Kinderschutz ist wichtiger als Tierschutz?

Mittägliche Ruhe lag wie ein Schleier über den vier Personen im Wohnzimmer. Der Großvater genoß den Ausblick auf die Terrasse und den dahinterliegenden Garten. Das Klappern der Stricknadeln in den Händen der Frau des Hauses klang wie eine sanft einschläfernde Melodie. Nur das Knistern der Zeitung durchbrach ab und zu die Stille.
„Horch mal!“ beendete Holger die Idylle und las aus der Zeitung vor: „‘Seit der Einführung des neuen Tierschutzgesetzes am 01.06.1998 können Tierhalter mit Ordnungsstrafen belegt werden, wenn sie ihre Tiere vernachlässigen. Niemand darf aus vernünftigem Grund einem Tier Schmerz zufügen. Was vernünftig ist, ist jedoch Auslegungssache. Jemand, der seinen Hund verhungern läßt, ihn mißhandelt, aussetzt oder lebenslang an die Kette legt, riskiert höchstens ein Bußgeld. Der Versuch, ein Tier zu mißhandeln oder gar zu töten, ist nicht strafbar!‘ Ist das nicht mal wieder ...“
„Ja, ja, typisch Gesetzgebung!“, meinte seine Mutter und ließ die Stricknadeln in den Schoß sinken. „Die sollten mal richtig durchgreifen und nicht immer nur halbe Sachen veranlassen! Und als allererstes sollten die mal was wirksames für die Kinder tun. Schließlich sind sie die Gesellschaft von morgen! Diese Woche hat eine Kollegin bei ‘nem Kind lauter blaue Flecke entdeckt, der ganze Rücken voller Striemen, furchtbar! Die Mutter meinte nur, ihr Sohn wäre vom Klettergerüst gefallen. Da muß einer mit erhobener Faust drunter gestanden haben, auf den er drauffiel!“
„Für Kinder wird ja wohl ausreichend getan.“, gähnte Onkel Klaus. „Das zeigt ja schon die Wachstumsrate! 6.000.000.000 Menschen bevölkern bereits den kleinen Planeten. Sie nehmen den Tieren ihren Lebensraum und ihre Rechte – vor allem das Recht auf Leben!“
„Kinder in die Welt setzen und erziehen sind ja wohl zwei völlig verschiedene Sachen!“, entrüstete sich die Mutter. „Du willst wohl Leute ungestraft davonkommen lassen, die ihre Kinder mißhandeln und mißbrauchen?! Letzte Woche haben sie erst einen Bericht im Fernsehen gezeigt, da hat eine Mutter ihr Kind verhungern lassen, das muß man sich mal vorstellen!“
„Das sind doch von der Presse aufgebauschte Sensationsberichte. Tiere werden massenhaft auf grausame Weise hingerichtet in den Schlachthöfen! Da kräht kein Hahn nach.“
Opa wandte sich von seiner Beobachtung eines würmerpickenden Vogels lächelnd dem Onkel Klaus zu: „Gott sagte: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet euch untertan und herrschet über die ...“
„Ach komm Opa – den alten Schinken vergiß mal ganz schnell. Reiner Speziesismus! Meinst wohl, nur das menschliche Leben sei heilig! Was sind denn das für Heilige, die sich gegenseitig beklauen und abknallen und auch sonst alles Leben ausrotten, wie es ihnen in den Kram paßt?!“
Die Mutter hievte sich seufzend aus dem Sessel und verschwand in der Küche. Man hörte Geschirr klappern und die Kaffeemaschine laufen.
„Tiere fressen auch andere Tiere. Warum soll ich darauf verzichten, Fleisch zu essen?“, sagte Holger. „Tiere haben kein moralisches Empfinden wie wir Menschen,“ erwiderte Onkel Klaus, „man kann sie also nicht dafür verantwortlich machen. Aber man kann Menschen zur Verantwortung ziehen, die Tiere töten und in Versuchlabors foltern.“
Den Blick gebannt auf die Katze gerichtet, die gerade mit einer zu Tode geängstigten Maus spielte, meinte Opa: „Aristoteles sagte: ‚Da die Natur nichts ohne Sinn oder vergeblich tut, ist es unleugbar wahr, daß sie alle Tiere zum Wohl des Menschen geschaffen hat.‘ Was ist ein Tierversuch, wenn dadurch Tausende von Menschen gerettet werden können?!“
„Opa – Du hast keine Ahnung! Tss, ein Tierversuch!? Millionen, Opa, Millionen! Die gesamte Medizin mit ihren Mittelchen gegen Krankheiten und Seuchen wäre undenkbar ohne all diese Tieropfer! Mit der hochgelobten modernen Medizin werden Schwangerschaften ausgetragen, die noch vor wenigen Jahren als Fehl- und Totgeburten endeten!“
„Na dann zurück ins Mittelalter mit seiner hohen Säuglingssterberate und dem massenhaften Sterben an Seuchen! Verbrennen wir die Forschungsergebnisse und zertrümmern die fortschrittliche Technik und die Leute, die ohne sie nicht leben würden gleich mit!“, rief Holger gespielt euphorisch.
Die Katze zerbiß mit einem Knacken das Genick der Maus. Opa warf einen funkelnden Blick hinüber zu Onkel Klaus: „Dann gute Nacht, mein Sohn, ohne Brutkasten gäbe es Dich nämlich auch nicht!“ Er sah die Mutter aus der Küche lukend im Türrahmen stehen und fügte hinzu: „Nur dem Menschen hauchte Gott seinen Odem ein. Den Hauch, der uns leben und den Funken, der uns denken läßt. Deshalb können wir uns Wissen erschließen aus Forschungen – die Tiere nicht.“
‚Hat ja kein Zweck mit dem zu diskutieren!‘, dachte Onkel Klaus und schwieg.
Dafür meldete sich die Mutter zu Wort: „Genau! Der Mensch steht nicht nur an der Spitze der Nahrungskette, sondern auch der geistigen Fähigkeiten. Gerade deshalb müssen wir dafür sorgen, daß aus Gedankenlosigkeit und Egoismus sinnloses Leid ...“
„Meine Rede!“, brummte Onkel Klaus. Ein düsterer Blick von Mutter ließ ihn sofort wieder verstummen.
„... und sinnlose Zerstörung entsteht. Also müssen wir zuerst die Kinder schützen vor Gewalt und Mißbrauch, daß sie ohne Angst und zerschundener Seele aufwachsen können. Erlittenes Leid wird weitergegeben, immer von Stärkeren zum Schwächeren. Diese Kette muß durchbrochen werden mit Liebe. Dann werden die Menschen der Zukunft ihre Umwelt auch mit Liebe behandeln!“
„Aber ...“ warf Holger ein.
„Schluß jetzt! Der Kaffee ist fertig und der Kuchen, den ich mit viel Liebe gebacken habe, wartet schon auf euch!“
Die Katze schlich durch die offene Terrassentür ins Wohnzimmer, sah prüfend zu Opa hinauf und sprang mit einem Satz auf seinen Schoß. Der Großvater kraulte sie lächelnd, während sie sich schnurrend zum Verdauungsschlaf zurechtrekelte.
 



 
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