Kindheit

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Kindheit
Ich bin sehr nervös, weil ich nicht weiß wie ich ihn vorfinden werde. Die ganzen Erlebnisse in seinem Zimmer spielen sich automatisch wie ein Film ab. Ich hoffe ich werde sie schnell vergessen, auch wenn ich eigentlich schon weiß, dass ich sie nie vergessen werde...
Ich nähere mich seinem Zimmer und bin erleichtert das keine Schreie zu hören sind. Das Gefühl der Erleichterung verändert sich schlagartig in herzzerreißendes Mitleid...
Die Kinder draußen haben große Pause, ich kann ihr fröhliches Plappern und Kreischen durch das gekippte Fenster hören. Es ist wirklich harte Ironie, dass sie ihm dieses Zimmer gaben. Doch vermutlich wollten sie ihn einfach in den hintersten Teil des Korridors stecken...
Ganz leise setze ich mich an sein Bett. Ich bin um eine Sorge erleichtert, er schläft. Tief durchatmen! Damit ich ihn mit meiner aufgewühlten Unruhe nicht anstecke. Zwar wird es nicht so gerne gesehen, aber ich bleibe ein paar Minuten, auch wenn mir fünfzehn Minuten in diesem Raum wie eine kleine Ewigkeit vorkommen. Er wird schließlich nur von mir besucht. Seine Eltern beschuldigen sich nur noch gegenseitig, die Mutter konnte einfach nicht mehr damit leben...
Mein Blick wandert durch das kahle Zimmer, ich versuche es zu vermeiden ihn anzusehen. Es ist so extrem wie sie ihn hier behandeln. Als wäre er gar kein Mensch mehr. Man hat ihm alle Rechte genommen. Doch ich schiebe auch diese Gedanken beiseite, verdränge sie, darüber kann ich den Rest meines Lebens grübeln...
Das Bett wirkt so riesig mit seinen abgemagerten Armen und Beinen darin. Seine Handgelenke liegen jetzt schlaff in den Lederriemen, die ihn ans Bettgestell fixieren. Wie einer, der den Kampf aufgegeben hat. Sie mussten ihn festbinden hatten sie mir gesagt. Er hatte nach Pflegern getreten und seine Kanülen, Infusions- und Beatmungsschläuche selbst gezogen. Hatte sich tiefe Wunden gekratzt, die genäht werden mussten. Hatte sich sogar einen Arm gebrochen, als er bei einem epileptischen Anfall wild um sich schlug. Wie ein Tier wird er behandelt. Ein Tier das man einsperrt. Ob er es merkt? Merkt er das ihn nie einer besucht? Das sich keiner Interessiert? Das er für alle anderen nur eine Last ist?
Das regelmäßige Piepsen der Monitore reißt mich aus meinen Gedanken. Erst jetzt fällt mir auf, dass wir uns gegenseitig anstarren. Er hat so einen gequälten Gesichtsausdruck und seine blauen, großen Kinderaugen scheinen mich Warum zu fragen. Warum ich? Warum werde ich hier festgebunden? Warum lassen sie mich nicht einfach liegen? Warum?
Sein Bein zuckt, ich berühre es sanft und versuche Wärme und Ruhe auszustrahlen. Ich weiß nicht, ob er etwas von der Berührung mitbekommt und ob sie nicht seine Spastik verstärkt, aber ich folge meinem Instinkt...
Es wird Zeit zu gehen. Er wird niemals laufen. Niemals spielen. Vermutlich sogar niemals das Krankenhaus verlassen. Ich verstecke die Gedanken in den hintersten Teil meines Gehirns. Ich drehe mich um, mein Leben geht weiter...
 



 
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