Kindergarten

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Verdammter Abend!
Erst kam Karl zu spät nach Hause und hatte von seiner Frau einen Anschiss erhalten. Dann erhielt er einen Anruf von Hans, der ihn aufforderte, sofort zum Kindergarten zu kommen, um eine undichte Wasserleitung zu reparieren.
Dabei hatte er sich doch das Champions League-Spiel im TV ansehen wollen!
Jetzt konnte er sich verschmierte Wasserrohre oder sonst irgendetwas Bescheuertes betrachten.
Das Leben war hart.

*

Er parkte den Wagen direkt vor dem Kindergartengebäude. Müde stieg er aus, holte seine Werkzeugkiste vom Rücksitz und schlurfte zum Eingang. In seiner Brusttasche fühlte er nach Zigaretten und Feuerzeug - für die Zigarette danach.

Der Wind pfiff um die Hausecken und ließ die restlichen Blätter der Bäume leise durch den Herbstabend rascheln. Rotbunte Blätter tanzten vor seinen Füßen und fingen sich im Eingangsbereich des Kindergartens.

Als ehrenamtlicher Hausmeister der Kirchengemeinde hatte er natürlich einen Schlüssel, mit dem er die Haupttür öffnete. Er betrat den Saal. Aus den verschiedenen Ecken und Regalen schauten ihn allerlei Holzfiguren entgegen: Autos, Puppenhäuser und Marionetten. Alles wirkte aufgeräumt. Die kleinen Stühle und Tische standen ordentlich in Reih und Glied, so dass sie am anderen Morgen von den Kindern wieder wild durcheinander geschoben werden konnten.

Hier kannte er sich aus. Hier war öfters etwas defekt. Mit seinen geschickten Fingern reparierte er die meisten Sachschäden im Nu.
Hans, sein Freund aus dem Kirchenvorstand, hatte ihm diesen Nebenjob verschafft, mit dem er sich ein paar Mark nebenbei verdiente.

Karl schloss die Eingangstür hinter sich. Nicht, dass sich noch unerwünschter Besuch in Form von irgendwelchen Pennern hier ein warmes Plätzchen suchen konnte.

Die undichte Wasserleitung befand sich in der Küche. Hier stand eine alte Spülmaschine, in der ab und an das Frühstücks- und das Mittagsgeschirr gewaschen wurde. Da sie sehr alt war, kam es schon einmal vor, dass Wasser dort ausfloss, wo es eigentlich nicht geschehen durfte.

Den Fehler fand er schnell und er machte sich frisch ans Werk, um ihn zu beheben. Da alles so einfach ging, fing er leise an zu pfeifen. Gute Laune stellte sich ein. Vom Spiel würde er also doch noch den größten Teil mitbekommen.

Erschrocken hielt Karl in seiner Arbeit innen, als er ein klackerndes Geräusch vernahm. Als ob ein Ast gegen ein Fenster schlug. Einige Sekunden verharrte er reglos um zu lauschen. Doch das Geräusch stellte sich nicht mehr ein.

Nach ein paar Handgriffen betrachtete er zufrieden das vollbrachte Werk. Er setzte sich auf den Hosenboden und schaute wohlwollend auf die Spülmaschine.

„Jetzt kann das Wasser wieder dort fließen, wo es fließen soll“, murmelte er grinsend und erhob sich, um sein Werkzeug einzupacken.
Wieder dieses Klackern.

„Ist denn ein Sturm angesagt?“ fragte er sich und trat an das Küchenfenster. Aber draußen bewegten sich die Äste der Bäume nur wiegend im Wind. Von Sturm keine Spur. Eine kleine Brise vielleicht, welche die Blätter verwirbelte.

Achselzuckend ging er zu seinem Werkzeugkasten. Dabei fiel sein Blick auf eine Flasche Brennspiritus.

Er schüttelte den Kopf.

„Diese Kindergärtnerinnen! Pädagogen! Mann, wie können die Mädels nur Brennspiritus hier im Kindergarten aufbewahren. Wenn den Kinder in die Hand bekommen...“

Das war unverantwortlich, fand er. Er packte die Flasche, die fahrlässig auf dem Küchentisch neben einigen Zeitschriften stand und stellte sie auf ein Regal neben der Tür, unerreichbar für ein Kind.

