Kira oder Ordnung muss sein

Buffy

Mitglied
Kira
Ordnung muss sein
© 2001 by KW


Es war ungewöhnlich ruhig in dem Klassenzimmer. Die Kleinen schauten ängstlich
fragend auf die Großen.
Zwei Klassenzimmer besaß die kleine Dorfschule, so dass jeweils vier Jahrgänge
zusammen in einem Raum, unterrichtet wurden.
Das verlief nicht immer problemlos, denn die Jungen im Dorf waren zahlenmäßig im Vorteil. Aber an diesem Tage blieb der übliche Tumult aus. Die älteren Jungen standen in einer Ecke, redeten aufgeregt, geheimnisvoll, ja ungewöhnlich leise miteinander. Während die Mädchen bereits brav, aber nachdenklich auf ihren Holzbänken saßen.
Punkt acht Uhr öffnete sich die Klassentür und der Lehrer betrat den Raum.
„Guten Morgen Kinder.“
Die Jungen stoben auseinander und nahmen schnell ihre Plätze ein.


Kira zuckte zusammen. Sie war jetzt im zweiten Schuljahr und saß in einer der
vorderen Bankreihen. Als der Lehrer zu seinem Pult ging, wippte die Spitze seines Rohrstocks leicht, fast spielerisch an seinem Hosenbein.
Kira spürte, wie der Schweiß aus ihren Poren drang, verlegen rieb sie die nassen
Handflächen an ihrem Kleidchen trocken. Sie hatte das Gefühl eine überreife, matschige Tomate zu sein. So eine, wie Kira sie im Garten von Oma gesehen hatte, wenn Oma diese nicht rechtzeitig gepflückt hatte. Opa musste ihr ganz genau erklären, warum Tomaten matschig sind, aber Opa sagte nur, „hat Oma wieder nicht gepflückt“.
Kira befürchtete tot umzufallen, wenn sie sich jetzt mit den anderen Kindern erheben musste, um den Lehrer zu begrüßen. Sie hasste die Schule wie der Teufel das
Weihwasser. Opa benutzte diesen Ausdruck immer, wenn jemand ihn fragte, ob Kira denn auch gern zur Schule ginge. Aber es schien nichts Schlimmes zu sein, denn der Opa lachte dabei immer laut und zwinkerte Kira dabei zu, wenn diese in der Nähe war.


Bereits vom ersten Schultag an hatte Kira eine instinktive Abneigung ihrem
Klassenlehrer gegenüber gehabt. Sie schämte sich deshalb sehr und versuchte diese
Ablehnung zu verstecken. Aber es gelang ihr nicht.
Kira wusste genau, dass es nicht allein an dem Rohrstock lag, obwohl sie ihn fasst
täglich zu spüren bekam.
Kira hatte einfach nur Angst, vor dem Lehrer, der Schule, sogar Angst vor den
Mitschülern.

Die Spannung im Klassenraum wurde unerträglich. Kira spürte die geladene
Atmosphäre körperlich. Vorsichtig und unauffällig versuchte sie im Gesicht des Lehrers zu lesen. Was genau wusste sie nicht, aber sie suchte.
Es ist etwas schreckliches passiert, der Gedanke durchzuckte sie. Kira wurde ganz übel bei diesem Gedanken, und sie bekam Bauchschmerzen. Instinktiv begriff sie, dass
dieses Schreckliche auch etwas mit ihr zu tun hatte.

Während Kira mit gesenktem Haupt hinter ihrer Großmutter zurück zum Haus ging, dachte sie an die vergangenen Tage.


Sie dachte an den Morgen in der Schulklasse. Als der Lehrer ihr sagte, sie müsse zum Direktor gehen. Als der Direktor ihr sagte, sie sei ein sehr, sehr böses Mädchen. Kira sei eine Diebin. Sie solle die Tat zugeben. Lügen sei zwecklos. Es gäbe einen Zeugen. Sie sei bereits praktisch des Diebstahls überführt.
Daran, dass der Direktor ihr auch an diesem Morgen sagte, sie dürfe so lange nicht mehr in die Schule kommen, bis die Polizei die Sache endgültig geklärt habe.
Kira dachte daran, dass sie dem Direktor gesagt hatte, sie sei keine Diebin. Doch der Direktor war einfach zu böse mit ihr, ließ sie gar nicht zu Wort kommen und hörte ihr überhaupt nicht zu.
Kira erinnerte sich daran, wie sehr sie erschrak, als der Direktor ihr sagte, Vincent habe einen epileptischen Anfall bekommen und dabei seine Mittäterschaft zugegeben. Vincent hatte auch gesagt, das es allein die Idee von Kira gewesen sei. Er wollte zuerst überhaupt nicht, aber Kira habe ihm einfach keine Ruhe gelassen.
Außerdem hatte der Direktor gesagt, dass nicht nur die Tat an sich abscheulich sei. Nein, sie habe auch noch unschuldige Opfer angestiftet bei so einer Greultat
mitzumachen. Eine Anstifterin allein sei schon eine Schande für sich. Dann sagte der Direktor noch, Kira solle ihren Schulranzen nehmen und unverzüglich die Schule
verlassen.
Kira wusste nicht was eine Anstifterin ist, aber wenn der Direktor es sagte, würde es wohl stimmen. Sie hatte noch die kalte unpersönliche Stimme des Schuldirektors in den Ohren, als sie zurück in den Klassenraum ging.
Keiner hatte sie zum Direktor gebracht und keiner war da, der sie zurück begleitete.
Als sie den Klassenraum betrat verstummten die getuschelten Gespräche. Alle
Augenpaare waren unverfroren auf sie gerichtet und starrten sie an. Kira erfasste die Stimmung sofort. Die Luft war geschwängert von Schadenfreude, offene und versteckte Feindschaft, ja so gar Wut und Hass.
Lieber Gott, flehte Kira, bitte, bitte lass mich sterben. Aber der liebe Gott wollte auch keine Diebin, keine Anstifterin, denn sie starb nicht. So ging sie mit gesenktem Haupt zu ihrem Sitzplatz, nahm ihren Ranzen und verließ die Schule.



