Kinza

Inge Anna

Mitglied
Gitta Heimers hatte ihre Hände noch längst nicht in den Schoß legen wollen, leider jedoch - ausgerechnet an ihrem 75. Geburtstag - erlitt sie einen schweren Schlaganfall, dessen unbeugsame Härte die Zukunft dieser warmherzigen Frau zerstörte. Das Schicksal hatte für sein grausames Walten jenen feierlichen Augenblick gewählt, als der Jubilarin ein prächtiger Rosenstrauß überreicht wurde, den sie glücklich lächelnd in Empfang nahm. Sie bedankte sich in bewegenden Worten, als jäh ihre Stimme versagte, der Strauß ihren Händen entglitt und sie kraftlos neben den Blumen niedersank.

Der sofort herbeigerufene Notarztwagen kam unverzüglich und brachte die Besinnungslose in das nächstliegende Krankenhaus. Im Nebenzimmer des Festlokals unterhielten sich die besorgten Gäste gedämpft. Man wartete bedrückt auf Lianes Rückkehr, die noch bei ihrer Mutter im Krankenhaus weilte und - wie jeder hier hoffte, mit keiner allzu schlechten Nachricht von dort zurückkommen möge.

"Endstation Pflegeheim", täuschte ich mich oder hatte wirklich jemand aus der Runde diese bitteren Worte ausgesprochen? Und plötzlich musste ich an Kinza denken, Gittas schwarz-weißen vierbeinigen Schützling. Sie hatte das Kätzchen aus dem Tierheim geholt und ihm bei sich ein neues, behagliches Zuhause geschenkt. Kinza war ein wichtiger Teil ihres Lebens geworden. Und nun würde das so liebevoll umhegte brave Tierchen vielleicht lange - sehr lange auf Frauchen warten müssen. Würde Liane sich um das Kätzchen kümmern? Ihr Mann mochte Tiere nicht im Hause dulden. Walter war ein Rüpel und Gittas Entsetzen war groß, als sie einmal nicht hatte verhindern können, dass er der lebhaften Kinza ungehalten einen heftigen Fußtritt versetzte und diese sich kläglich maunzend verkroch. Liane war inzwischen mit nichts Erfreulichem aus dem Krankenhaus zurückgekehrt; die Mutter sei rechtsseitig gelähmt und das Sprechen bereite ihr große Mühe. Sie sorge sich trotz allem sehr um Kinza und deren künftige Betreuung. "Ab mit ihr ins Tierheim, von dort ist sie ja schließlich auch hergekommen; man könnte sie auch einschläfern lassen, aber das kostet Geld. Mir würde da schon was einfallen und das Katzenproblem wäre gelöst", meinte Walter. "Kinza kann fürs erste bei mir leben. Wir mögen uns und wir werden uns bestens vertragen", schaltete ich mich ein. Walter grinste hämisch, wandte aber nichts ein. Liane ging am Abend dieses traurigen Tages mit mir in Gittas Wohnung, und ich nahm die etwas verängstigte Kinza mit zu mir.

Ich lernte Gitta Heimers einen Tag vor Heiligabend kennen. Damals arbeitete ich als Helferin in Dr. Hilbigs Tierarztpraxis. Die Frau war mir auf den ersten Blick sympathisch. Die Art, wie sie beruhigend auf ihren kleinen Liebling einsprach und ihm die Angst zu nehmen suchte, berührte warm mein Herz. Weihnachten stand vor der Tür und hatte wohl ganz leise, aber dennoch vernehmlich angeklopft. So erfuhr ich, dass sie in Kinza ihr schönstes Weihnachtsgeschenk sah. "Ich habe sie vorgestern aus dem Tierheim zu mir nach Hause geholt. Wir beide werden es uns über die Festtage so richtig gemütlich machen. Meine Tochter mag die Feiertage ja lieber im Ausland verbringen." Letzteres sagte sie mit belegter Stimme, denn die Last der Enttäuschung wog schwer. Sacht strich meine Hand über Kinzas seidiges Fell. Es gab keinen Grund zur Besorgnis. Dr. Hilbig zeigte sich sehr zufrieden und nach der Untersuchung gab's für die brave Patientin ein leckeres Häppchen.

Frau Heimers kam seitdem des öfteren zu uns in die Praxis, denn die Gesundheit ihres Katzenkindes war ihr wichtig. Gitta und Kinza wuchsen mir von Tag zu Tag näher ans Herz. Wir besuchten einander, wann immer dies möglich war. Die wohltuende Atmosphäre ihrer sehr geschmackvoll eingerichteten kleinen Wohnung mochte ich nicht mehr missen. Vertrauen schuf die Festung einer wunderbaren Freundschaft. Und eines Abends tat Gitta sehr geheimnisvoll. Sie überreichte mir freudestrahlend ein in buntes Seidenpapier gehülltes Päckchen. "Warte noch, Anna, öffne es später - als Betthupferl", stoppte sie mich. Sie hatte jedoch meine Neugier geweckt und so trat ich früher als sonst den Heimweg an. Die Überraschung war gelungen. Ich hielt ein Büchlein in Händen - Gitta Heimers - "Das Glück heißt Kinza". Ich drückte das Bändchen mit feuchten Augen an mich. Bis tief in die Nacht hinein las ich Gittas beeindruckende Aufzeichnungen und fühlte mich mit jeder Zeile der Verfasserin noch enger verbunden.

Ihren 75. Geburtstag wollte Gitta im Kreise von etwa 30 Gästen feiern. Es sollte das Fest der Feste werden, und so stellten wir ein buntes Programm zusammen, das diesem besonderen Tag auch die besondere Note geben sollte und alles wäre zweifellos bestens gelaufen, wenn, ja wenn des Geschickes Mächte sich nicht störend eingemischt hätten.

Gitta ging es zusehens schlechter. Ich besuchte sie täglich. Das Sprechen verlangte ihr höchste Anstrengung ab. An einem Mittwoch - es war der 10. Juli - hatte ich bei meinem Besuch das Gefühl, dass eine leichte Besserung eingetreten war. Das Sprechen schien sie weit weniger anzustrengen als bisher. Sie gewährte mir an diesem Spätnachmittag Einblick in den Teil ihres Lebens, den sie stets streng verborgen gehalten hatte. So verging die Zeit schnell und ich musste ans Heimgehen denken. "Anna, ich habe eine große Bitte. Bring' doch bei deinem nächsten Besuch Kinza mit; es wird sich doch sicher einrichten lassen." Ich versprach es ihr, all meine Bedenken beiseite schiebend, dass sich dem Herzenswunsche meiner schwerkranken Freundin ein unüberwindbares Hindernis entgegenstellen könnte. Ich drückte zur Bekräftigung des gegebenen Versprechens fest ihre Hand und verließ leise das Krankenzimmer. Gegen halb elf schrillte das Telefon. Lianes Stimme klang traurig und fern. Gitta hatte uns am späten Abend dieses Julitages für immer verlassen. Ich stand wie erstarrt, und da plötzlich ließ mich ein langgezogenes wehes Wimmern bis ins Mark erschauern. War dieser Schmerzenslaut Kinzas Abschiedsgruß? Spürte das anhängliche Geschöpfchen die Endgültigkeit dieser Trennung? Später lag sie auf einem weichen Kissen neben mir, ganz still lag sie und duldete meine reichlich fließenden Tränen in ihrem dichten Fell.

Heute ist es draußen bitterkalt; doch hier drinnen haben wir's mollig warm. Kinza hat es sich auf meinem Schoß bequem gemacht. Im Schein dreier Kerzen suchen meine Gedanken den Weg zu dir. Gestern gab es den ersten Schnee. Kinza fand den Tanz der vielen weißen Flöckchen äußerst aufregend. Jetzt kuschelt sie sich näher an mich und schnurrt sich in den Schlaf. Ja, Gitta, das Glück heißt Kinza - und morgen ist Heiligabend.
 

Zefira

Mitglied
Liebe Inge Anna,
das ist eine sehr schöne Erzählung - wirklich aus dem Leben gegriffen! Ich habe sie sehr gerne gelesen!
Vielleicht ein paar Tips zum Stil: Die Wucht des Schicksalsschlages, den Du im ersten Teil beschreibst, käme noch besser zur Geltung, wenn Du hin und wieder ein Absätzchen einschalten würdest, vor allem hinter
>... und sie kraftlos neben den Blumen niedersank. <
Hier braucht man eine Atempause, um sich die Szene richtig vorzustellen.
Auch vor "Endstation Pflegeheim" würde ich einen Absatz machen und schließlich auch vor
>Liane war inzwischen mit nichts Erfreulichem aus dem Krankenhaus zurückgekehrt;<

Dann Walters Verhalten - polarisierst Du da nicht ein bißchen zu sehr? Viele Leute mögen keine Tiere im Haus haben, das ist eine Sache; aber das arme Tier gleich einschläfern lassen zu wollen, wo doch zu diesem Zeitpunnkt durchaus noch Hoffnung besteht, daß die Patientin irgendwann wieder nach Hause kann - das ist mehr als herzlos. Ich hätte dem Kerl eine gelangt. Das solltest Du vielleicht doch ein wenig entschärfen...

>Gitta und Kinza wuchsen mir von Tag zu Tag näher ans Herz. Die wohltuende Atmosphäre ihrer sehr geschmackvoll eingerichteten kleinen Wohnung mochte ich nicht mehr missen.<
Hier ist ein kleiner Bruch - vielleicht wäre ein Satz dazwischen "Hin und wieder besuchten wir einander" o.ä. angebracht.

Ja, und hier schließlich bin ich mächtig gestolpert:
>Sie gewährte mir an diesem Spätnachmittag Einblick in den Teil ihres Lebens, den sie stets streng verborgen gehalten hatte.<
Das klingt ja, als hätte die Dame eine Leiche im Keller! Entweder solltest Du hier genauer werden - oder die dunkle Andeutung ganz weglassen und nur etwa schreiben, daß sie der Erzählerin mit großem Vertrauen vieles aus ihrem Leben erzählte. Vielleicht litt sie unter der Lieblosigkeit ihres Schwiegersohnes? Ein leichtes Desinteresse der Tochter ist ja weiter vorne auch schon mal angedeutet, iim Zusammenhang mit Weihnachten...


Sind aber alles keine großen Sachen; mir gefällt die Geschichte sehr, so liebevoll und einfühlsam geschrieben!

Herzliche Grüße
Zefira
 



 
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