„Denen werde ich morgen ´mal meine Meinung sagen!“

Er fasste den Werkzeugkasten und verließ die Küche, ging durch den kleinen Flur zwischen Küche und Aufenthaltsraum und – starrte auf eine seltsame Szenerie.

Wo eben noch die Tische und Stühle in Reih und Glied gestanden hatten, befand sich ein hoher Turm von Möbeln. Fein säuberlich waren sie aufgeschichtet, der Form nach bildeten sie eine Art Baum.

„In Gottes Namen, was...“ entfuhr es ihm. Vor Schreck ließ er den Werkzeugkasten fallen. Scheppernd krachte dieser auf die Fliesen.

Bevor er sich von der Überraschung erholen konnte, kippte das oberste Möbel herunter. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er dem Stuhl entgegen.

Alles ging sehr schnell. Innerhalb von Sekundenbruchteilen krachte der Turm vollends zusammen.

Schützend hielt er seine Arme vor den Kopf. Aber dennoch trafen ihn die Holzmöbel mit ziemlicher Wucht und begruben ihn fast unter sich. Er stieß einen lauten Schrei aus und stürzte zu Boden.

Stechender Schmerz durchzuckte sein rechtes Knie.

„Scheiße!“ schrie er nur.

Der Krach legte sich und er hockte starr unter dem Berg von Möbeln. Sein Mund stand offen und sein Atem ging schnell.

Es war still. Nur sein Atmen durchschnitt diese Stille.

Ungläubig betrachtete er das Chaos. Was war geschehen? Träumte er? Oder...

Der Schrei über ihm ließ Karl erstarren.

„Haut den Weichmann zu Mus!“

Er riss Kopf in den Nacken und starrte auf - Pinoccio!

Dessen Gesicht war zur Fratze verzerrt. Die lange Nase stach ihm entgegen wie die Lanze eines heranreitenden Ritters.

Bevor er nur einen Gedanken denken konnte krachte ihm die Holzpuppe ins Gesicht. Der Schmerz trieb ihm die Tränen aus den Augen.

Zu seinem Entsetzen verkrallte sich etwas in seinen Haaren und zerrte daran. Sein ganzer Kopf wurde hin und her gerissen.

„Ich mach' dich alle!“ schrie Pinoccio.

Jetzt erst reagierte Karl. Mit beiden Händen packte er die Puppe und riss sie von sich fort. Dabei verlor er ein paar Haare, die in Pinoccios Holzklauen hingen. Weit von sich gestreckt hielt er ihn in Augenhöhe. Er blickte in ein hassverzerrtes Gesicht.

„Arrgggggh!“

Er holte aus und schleuderte die Langnase gegen die nächste Wand. Es schepperte hölzern. Beim Aufprall verlor Pinoccio seine Nase. Sein Schrei ging durch Mark und Bein.

Von wilder Panik ergriffen warf er die Möbel von seinem Bein. Das Knie schmerzte zwar, doch das war jetzt egal. Er musste hier raus. Sofort!

Mühsam kam er hoch und er humpelte in Richtung Ausgang.

Aber, er mochte es nicht fassen: Dort standen drei Marionetten wackelig auf ihren Holzbeinen. Die Holzgesichter vorgestreckt starrten sie ihn an. In den unförmigen angedeuteten Holzhänden hielten sie Holzknüppel. Es waren Stuhlbeine, die abgebrochen worden waren.

„Das träum' ich doch bloß!“ entfuhr es Karl entsetzt.

Rückwärts bewegte er sich in Richtung Küche, den Blick immer auf die drei Marionetten gerichtet, die langsam nach vorne marschierten.

Kalackadilack. Kalackadilack.

Wie in einem Stop Motion Film von Harry Harryhausen stelzten die Figuren voran.

Plötzlich tauchten noch mehr lebende Spielzeuge auf.

Holzautos rollten durch die Halle und Hampelmänner tanzten an der Wand.

Karl fühlte eine eiskalte Hand an seinem Herzen. Kalter Schweiß rann ihm vom Kopf den Körper in wahren Sturzbächen hinunter.

Der Lärm von aufeinander schlagendem Holz dröhnte immer lauter in seinen Ohren. Ein irrer Schmerz raste durch seinen Kopf. Meine Migräne, dachte er entsetzt.

Er musste hier heraus. Heraus aus dem Albtraum! Und dies konnte nur ein Traum sein. Nur ein Traum.

Er versuchte die Küche zu erreichen.

Da stand ihm Pinoccio im Weg. Mit seiner abgebrochenen Nase sah er eigentlich recht lustig aus, doch der Schraubenzieher in seiner rechten Hand machte aus ihm einen mörderischen Zwerg.

Er hatte die Werkzeugkiste aufgemacht und sich eine Waffe besorgt.

„Ich stech' dich ab, du Wichser!“ erklang es tief aus seiner hölzernen Kehle.

Karls Augen vergrößerten sich sichtlich. Er fühlte sich einer Ohnmacht nahe.

Nein, nein, nein!

Er sah nur noch Pinoccio auf sich zulaufen, den Schraubendreher zum Stoß erhoben. In wilder Verzweiflung holte er mit seinem angeschlagenen Bein aus und trat nach dem Holzmonster.
Etwas durchbohrte seine Wade. Im gleichen Augenblick sah er Pinoccio erneut davonfliegen. In hohem Bogen zog die Holzfigur ihre Flugbahn und krachte geben ein Holzauto. Im Flug trennte sich Pinoccios Kopf vom Körper und krachte gegen eine Deckenleuchte.

Karl lachte grimmig auf.

In seinem schon verletzten Bein steckte der Schraubenzieher. Er hatte die Wade glatt durchbohrt.

Bevor er sich weiter Gedanken um seinen Zustand machen konnte, hörte er von hinten die Marionetten.

Er wankte zur Küche. Hinter ihm tobte ein krachendes Inferno. Holzgeschepper überall.
Hörten denn die Anwohner des Kindergartens nichts?

Verdammt, dachte Karl, wenn es drauf ankommt, ist kein Nachbar zu sehen.

Er erreichte die Küche und schlug die Tür hinter sich zu. Gerade rechtzeitig, denn die drei Marionetten stießen mit voller Wucht dagegen. Bevor er die Tür gänzlich schließen konnte, verfing sich ein Arm zwischen Rahmen und Türblatt. Er wackelte und kreiste wild.

Karl drückte energisch gegen die Tür und der Arm brach ab. Mit einem satten „Klack“ schloss sich die Tür.

Schwer atmend starrte Karl auf den abgetrennten Arm, wie das Kaninchen auf die Schlange.

Plötzlich erbebte die Tür in der Zarge. Mörderischer Druck lastete vom Flur her. So als ob eine Horde Elefanten dagegen rennen würde.

Karl stemmte sich dagegen. Die Anstrengung und der Schmerz im Bein trieben ihm ganze Wasserbäche aus den Augen.

Am anderen Ende der Küche erblickte er das Fenster.

Da musste er hin. Es aufreißen. Rausspringen. Fortlaufen. Gerettet sein!

Putz bröckelte auf seinen Kopf.

Diese Holzbestien brachen doch glatt die Zarge aus der Wand!

Er wollte nicht sterben! Nein!
Und so schon gar nicht!

*

Oh, wie er sie liebte!

Diese Kindergärtnerinnen, diese Pädagoginnen. Ja er liebte sie alle.

Sein irrer Blick saugte sich fest an der Brennspiritusflasche im Regal neben er Tür, in der eine liebliche, göttliche Flüssigkeit schwamm.

Mit einer Hand griff er danach, öffnete den Verschluss, sprang von der Tür weg, die bedrohlich wankte und verspritzte den Brennstoff.

Die Tür brach oben links aus der Zarge. Wildes Gejaule aus holzigen Kehlen ließ Karl erschauern.

Er spritzte der Rest durch diese Öffnung.

Dann riss er sein Feuerzeug aus der Brusttasche, packte ein Stück Papier vom Küchentisch und entzündete es. Er warf es auf die feuchte Tür, die sofort Feuer fing. Er riss weitere Blätter heraus und zündete sie alle an.

Zu guter Letzt zündete er den Haufen Papier auf dem Tisch selber an und warf die Brennspiritusflasche darauf.

Der Tisch hatte sich nämlich bewegt.

Die Tür stand in hellen Flammen, als der Türrahmen aus der Wand brach.

Holzmonster standen im Rahmen, teilweise in Flammen gehüllt, die dankbar das trockene Holz fraßen.