II
© 2003by KW


Auf dem Weg nach Hause versuchte Kira zu verstehen, aber sie konnte es nicht. Opa wird es mir erklären, dachte sie. Opa weiß alles. Opa weiß auch, dass ich kein böses Mädchen bin. Dieser Gedanke tröstete sie etwas, und automatisch lief sie schneller. Sie wusste, der Opa würde sie beschützen.
Vor dem Haus in dem Kira mit ihren Großeltern lebte, stand ein grünes Auto mit einer großen Schrift darauf. Autos waren in dem Dorf noch sehr selten und das grüne Auto daher eine Sensation. Die kleinen Kinder, die noch nicht zur Schule mussten, bestaunten das grüne Wunderwerk. Als Kira sich langsam dem Auto näherte, schauten die kleinen Kinder sie neugierig, ja, fasst böse an. Polizei? Polizei schoss es ihr durch dem Kopf. Was will die Polizei denn hier?
Kira blieb wie angewurzelt stehen. Sie zitterte vor Angst. Instinktiv suchten ihre Augen nach einem Fluchtweg. Nur weg, nur weg von hier, dröhnte es in ihren Ohren. Doch sie konnte sich nicht bewegen. So starrte auf das grüne Auto mit den großen, weißen
Buchstaben, die zusammen das Wort Polizei bildeten.
Kira sah wie die Oma aus der Tür gelaufen kam, spürte, dass sie an die Hand
genommen wurde und dann war da nur noch Nebel. Weis-grauer Nebel. Weich,
gedämpft, sanft und zart. Sie fühlte sich wie in Watte gebettet.

Kira sah sich um. Sie stand in der Küche. Die Oma saß auf dem Küchenstuhl und weinte bitterlich. Einen Zipfel ihrer Küchenschürze in der Hand. Ab und zu wischte sie sich die Tränen damit ab. Der Polizist stellte Kira Fragen. Sie antwortete, aber was sie gefragt wurde, registrierte sie nicht. Sie hörte wie der Opa mit dem Polizisten diskutierte, aber sie verstand nichts. Kira’s Blick blieb auf den Tränen ihrer weinenden Oma hängen. Sie hatte noch nie gesehen, dass Erwachsene weinen.

Kira hatte sich im Garten des Nachbarn versteckt. Ganz klein wie ein Häschen kauerte sie unter einem Johannisbeerstrauch. Er stand zwischen zwei Stachelbeersträuchern und alle drei zusammen, ergaben ein gutes Versteck. Die Früchte waren zum Teil schon reif. Ab und zu naschte Kira mal hier, mal dort, aber heute schmeckten die Beeren ihr nicht besonders. Sie halfen nur, ihren trockenen Mund zu befeuchten.
Oh Gott, wenn man mich findet, komme ich dann in ein Erziehungsheim? In das
Gefängnis oder gar in ein Waisenhaus? Kira’s Gedanken sprangen im Fünfeck. Sie sah sich in Ketten. Sah sich auf einer einsamen Insel verbannt. Sah sich in einem großen Raum mit vielen andern bösen Kindern, die keiner mehr haben wollte.
Kira spürte wie sie wütend wurde. Langsam stieg eine ohnmächtige Wut von ganz tief unten, da wo der Bauch ist, nach oben. Zuerst zaghaft warm, dann stärker werdend. Als ihr Kopf sich ganz heiß anfühlte richtete Kira sich vorsichtig auf. Vergessen war, dass sie sich ja versteckt hatte um nicht gefunden zu werden. Jetzt blitzen ihre Augen voller Empörung und mit lauter Stimme: „Sperrt mich ruhig ein. Komme ich eben ins
Gefängnis. Na und? Ist mir doch egal. Ich weiß, dass ich nicht böse bin. Der Opa weiß es auch, nur Oma macht sich Sorgen, schüttelt immer fassungslos den Kopf“. Kira
schüttelte sich jetzt auch. Die Angst ließ nach, Trotz machte sich breit und sie wurde mutiger. Entschlossen stand sie auf und blickte direkt in die traurigsten Augen die Kira je bei ihrer Oma gesehen hatte.

Trotz und Mut verschwanden, als wären sie nie gewesen und nackte Angst ergriff von Kira Besitz. Um den traurigen Blicken ihrer Großmutter auszuweichen senkte sie
verlegen und schuldbewusst den Kopf. Wo war das berühmte Mauseloch in das sie sich verkriechen konnte. Aber wahrscheinlich hatten die Mäuse gar keine Löcher, denn die kamen immer nachts in Kira’s kleines Zimmer und nagten an den Bilderbüchern. Sie dachte plötzlich an den alten Kater, den der Opa „Ex König Faruk“ getauft hatte, der war schon so alt und fett, dass er sogar Angst vor Mäusen hatte. Kira hatte ihn nämlich mal nachts mit in ihr Bett genommen. Doch als dann die Mäuse kamen, sprang Opa’s Ex König einfach aus dem offenen Fenster. Seitdem ließ er sich auch nicht mehr
streicheln. Blöder Kater, dachte Kira.
Oma’s traurige, fasst tonlose Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Komm Kind, die Frau von der Führsorge ist da. Wir wollen sie nicht so lange warten lassen“.
Brav, den Blick auf den Boden gerichtet, mit Herzklopfen und Wackelpuddingbeinen, folgte Kira der Großmutter in die Küche. Sie war traurig. Oma hatte sie noch nicht
einmal an die Hand genommen.
Als sie die Küche betraten, versteckte Kira sich hinter dem breiten Rücken ihrer
Großmutter. Sie hörte eine fremde Stimme fragen, ist das die Kleine?
Sie fühlte die Hand ihrer Oma, als diese nach hinten griff und Kira energisch nach
vorne zog. „Ja, hier ist das Kind, das ist Kira“ antwortete die Großmutter. Kira hörte die Tränen in der Stimme ihrer Oma.
Etwas in der Stimme der fremden Tante ließ Kira aufblicken und sie schaute forschend, aber auch etwas herausfordernd, die Frau an, die auf dem Stuhl ihres Opa’s saß.
Sie sah eine große, hagere Frau. Ihre grauen Haare, hatte sie streng nach hinten
gekämmt und zu einem dicken Dutt zusammengesteckt. Eine so dicke Hornbrille auf
einer so langen Nase, dachte Kira. Das graue Kostüm mit der weißen Bluse, sowie die abgenutzte Aktentasche auf den Knien der Fremden, erfasste Kira mit einem Blick.
Die ist gar nicht böse, die tut nur so. Ihr war zumute, als ob sie einen Blick durch das graue Kostüm, durch die weiße Bluse und direkt in das Herz der Frau geschaut hätte. Sie atmete tief durch. Erleichtert ging sie auf die Fremde zu, gab ihr die Hand und machte einen Knicks. Die Frau versuchte Kira streng anzusehen, aber dann lächelte sie doch. Sie legte die Aktentasche auf den Küchentisch, hob Kira hoch, setzte sie auf ihren Schoß und bat sie, ihr, einer Fremden die ganze Geschichte doch einmal zu erzählen.
Die Geschichte, die ein ganzes Dorf, die Zeitungsleute aus der Kreisstadt, ja sogar die Polizei auf den Plan gerufen hatte.
Und Kira begann zu erzählen und je mehr sie erzählte, desto leichter wurde ihr Herz.



III
©2003 by KW

Kira hatte sich im Kornfeld versteckt. Das Korn stand schon so hoch, dass man sie nicht sehen konnte. Wenn sie die Halme auseinander bog, konnte Kira den schmalen
Sandweg, der vom Dorf zum kleinen Friedhof führte, gut sehen. Kira hatte sich diesen Platz ausgesucht, weil sie die Beerdigung der kleinen Schwester ihres Mitschülers sehen wollte. Kira liebte Beerdigungen. Die schwarzen Pferde mit dem silberfarbenen
Zaumzeug, der Trauerwagen, tiefschwarz, mit den schönen Holzschnitzereien. Die Menschen die ruhig und festlich, in schwarz gekleidet, hinter dem Wagen gingen. Das
Gemurmel, das neugierig machte und die vielen Blumen.
Anfangs ging Kira einfach zwischen den festlich, in schwarz gekleideten Dorfbewohnern mit auf den Friedhof. Aber in bunten Spielkleidern sollte man nicht auf den Friedhof
gehen, hatte der Pfarrer gesagt. Das schickt sich nicht. Jedenfalls nicht, wenn jemand zu Grabe getragen wurde. