Kerzenschein

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Aligator

Mitglied
„Vorwärts Marsch! Bewegt eure faulen Knochen!“

Wir stapfen durch den eisigen Schnee, die Füße in Lumpen gewickelt. Manche haben nicht mal das. Ab und zu hallt ein Schuss durchs Lager. Wieder hat es einer geschafft, geschafft aus dieser Hölle zu entkommen. Es sind schon Jahre vergangen, wer weiß wie viele?
Sie kommen und sie gehen, genauso wie die Menschen. In Viehwagons gepfercht und wieder entlassen durch das Feuer eines blinden Hasses.
Hier habe gelernt, dass wer die Hoffnung aufgibt, im Graben landet, genauso, wer die Liebe erlöschen lässt.
Deshalb achte ich darauf, dass mir keine meiner Erinnerungen verloren gehen. Sie geben mir Hoffnung auf ein Danach.

Vater geht mit mir spazieren, es ist Sonntag. Die Sonne scheint durchs Blätterdach, als wir die mit Birken gesäumte Allee am Rande des Flusses erreichen. Wir versuchen, Vögel nach ihrem Gesang zu bestimmen.
Da kommt uns ein alter Mann entgegen. Er ist in schmutzige Klamotten gehüllt. Er humpelt, stützt sich auf einen Stock, hat einen ängstlichen Ausdruck im Gesicht.
„Vater, was hat dieser Mann?“, flüstere ich.
„Das Glück hat ihn verlassen“, raunt Vater. Sein Gesicht zeigt Abscheu, als er das sagt.
Mein edler und gerechter Vater! Hat ihn das Glück begünstigt, als sie des nachts kamen und ihm Frau und Tochter nahmen? Als sie ihn aus nächster Nähe gerichtet haben?

Meine Hände sind blau, ich spüre die Finger nicht. Diese Finger, die einst Chopain spielen konnten, sind heute dazu bestimmt, die Schaufel zu halten. Sie sind unter der Kontrolle von denen dort, die mit dem Maschinengewehr regieren.
Da sehe ich sie wieder. Sie kommt aus der Baracke mit den anderen Frauen. Wie wir alle gleicht sie einem mit Haut bespanntem Knochengerüst. Alle Weiblichkeit ist verdorrt, wie eine Lilie ohne Wasser. Aber, sie ist es einfach.
Mir ist egal, wenn ich nichts über sie weiß. Ich habe gehört, sie heißt Hannah. Das reicht mir. Meine Hannah …

„Augen auf den Boden, beweg' dich du Hund!“

Ich spüre die Härte eines Gewehrkolbens in meinem Kreuz. Fast wäre ich gestürzt, fast wäre es zu Ende mit mir gegangen. Nur ein Gedanke hält mich noch fest auf den Stelzen, die einst meine Beine waren: Es ist der Gedanke an ihre Augen, in die ich vor einiger Zeit blicken durfte.
Ich sah sie zufällig im Vorübergehen. Nein, es war wohl eher Fügung, es war Gottes Wille, dass ich hineinblickte. Ich habe mich in ihnen gespiegelt, darin das Bild meiner Leiche betrachtet. Sie lächelte.
Da war es dieses Glück, von dem Vater sprach. Es war die Wirklichkeit des Glücks: unendlich weit, Trost und Geborgenheit spendend.
Langsam erlischt der brennende Schmerz meiner Rippen. Sollen sie mich doch misshandeln, einäschern, in die Winde verstreuen, niemals werden sie es mir wieder nehmen können. Es ist ihnen auch egal. Es zählt nicht.

Ich glaube, es hat sie verstoßen.

Die Gruppe der Frauen bewegt sich in Richtung der Anlage. Ein ständiger Ascheregen hat die Umgebung geschwärzt. Jeder weiß, dass es von dort keinen Ausgang gibt. Aber niemand spricht darüber, als gäbe es ein stillschweigendes Abkommen. Was hätte Reden hier auch für einen Sinn gehabt?
Ich versuche den Gedanken zu verdrängen, sie das letzte Mal gesehen zu haben. Zu was wären meine Augen dann noch nütze, was hätte mein Leben noch für einen Wert?

Vater und ich kommen nach Hause zurück. Es duftet nach frisch gebackenem Kuchen. Meine kleine Schwester sitzt am Esstisch. Freudig steht sie auf, eilt uns entgegen um uns kosten zu lassen. Da stolpert sie und fällt mit samt dem Kuchenstück vor uns hin. Als sie alles auf dem Boden sieht, beginnt sie jämmerlich zu heulen.
Mutter kommt herbeigeeilt und nimmt sie auf den Arm. Sie trocknet ihre Tränen und singt ein altes russisches Wiegenlied. Es handelt von einem Mädchen, das seinen Liebsten verloren hat und ihn unendlich vermisst. Mit gebrochenen Herzen und vor lauer Kummer muss sie sterben. Am Ende treffen sie sich wieder, irgendwo unter einem Baum.
Uns Kinder hat Mutter damit immer getröstet. Sie hat auch erzählt, dass die, die sich lieben, niemals fern voneinander wären.

„Herzen sind Brücken“, hat sie uns gesagt.

Die Gruppe ist nun fast angelangt. Die Tür der Anlage gleicht dem Schlund eines Monsters. Wie sehr ich mir wünsche, dass sie sich jetzt zu mir umdreht und mir ein Zeichen gibt.
Aber wahrscheinlich weiß sie nicht mal, wer ich bin.
Wenn ich nur könnte, würde ich zu ihr hinrennen und sie umarmen, so fest ich nur kann. Mein Leben schenkte ich ihr.
Doch käme wohl nicht mal in ihre Nähe, ohne mit Kugeln vollgepumpt zu werden.
Vielleicht denkt sie jetzt an die Menschen, die sie geliebt hat.
Nein, sie hat bestimmt keine Furcht. Ich merke, wie ich Mutters Lied summe.

Da kann ich nicht mehr an mich halten und schreie so laut ich nur kann:

„Hannah! Ich liebe dich!“

Und sie dreht den Kopf zu mir.
Plötzlich eine Explosion. Flugzeuge donnern über uns. Es herrscht große Aufregung. Als die Menschen durcheinander rennen, denkt jeder nur an sich selbst, nur daran, weiter zu leben. Ich nicht. Ich renne zu ihr, sie streckt mir die Hand entgegen. Wir laufen zum Zaun. Wir springen ab und fliegen. Hand in Hand schweben wir über die Wälder. Uns wird ganz warm. Wir steigen höher und höher. Sie lächelt mir zu. Und ich bin so glücklich.
 

Nosie

Mitglied
Servus Aligator,

Deine Geschichte gefällt mir sehr gut, sie geht unter die Haut. Auch wie du zwischen Jetzt und Erinnerung wechselst, finde ich gut gemacht. Stilistisch bin ich nicht immer ganz einverstanden mit deinen Formulierungen, aber das ist zum Teil auch Geschmackssache.
Bei der Schwere des Themas scheint es mir fast kleinlich, auf Rechtschreibfehlern herumzureiten, trotzdem ein paar Dinge, die mir aufgefallen sind:

Hier habe [blue]ich[/blue] gelernt, dass wer die Hoffnung aufgibt…
…. dass mir keine meiner Erinnerungen verloren geh[red][strike]en[/strike][/red][blue]t[/blue]
….. die einst [red]Chopain[/red] spielen konnten… [blue]Chopin[/blue]
….. vor [red]lauer[/red] Kummer … [blue]lauter[/blue]…..
Doch käme [blue]ich[/blue] wohl nicht mal in ihre Nähe

Einziger logischer Schönheitsfehler, den ich gefunden habe: Wenn der Erzähler am Ende der Geschichte stirbt - so deute ich zumindest deinen Schluss - wirft das immer die Frage auf, wie er denn noch davon erzählen kann. Davon abgesehen ist der Schluss allemal sehr stimmungsvoll.


Liebe Grüße
Nosie
 

Aligator

Mitglied
„Vorwärts Marsch! Bewegt eure faulen Knochen!“

Wir stapfen durch den eisigen Schnee, die Füße in Lumpen gewickelt. Manche haben nicht mal das. Ab und zu hallt ein Schuss durchs Lager. Wieder hat es einer geschafft, geschafft aus dieser Hölle zu entkommen. Es sind schon Jahre vergangen, wer weiß wie viele?
Sie kommen und sie gehen, genauso wie die Menschen. In Viehwagons gepfercht und wieder entlassen durch das Feuer eines blinden Hasses.
Hier habe ich gelernt, dass wer die Hoffnung aufgibt, im Graben landet, genauso, wer die Liebe erlöschen lässt.
Deshalb achte ich darauf, dass mir keine meiner Erinnerungen verloren geht. Sie geben mir Hoffnung auf ein Danach.

Vater geht mit mir spazieren, es ist Sonntag. Die Sonne scheint durchs Blätterdach, als wir die mit Birken gesäumte Allee am Rande des Flusses erreichen. Wir versuchen, Vögel nach ihrem Gesang zu bestimmen.
Da kommt uns ein alter Mann entgegen. Er ist in schmutzige Klamotten gehüllt. Er humpelt, stützt sich auf einen Stock, hat einen ängstlichen Ausdruck im Gesicht.
„Vater, was hat dieser Mann?“, flüstere ich.
„Das Glück hat ihn verlassen“, raunt Vater. Sein Gesicht zeigt Abscheu, als er das sagt.
Mein edler und gerechter Vater! Hat ihn das Glück begünstigt, als sie des nachts kamen und ihm Frau und Tochter nahmen? Als sie ihn aus nächster Nähe gerichtet haben?

Meine Hände sind blau, ich spüre die Finger nicht. Diese Finger, die einst Chopin spielen konnten, sind heute dazu bestimmt, die Schaufel zu halten. Sie sind unter der Kontrolle von denen dort, die mit dem Maschinengewehr regieren.
Da sehe ich sie wieder. Sie kommt aus der Baracke mit den anderen Frauen. Wie wir alle gleicht sie einem mit Haut bespanntem Knochengerüst. Alle Weiblichkeit ist verdorrt, wie eine Lilie ohne Wasser. Aber, sie ist es einfach.
Mir ist egal, wenn ich nichts über sie weiß. Ich habe gehört, sie heißt Hannah. Das reicht mir. Meine Hannah …

„Augen auf den Boden, beweg' dich du Hund!“

Ich spüre die Härte eines Gewehrkolbens in meinem Kreuz. Fast wäre ich gestürzt, fast wäre es zu Ende mit mir gegangen. Nur ein Gedanke hält mich noch fest auf den Stelzen, die einst meine Beine waren: Es ist der Gedanke an ihre Augen, in die ich vor einiger Zeit blicken durfte.
Ich sah sie zufällig im Vorübergehen. Nein, es war wohl eher Fügung, es war Gottes Wille, dass ich hineinblickte. Ich habe mich in ihnen gespiegelt, darin das Bild meiner Leiche betrachtet. Sie lächelte.
Da war es dieses Glück, von dem Vater sprach. Es war die Wirklichkeit des Glücks: unendlich weit, Trost und Geborgenheit spendend.
Langsam erlischt der brennende Schmerz meiner Rippen. Sollen sie mich doch misshandeln, einäschern, in die Winde verstreuen, niemals werden sie es mir wieder nehmen können. Es ist ihnen auch egal. Es zählt nicht.

Ich glaube, es hat sie verstoßen.

Die Gruppe der Frauen bewegt sich in Richtung der Anlage. Ein ständiger Ascheregen hat die Umgebung geschwärzt. Jeder weiß, dass es von dort keinen Ausgang gibt. Aber niemand spricht darüber, als gäbe es ein stillschweigendes Abkommen. Was hätte Reden hier auch für einen Sinn gehabt?
Ich versuche den Gedanken zu verdrängen, sie das letzte Mal gesehen zu haben. Zu was wären meine Augen dann noch nütze, was hätte mein Leben noch für einen Wert?

Vater und ich kommen nach Hause zurück. Es duftet nach frisch gebackenem Kuchen. Meine kleine Schwester sitzt am Esstisch. Freudig steht sie auf, eilt uns entgegen um uns kosten zu lassen. Da stolpert sie und fällt mit samt dem Kuchenstück vor uns hin. Als sie alles auf dem Boden sieht, beginnt sie jämmerlich zu heulen.
Mutter kommt herbeigeeilt und nimmt sie auf den Arm. Sie trocknet ihre Tränen und singt ein altes russisches Wiegenlied. Es handelt von einem Mädchen, das seinen Liebsten verloren hat und ihn unendlich vermisst. Mit gebrochenen Herzen und vor lauter Kummer muss sie sterben. Am Ende treffen sie sich wieder, irgendwo unter einem Baum.
Uns Kinder hat Mutter damit immer getröstet. Sie hat auch erzählt, dass die, die sich lieben, niemals fern voneinander wären.

„Herzen sind Brücken“, hat sie uns gesagt.

Die Gruppe ist nun fast angelangt. Die Tür der Anlage gleicht dem Schlund eines Monsters. Wie sehr ich mir wünsche, dass sie sich jetzt zu mir umdreht und mir ein Zeichen gibt.
Aber wahrscheinlich weiß sie nicht mal, wer ich bin.
Wenn ich nur könnte, würde ich zu ihr hinrennen und sie umarmen, so fest ich nur kann. Mein Leben schenkte ich ihr.
Doch käme ich wohl nicht mal in ihre Nähe, ohne mit Kugeln vollgepumpt zu werden.
Vielleicht denkt sie jetzt an die Menschen, die sie geliebt hat.
Nein, sie hat bestimmt keine Furcht. Ich merke, wie ich Mutters Lied summe.

Da kann ich nicht mehr an mich halten und schreie so laut ich nur kann:

„Hannah! Ich liebe dich!“

Und sie dreht den Kopf zu mir.
Plötzlich eine Explosion. Flugzeuge donnern über uns. Es herrscht große Aufregung. Als die Menschen durcheinander rennen, denkt jeder nur an sich selbst, nur daran, weiter zu leben. Ich nicht. Ich renne zu ihr, sie streckt mir die Hand entgegen. Wir laufen zum Zaun. Wir springen ab und fliegen. Hand in Hand schweben wir über die Wälder. Uns wird ganz warm. Wir steigen höher und höher. Sie lächelt mir zu. Und ich bin so glücklich.
 

Aligator

Mitglied
Hi Nosie!

Freut mich, dass es dir gefallen hat. Danke für deine Verbesserungen. Du hättest gern auch stilistische Vorschläge machen können. Oft brennen sich Sätze geradezu ein und man kann sie als "Autor" nicht mehr objektiv betrachten. Da ist es gut zu wissen, wie sie bei anderen ankommen und noch besser, wenn sich durch die Vorschläge ein neues Ergebnis zusammenmischen kann. Letztendlich ist es doch alles ein Gesamtprozess, ein Geben und Nehmen.
Zum Schluss, auch wenn es als logischer Fehler gesehen werden kann, wenn der Prot aus dem Jenseits erzählt, so wäre es doch schade, wenn alle Toten für immer verstummten und ihre Geschichten mit dem subjektiven Erleben verloren gingen.
Bei einem Krimi beispielsweise, bei denen Tatsachen und Beweise eine tragenden Rolle spielen, wäre es schon daneben, die Leiche sprechen zu lassen.
Aber bei einer Stimme, die da irgendwo aus dem Äther hallt ...

Da werden sich die Argumente wohl die Waage halten.

Danke für dein Feedback!

Grüße,
Aligator
 
U

USch

Gast
Hallo Aligator,
eine aufwühlende Geschichte.
Ein paar redaktionelle Vorschläge, wenn du magst:

Wir stapfen durch den eisigen Schnee, die Füße in Lumpen gewickelt. Manche haben nicht mal das. Ab und zu hallt ein Schuss durchs Lager. Wieder hat es einer geschafft, [strike]geschafft [/strike]aus dieser Hölle zu entkommen. Es sind schon Jahre vergangen,[strike] wer weiß wie viele?[/strike]
Sie kommen und [strike]sie [/strike]gehen, genauso wie die Menschen. In Viehwa[blue]gg[/blue]ons gepfercht und wieder entlassen durch das Feuer eines blinden Hasses.
Hier habe ich gelernt, dass[blue],Komma[/blue] wer die Hoffnung aufgibt, im Graben landet, genauso, wer die Liebe erlöschen lässt.
Deshalb achte ich darauf, dass mir keine meiner Erinnerungen verloren geht. Sie geben mir Hoffnung auf ein Danach.

Vater geht mit mir spazieren, es ist Sonntag. Die Sonne scheint durchs Blätterdach, als wir die mit Birken gesäumte Allee am Rande des Flusses erreichen. Wir versuchen, Vögel nach ihrem Gesang zu bestimmen.
[strike]Da kommt uns ein[/strike]E[blue]in alter Mann kommt uns entgegen.[/blue] Er ist in schmutzige Klamotten gehüllt. Er humpelt, stützt sich auf einen Stock, hat einen ängstlichen Ausdruck im Gesicht.
„Vater, was hat dieser Mann?“, flüstere ich.
„Das Glück hat ihn verlassen“, raunt Vater [blue]mit Abscheu im Gesicht.[/blue][strike] Sein Gesicht zeigt Abscheu, als er das sagt.[/strike]
Mein edler und gerechter Vater! Hat ihn das Glück begünstigt, als sie des nachts kamen und ihm Frau und Tochter nahmen? Als sie ihn aus nächster Nähe gerichtet haben?

Meine Hände sind blau, ich spüre die Finger nicht. Diese Finger, die einst Chopin spielen konnten, sind heute dazu bestimmt, die Schaufel zu halten. Sie sind unter der Kontrolle von denen [strike]dort[/strike], die mit dem Maschinengewehr regieren.
Da sehe ich sie wieder. Sie kommt aus der Baracke mit den anderen Frauen. Wie wir alle gleicht sie einem mit Haut bespanntem Knochengerüst. Alle Weiblichkeit ist verdorrt, wie eine Lilie ohne Wasser. Aber, sie ist es [strike]einfach[/strike].
Mir ist egal, wenn ich nichts über sie weiß. Ich habe gehört, sie heißt Hannah. Das reicht mir. Meine Hannah …

„Augen auf den Boden, beweg' dich du Hund!“

Ich spüre die Härte eines Gewehrkolbens in meinem Kreuz. Fast wäre ich gestürzt, [strike]fast [/strike]wäre es zu Ende mit mir gegangen. Nur ein Gedanke hält mich noch fest auf den Stelzen, die einst meine Beine waren: Es ist der Gedanke an ihre Augen, in die ich vor einiger Zeit blicken durfte.
Ich sah sie zufällig im Vorübergehen. Nein, es war wohl eher Fügung, es war Gottes Wille, dass ich hineinblickte. Ich habe mich in ihnen gespiegelt, darin das Bild meiner Leiche betrachtet. Sie lächelte.
Da war es dieses Glück, von dem Vater sprach. Es war die Wirklichkeit des Glücks: unendlich weit, Trost und Geborgenheit spendend.
Langsam erlischt der brennende Schmerz meiner Rippen. Sollen sie mich doch misshandeln, einäschern, in die Winde verstreuen, niemals werden sie es mir wieder nehmen können. Es ist ihnen auch egal. Es zählt nicht.

Ich glaube, es hat sie verstoßen.
[red]Der Satz hängt für mich in der Luft, oder ich verstehe es nicht[/red]

Die Gruppe der Frauen bewegt sich in Richtung der Anlage. Ein ständiger Ascheregen hat die Umgebung geschwärzt. Jeder weiß, dass es von dort keinen Ausgang gibt. Aber niemand spricht darüber, als gäbe es ein stillschweigendes Abkommen. Was hätte Reden hier auch für einen Sinn gehabt?
Ich versuche den Gedanken zu verdrängen, sie das letzte Mal gesehen zu haben. Zu was wären meine Augen dann noch nütze, was hätte mein Leben noch für einen Wert?

Vater und ich kommen nach Hause [strike]zurück[/strike]. Es duftet nach frisch gebackenem Kuchen. Meine kleine Schwester sitzt am Esstisch. Freudig steht sie auf, eilt uns entgegen[blue],Komma[/blue] um uns kosten zu lassen. [strike]Da [/strike][blue]Sie [/blue]stolpert und [strike]sie [/strike]fällt mit samt dem Kuchenstück [strike]vor uns[/strike] hin.[strike]Als sie alles auf dem Boden sieht, [/strike] [blue]und[/blue]beginnt [strike]sie [/strike]jämmerlich zu heulen.
Mutter kommt herbeigeeilt und nimmt sie auf den Arm, [strike]Sie [/strike]trocknet ihre Tränen und singt ein altes russisches Wiegenlied. Es handelt von einem Mädchen, das seinen Liebsten verloren hat und ihn unendlich vermisst. Mit gebrochene[red]n[/red][blue]m[/blue] Herzen [strike]und vor lauter Kummer[/strike] muss sie sterben. Am Ende treffen sie sich wieder, irgendwo unter einem Baum.
Uns Kinder hat Mutter damit immer getröstet. Sie hat auch erzählt, dass die, die sich lieben, niemals fern voneinander wären.

„Herzen sind Brücken“, hat sie [strike]uns [/strike]gesagt.

Die Gruppe ist nun fast angelangt. Die Tür der Anlage gleicht dem Schlund eines Monsters. Wie sehr ich mir wünsche, dass sie sich jetzt zu mir umdreht und mir ein Zeichen gibt.
Aber wahrscheinlich weiß sie nicht [strike]mal[/strike], wer ich bin.
Wenn ich nur könnte, würde ich zu ihr hinrennen und sie umarmen, so fest ich nur kann. Mein Leben schenkte ich ihr.
Doch käme ich wohl nicht mal in ihre Nähe, ohne mit Kugeln vollgepumpt zu werden.
Vielleicht denkt sie jetzt an die Menschen, die sie geliebt hat.
Nein, sie hat bestimmt keine Furcht. Ich merke, wie ich Mutters Lied summe.

Da kann ich nicht mehr an mich halten und schreie so laut ich nur kann:

„Hannah! Ich liebe dich!“

Und sie dreht den Kopf zu mir.
Plötzlich eine Explosion. Flugzeuge donnern über uns. Es herrscht große Aufregung. Als die Menschen durcheinander rennen, denkt jeder nur an sich selbst, nur daran, weiter zu leben. Ich nicht. Ich renne zu ihr, sie streckt mir die Hand entgegen. Wir laufen zum Zaun. Wir springen ab und fliegen. Hand in Hand schweben wir über die Wälder. Uns wird ganz warm. Wir steigen höher und höher. Sie lächelt mir zu. Und ich bin so glücklich.

Bewertung erfolgt gegebenfalls nach Überarbeitung.
LG USch
 

Aligator

Mitglied
„Vorwärts Marsch! Bewegt eure faulen Knochen!“

Wir stapfen durch den eisigen Schnee, die Füße in Lumpen gewickelt. Manche haben nicht mal das. Ab und zu hallt ein Schuss durchs Lager. Wieder hat es einer geschafft, aus dieser Hölle zu entkommen. Wer weiß, wie viele Jahre es schon vergangen sind?
Sie kommen und sie gehen, genauso wie die Menschen. In Viehwaggons gepfercht und wieder entlassen durch das Feuer eines blinden Hasses.
Hier habe ich gelernt, dass, wer die Hoffnung aufgibt, im Graben landet, genauso, wer die Liebe erlöschen lässt.
Deshalb achte ich darauf, dass mir keine meiner Erinnerungen verloren geht. Sie geben mir Hoffnung auf ein Danach.

Vater geht mit mir spazieren, es ist Sonntag. Die Sonne scheint durchs Blätterdach, als wir die mit Birken gesäumte Allee am Rande des Flusses erreichen. Wir versuchen, Vögel nach ihrem Gesang zu bestimmen.
Ein alter Mann kommt uns entgegen. Er ist in schmutzige Klamotten gehüllt. Er humpelt, stützt sich auf einen Stock, wirkt ängstlich.
„Vater, was hat dieser Mann?“, flüstere ich.
„Das Glück hat ihn verlassen“, raunt Vater voller Abscheu.
Mein edler und gerechter Vater! Hat ihn das Glück begünstigt, als sie des nachts kamen und ihm Frau und Tochter nahmen? Als sie ihn aus nächster Nähe gerichtet haben?

Meine Hände sind blau, ich spüre die Finger nicht. Diese Finger, die einst Chopin spielen konnten, sind heute dazu bestimmt, die Schaufel zu halten. Sie sind unter der Kontrolle von denen, die mit dem Maschinengewehr regieren.
Da sehe ich sie wieder. Sie kommt aus der Baracke mit den anderen Frauen. Wie wir alle gleicht sie einem mit Haut bespanntem Knochengerüst. Alle Weiblichkeit ist verdorrt, wie eine Lilie ohne Wasser. Doch ich weiß, sie ist es.
Auch wenn ich sie nicht kenne. Ich habe gehört, sie heißt Hannah. Das reicht mir. Meine Hannah …

„Augen auf den Boden, beweg' dich du Hund!“

Ich spüre die Härte eines Gewehrkolbens in meinem Kreuz. Fast wäre ich gestürzt. Das wäre mein Ende gewesen. Nur ein Gedanke hält mich noch auf meinen Stelzen: Es ist der Gedanke an ihre Augen, in die ich vor einiger Zeit blicken durfte.
Ich sah sie zufällig im Vorübergehen. Nein, es war wohl eher Fügung, es war Gottes Wille, dass ich hineinblickte. Ich habe mich in ihnen gespiegelt, darin das Bild meiner Leiche betrachtet. Sie lächelte.
Da war es dieses Glück, von dem Vater gesprochen hatte: Unendlich weit, Trost und Geborgenheit spendend.
Sollen sie mich doch misshandeln, einäschern, in die Winde verstreuen, niemals werden sie es mir nehmen können. Es ist ihnen auch egal. Es zählt nicht.

Hat das Glück sie nicht verstoßen?

Die Gruppe der Frauen bewegt sich in Richtung der Anlage. Ein ständiger Ascheregen hat die Umgebung geschwärzt. Jeder weiß, dass es von dort keinen Ausgang gibt. Aber niemand spricht darüber, als gäbe es ein stillschweigendes Abkommen. Was hätte Reden hier auch für einen Sinn gehabt?
Ich versuche den Gedanken zu verdrängen, sie das letzte Mal gesehen zu haben. Zu was wären meine Augen dann noch nütze, was hätte mein Leben noch für einen Wert?

Vater und ich kommen nach Hause zurück. Es duftet nach frisch gebackenem Kuchen. Meine kleine Schwester sitzt am Esstisch. Freudig steht sie auf, eilt uns entgegen, um uns kosten zu lassen. Sie stolpert und fällt mit samt dem Kuchenstück hin. Nach dem Schreck beginnt sie jämmerlich zu heulen.
Mutter kommt herbeigeeilt und nimmt sie auf den Arm. Sie trocknet ihre Tränen und singt ein altes russisches Wiegenlied. Es handelt von einem Mädchen, das seinen Liebsten verloren hat und ihn unendlich vermisst. Sie stirbt am gebrochenen Herzen. Doch am Ende werden sie sich wieder sehen. Unter einem Baum im Garten.
Mutter hat auch erzählt, dass die, die sich lieben, niemals fern voneinander wären.

„Herzen sind Brücken“, hat sie uns gesagt.

Die Gruppe ist nun unmittelbar vor der Verbrennungsanlage. Wie sehr ich mir wünsche, dass sie sich jetzt zu mir umdreht, dass sie mir ein Zeichen gibt.
Aber wahrscheinlich weiß sie nicht mal von mir.
Wenn ich nur könnte, würde ich zu ihr hinrennen und sie umarmen, so fest ich nur kann. Mein Leben schenkte ich ihr.
Doch käme ich wohl nicht mal in ihre Nähe, ohne mit Kugeln vollgepumpt zu werden.
Hannah, du denkst jetzt bestimmt an deine Lieben.
Nein, du hast bestimmt keine Furcht. Leise summe ich Mutters Lied.

Da kann ich nicht mehr an mich halten und schreie so laut ich nur kann:
„Hannah! Ich liebe dich!“
Und sie dreht den Kopf zu mir.

Plötzlich eine Explosion. Flugzeuge donnern über uns. Es herrscht große Aufregung. Menschen renne durcheinander. Jeder denkt nur an sich selbst, versucht weiter zu leben. Ich nicht. Ich renne zu ihr, sie streckt mir die Hand entgegen. Wir laufen zum Zaun. Wir springen ab und fliegen. Hand in Hand schweben wir über den Wäldern. Uns wird ganz warm. Wir steigen höher und höher. Sie lächelt mir zu. Und ich bin so glücklich.
 

Aligator

Mitglied
„Vorwärts Marsch! Bewegt eure faulen Knochen!“

Wir stapfen durch den eisigen Schnee, die Füße in Lumpen gewickelt. Manche haben nicht mal das. Ab und zu hallt ein Schuss durchs Lager. Wieder hat es einer geschafft, aus dieser Hölle zu entkommen. Wer weiß, wie viele Jahre so schon vergangen sind?
Sie kommen und sie gehen, genauso wie die Menschen. In Viehwaggons gepfercht und wieder entlassen durch das Feuer eines blinden Hasses.
Hier habe ich gelernt, dass, wer die Hoffnung aufgibt, im Graben landet, genauso, wer die Liebe erlöschen lässt.
Deshalb achte ich darauf, dass mir keine meiner Erinnerungen verloren geht. Sie geben mir Hoffnung auf ein Danach.

Vater geht mit mir spazieren, es ist Sonntag. Die Sonne scheint durchs Blätterdach, als wir die mit Birken gesäumte Allee am Rande des Flusses erreichen. Wir versuchen, Vögel nach ihrem Gesang zu bestimmen.
Ein alter Mann kommt uns entgegen. Er ist in schmutzige Klamotten gehüllt. Er humpelt, stützt sich auf einen Stock, wirkt ängstlich.
„Vater, was hat dieser Mann?“, flüstere ich.
„Das Glück hat ihn verlassen“, raunt Vater voller Abscheu.
Mein edler und gerechter Vater! Hat ihn etwa das Glück begünstigt, als sie des nachts kamen und ihm Frau und Tochter nahmen? Als sie ihn aus nächster Nähe gerichtet haben?

Meine Hände sind blau, ich spüre die Finger nicht. Diese Finger, die einst Chopin spielen konnten, sind heute dazu bestimmt, die Schaufel zu halten. Sie sind unter der Kontrolle von denen, die mit dem Maschinengewehr regieren.
Da sehe ich sie wieder. Sie kommt aus der Baracke mit den anderen Frauen. Wie wir alle gleicht sie einem mit Haut bespanntem Knochengerüst. Alle Weiblichkeit ist verdorrt, wie eine Lilie ohne Wasser. Doch ich weiß, sie ist es.
Auch wenn ich sie nicht wirklich kenne. Ich habe gehört, sie heißt Hannah. Das reicht mir. Meine Hannah …

„Augen auf den Boden, beweg' dich du Hund!“

Ich spüre die Härte eines Gewehrkolbens in meinem Kreuz. Fast wäre ich gestürzt. Das wäre mein Ende gewesen. Nur ein Gedanke hält mich noch auf meinen Stelzen: Es ist der Gedanke an ihre Augen, in die ich vor einiger Zeit blicken durfte.
Ich sah sie zufällig im Vorübergehen. Nein, es war wohl eher Fügung, es war Gottes Wille, dass ich hineinblickte. Ich habe mich in ihnen gespiegelt, darin das Bild meiner Leiche betrachtet. Sie lächelte.
Da war es dieses Glück, von dem Vater gesprochen hatte: Unendlich weit, Trost und Geborgenheit spendend.
Sollen sie mich doch misshandeln, einäschern, in die Winde verstreuen, niemals werden sie es mir nehmen können. Es ist ihnen auch egal. Es zählt nicht.

Hat das Glück sie nicht verstoßen?

Die Gruppe der Frauen bewegt sich in Richtung der Anlage. Ein ständiger Ascheregen hat die Umgebung geschwärzt. Jeder weiß, dass es von dort keinen Ausgang gibt. Aber niemand spricht darüber, als gäbe es ein stillschweigendes Abkommen. Was hätte Reden hier auch für einen Sinn gehabt?
Ich versuche den Gedanken zu verdrängen, sie das letzte Mal gesehen zu haben. Zu was wären meine Augen dann noch nütze, was hätte mein Leben noch für einen Wert?

Vater und ich kommen nach Hause zurück. Es duftet nach frisch gebackenem Kuchen. Meine kleine Schwester sitzt am Esstisch. Freudig steht sie auf, eilt uns entgegen, um uns kosten zu lassen. Sie stolpert und fällt mit samt dem Kuchenstück hin. Nach dem Schreck beginnt sie jämmerlich zu heulen.
Mutter kommt herbeigeeilt und nimmt sie auf den Arm. Sie trocknet ihre Tränen und singt ein altes russisches Wiegenlied. Es handelt von einem Mädchen, das seinen Liebsten verloren hat und ihn unendlich vermisst. Sie stirbt am gebrochenen Herzen. Doch am Ende werden sie sich wieder sehen. Unter einem Baum im Garten.
Mutter hat auch erzählt, dass die, die sich lieben, niemals fern voneinander wären.

„Herzen sind Brücken“, hat sie uns gesagt.

Die Gruppe ist nun unmittelbar vor der Verbrennungsanlage. Wie sehr ich mir wünsche, dass sie sich jetzt zu mir umdreht, dass sie mir ein Zeichen gibt.
Aber wahrscheinlich weiß sie nicht mal von mir.
Wenn ich nur könnte, würde ich zu ihr hinrennen und sie umarmen, so fest ich nur kann. Mein Leben schenkte ich ihr.
Doch käme ich wohl nicht mal in ihre Nähe, ohne mit Kugeln vollgepumpt zu werden.
Hannah, du denkst jetzt bestimmt an deine Lieben.
Nein, du hast bestimmt keine Furcht. Leise summe ich Mutters Lied.

Da kann ich nicht mehr an mich halten und schreie so laut ich nur kann:
„Hannah! Ich liebe dich!“
Und sie dreht den Kopf zu mir.

Plötzlich eine Explosion. Flugzeuge donnern über uns. Es herrscht große Aufregung. Menschen renne durcheinander. Jeder denkt nur an sich selbst, versucht weiter zu leben. Ich nicht. Ich renne zu ihr, sie streckt mir ihre Hand entgegen. Wir laufen zum Zaun. Wir springen ab und fliegen. Hand in Hand schweben wir über den Wäldern. Uns wird ganz warm. Wir steigen höher und höher. Sie lächelt mir zu. Und ich bin so glücklich.
 

Aligator

Mitglied
„Vorwärts Marsch! Bewegt eure faulen Knochen!“

Wir stapfen durch den eisigen Schnee, die Füße in Lumpen gewickelt. Manche haben nicht mal das. Ab und zu hallt ein Schuss durchs Lager. Wieder hat es einer geschafft, aus dieser Hölle zu entkommen. Wer weiß, wie viele Jahre so schon vergangen sind?
Sie kommen und sie gehen, genauso wie die Menschen. In Viehwaggons gepfercht und wieder entlassen durch das Feuer eines blinden Hasses.
Hier habe ich gelernt, dass, wer die Hoffnung aufgibt, im Graben landet, genauso, wer die Liebe erlöschen lässt.
Deshalb achte ich darauf, dass mir keine meiner Erinnerungen verloren geht. Sie geben mir Hoffnung auf ein Danach.

Vater geht mit mir spazieren, es ist Sonntag. Die Sonne scheint durchs Blätterdach, als wir die mit Birken gesäumte Allee am Rande des Flusses erreichen. Wir versuchen, Vögel nach ihrem Gesang zu bestimmen.
Ein alter Mann kommt uns entgegen. Er ist in schmutzige Klamotten gehüllt. Er humpelt, stützt sich auf einen Stock, wirkt ängstlich.
„Vater, was hat dieser Mann?“, flüstere ich.
„Das Glück hat ihn verlassen“, raunt Vater voller Abscheu.
Mein edler und gerechter Vater! Hat ihn etwa das Glück begünstigt, als sie des nachts kamen und ihm Frau und Tochter nahmen? Als sie ihn aus nächster Nähe gerichtet haben?

Meine Hände sind blau, ich spüre die Finger nicht. Diese Finger, die einst Chopin spielen konnten, sind heute dazu bestimmt, die Schaufel zu halten. Sie sind unter der Kontrolle von denen, die mit dem Maschinengewehr regieren.
Da sehe ich sie wieder. Sie kommt aus der Baracke mit den anderen Frauen. Wie wir alle gleicht sie einem mit Haut bespanntem Knochengerüst. Alle Weiblichkeit ist verdorrt, wie eine Lilie ohne Wasser. Doch ich weiß, sie ist es.
Auch wenn ich sie nicht wirklich kenne. Ich habe gehört, sie heißt Hannah. Das reicht mir. Meine Hannah …

„Augen auf den Boden, beweg' dich du Hund!“

Ich spüre die Härte eines Gewehrkolbens in meinem Kreuz. Fast wäre ich gestürzt. Das wäre mein Ende gewesen. Nur ein Gedanke hält mich noch auf meinen Stelzen: Es ist der Gedanke an ihre Augen, in die ich vor einiger Zeit blicken durfte.
Ich sah sie zufällig im Vorübergehen. Nein, es war wohl eher Fügung, es war Gottes Wille, dass ich hineinblickte. Ich habe mich in ihnen gespiegelt, darin das Bild meiner Leiche betrachtet. Sie lächelte.
Da war es dieses Glück, von dem Vater gesprochen hatte: Unendlich weit, Trost und Geborgenheit spendend.
Sollen sie mich doch misshandeln, einäschern, in die Winde verstreuen, niemals werden sie es mir nehmen können. Es ist ihnen auch egal. Es zählt nicht.

Hat das Glück sie nicht verstoßen?

Die Gruppe der Frauen bewegt sich in Richtung der Anlage. Ein ständiger Ascheregen hat die Umgebung geschwärzt. Jeder weiß, dass es von dort keinen Ausgang gibt. Aber niemand spricht darüber, als gäbe es ein stillschweigendes Abkommen. Was hätte Reden hier auch für einen Sinn gehabt?
Ich versuche den Gedanken zu verdrängen, sie das letzte Mal gesehen zu haben. Zu was wären meine Augen dann noch nütze, was hätte mein Leben noch für einen Wert?

Vater und ich kommen nach Hause zurück. Es duftet nach frisch gebackenem Kuchen. Meine kleine Schwester sitzt am Esstisch. Freudig steht sie auf, eilt uns entgegen, um uns kosten zu lassen. Sie stolpert und fällt mit samt dem Kuchenstück hin. Nach dem Schreck beginnt sie jämmerlich zu heulen.
Mutter kommt herbeigeeilt und nimmt sie auf den Arm. Sie trocknet ihre Tränen und singt ein altes russisches Wiegenlied. Es handelt von einem Mädchen, das seinen Liebsten verloren hat und ihn unendlich vermisst. Sie stirbt am gebrochenen Herzen. Doch am Ende werden sie sich wieder sehen. Unter einem Baum im Garten.
Mutter hat auch erzählt, dass die, die sich lieben, niemals fern voneinander wären.

„Herzen sind Brücken“, hat sie uns gesagt.

Die Gruppe ist nun unmittelbar vor der Verbrennungsanlage. Wie sehr ich mir wünsche, dass sie sich jetzt zu mir umdreht, dass sie mir ein Zeichen gibt.
Aber wahrscheinlich weiß sie nicht mal von mir.
Wenn ich nur könnte, würde ich zu ihr hinrennen und sie umarmen, so fest ich nur kann. Mein Leben schenkte ich ihr.
Doch käme ich wohl nicht mal in ihre Nähe, ohne mit Kugeln vollgepumpt zu werden.
Hannah, du denkst jetzt bestimmt an deine Lieben.
Nein, du hast bestimmt keine Furcht. Leise summe ich Mutters Lied.

Da kann ich nicht mehr an mich halten und schreie so laut ich nur kann:
„Hannah! Ich liebe dich!“
Und sie dreht den Kopf zu mir.

Plötzlich eine Explosion. Flugzeuge donnern über uns. Es herrscht große Aufregung. Menschen rennen umher. Jeder denkt nur an sich selbst, versucht weiter zu leben. Ich nicht. Ich eile zu ihr, sie streckt mir ihre Hand entgegen. Wir laufen zum Zaun. Wir springen ab und fliegen. Hand in Hand schweben wir über den Wäldern. Uns wird ganz warm. Wir steigen höher und höher. Sie lächelt mir zu. Und ich bin so glücklich.
 



 
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