Die lebenden Hölzer schrieen gequält.

Qualm durchzog den Raum.

„Wir zerquetschen dich!“ schrie der Kopf von Pinoccio, der zwischen brennenden Holzbeinen und –rädern in die Küche rollte.

Karl packte sich den nächsten Stuhl (der aus Metall bestand) und warf ihn ins Küchenfenster. Die Scheibe zersplitterte.

Er humpelte zum Fenster und brach die restlichen Scheibenreste heraus.

Hinter ihm dröhnte das Chaos. Die Flammen verrichteten ganze Arbeit. Sie fanden Fressen ohne Ende.

Dieser eigentlich harmlose Spiritus musste für die Horrorhölzer tödlich sein, denn sie brannten sofort lichterloh, kamen sie auch nur in die Nähe einer Flamme.

Das war Karls Glück.

Mühsam zog er sich durch den Fensterrahmen. Glasreste schnitten in sein Fleisch.

Draußen empfing in eine frische Brise, die sein heißes Gesicht kühlte.

„Gleich hab' ich's...“

Ein Ruck zerriss fast seinen Körper.
Er kam nicht weiter. Etwas hatte sich an seinem linken Bein verkrallt. Und es war verdammt heiß am Bein.

„Nein!!!“ schrie er und packte mit beiden Händen einen dicken Ast des Baumes, der vor dem Küchenfenster im Sommer Schatten spendete.

Mit letzter Kraftanstrengung zog er sich langsam aus dem Fenster. Der Griff am Bein lockerte sich, aber das Feuer fraß sich durch den Stoff seiner Hose.

Er plumpste regelrecht aus dem Fenster.
Dabei verstauchte er sich so ziemlich alle Knochen.
Egal.

Wie eine Schlange robbte er durch den Rindenmulch eines Beetes. Nach einige Metern verharrte er und schlug die Flammen auf seiner Hose aus.

Schwer atmend hockte er im Abendlicht und starrte auf das flammende Inferno, welches einmal ein Kindergartengebäude gewesen war.

Dann umschloss ihn eine gnädige Ohnmacht.


*

Aus den Tiefen eines grausigen Traumes schälte sich Karl an die Oberfläche des Lebens.
Da war Schmerz. Überall.
Und diese Holzfiguren.
Rauschen durchwummerte seine Gehörgänge und erst nach ewig langer Zeit, wie ihm schien, klarte die Geräuschkulisse auf.

Er schlug die Augen auf und sah blaurot flackerndes Licht.

„Feuerwehr,“ entfuhr es ihm krächzend.

Er hockte auf einer Bahre auf der Ladefläche eines Fahrzeuges.
Ein Krankenwagen.

Vor der Tür nahm er nur schemenhaft Figuren wahr.
Sie redeten miteinander.

„Ein Feuerteufel!“
„Eher ein Unfall, würde ich sagen. Der Mann ist verletzt!“
„Verletzt. Komische Verletzungen für einen Brandleger! Mit einem Schraubenzieher in der Wade...“
„Ein Verrückter. Faselte etwas von lebenden Holzpuppen und laufenden Tischen oder so.“
„Hat ein paar Beulen am Kopf. Wahrscheinlich deswegen!“
„Naja, zu Haloween kann man sich schon etwas zusammenreimen, oder?“

Die Figuren lachten meckernd und entfernten sich vom Fahrzeug.

Karl schüttelte ungläubig der Kopf.

Das war doch kein Traum! Kein Haloween-Scherz. Er war wirklich verletzt. Und diese Holzfiguren... Aber nein, das musste er sich wirklich eingebildet haben.

„Hey, Alter!“

Karl durchfuhr es wie bei einem Blitzeinschlag.

Er starrte in Richtung der Stimme. Sein Blick fiel seitlich neben die Bahre.

Pinoccios Kopf grinste ihn an. Spitze Holzzähne wurden in einem runden Maul sichtbar.

„Ich beiß’ dir die Eier ab!“ schrie der Kopf und sprang auf die Bahre.

Karl stieß einen markerschütternden Schrei aus...


ENDE

09-11/01
 
Spannend ist die Geschichte, nur etwas hölzern geschrieben. Und leider erfahren wir nicht, woher die Puppen kommen, welches ihre Motivation ist.

Aber vielleicht kommt noch etwas?
 



 
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