihn veräppeln mit seinen spirituellen Sprüchen über Affirmation und wiedererwachtes kulturelles Erbe. Allerdings genießt der Typ in der community ein hohes Ansehen. Er, Andreas, braucht im Moment jemanden, an den er sich halten kann. Sonst geht er im Alleinsein unter. Er redet sowieso schon viel zu viel mit sich selbst.
Gezieltes Atmen macht irgendwie Sinn. Das bringt mehr Sauerstoff in die Lungen. Aber dann kommt die Sache mit dem einbeinigen Hüpfen. Zum Schluss der Gruppensitzungen hüpfen sie alle einbeinig im Kreis. Er hat nachgefragt und später im Internet nachgeschlagen. Ein keltischer Gott namens Lugh soll auf einem Bein getanzt sein und alle Feinde, sprich Probleme, beseitigt haben. Andreas hat jetzt ein paar Probleme, das stimmt schon. Hüpfen fördert den Gleichgewichtssinn, so sagen sie im Vortrag, es beeinflusst die Ventrikel im Gehirn und so weiter – er muss das glauben.
Die Sache mit dem verschlungenen Dreieck nennen sie Merkaba. Es soll ein schamanisches Fahrzeug für den Aufstieg des Geistes sein. Andreas hat das Symbol und die begleitende Evokation des Meisters von Chinoa immer noch nicht kapiert. Er brabbelt einfach die Laute vor sich hin, die in der Gruppensitzung vorgegeben werden.
Andreas sucht ständig eine logische Brücke. Es gibt tausende, wenn nicht zehntausende von Büchern über die Rituale solcher Meister und über die Macht der Symbole. Neuroästhetik nennt sich dieser Wissenszweig. Die Autoren können nicht alle komplett daneben sein.
Und überhaupt, würde die Menschheit sonst nicht seit Urzeiten solche Riten praktizieren? Die authentischen Massai tanzen und singen doch auch und springen dabei hoch - allerdings auf zwei Beinen. Vielleicht dauert es sehr lange, bis die Rituale wirken. Das wird es sein.
Oder auch nicht? Vielleicht ist es doch alle Humbug?
Am Anfang war dieses Leben schon dufte. Aber seit neuestem kriegt er manchmal eine richtige Wut auf diese Luftballons. „Achte auf deine Gedanken“, so proklamiert dieser Guru-Verschnitt ständig. Zumindest damit hat er recht.
Andreas steht auf und legt sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf das Bett. Wenn er jetzt den Glauben an die Esoterik aufgibt, ja was dann?

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Nebenan wohnt Henna Hanna. Man nennt sie so, weil sie sich Tattoos mit Hennafarbe auf die Oberseite der Füße malt. Alle paar Tage entfernt sie das alte Muster und erfindet neue Motive. Das ist ganz clever im Vergleich zu einem Permanent-Tattoo, findet Andreas.
Hanna ist auch sonst eine interessante Nachbarin. Sie ist immer flüssig. Anscheinend bekommt sie an jedem Ersten eine Überweisung von irgendwoher. Außerdem jobbt sie als saisonale Servicekraft in den umliegenden Hotels. Hanna ist keine schlechte Partie.
Eigentlich hat Andreas im Moment genug von Liaison und Co. Das Desaster mit Karin steckt ihm noch in den Knochen. Darüber muss auch erst einmal Gras wachsen. Dennoch - er darf die Hanna Option nicht aus den Augen verlieren. Hoffentlich dockt sie zwischendurch nicht woanders an. Das wäre Pech.
Apropos Pech. Morgen, bei Sonnenaufgang, muss er den Doppelpack wieder versuchen; wird er wieder versuchen. Luftballon-Konfirmation und Merkaba-Tanz.
Luftballons – er hat die Luftballons am Strand vergessen.
Aufgeregt will Andreas aus dem Haus stürzen. Die Tür ist verschlossen und der Riegel eingerastet. Hastig beseitigt er das Hindernis, öffnet die Tür und rennt zum Strand hinaus.
Gott sei Dank, die Ballons sind noch da. Und bei Hanna geht das Licht an.
 

Wipfel

Mitglied
Hi,

die Geschichte habe ich gern gelesen. Sie ist unterhaltsam, erzählt mir etwas über die Innenwelt des Prot, zeigt mir wie eine kleine Karikatur den Ausriß aus einem Leben. Witzig und ernst zugleich, verschmitzt und mit ganz eigenem Humor. Gut, gut.

Grüße von wipfel
 



 
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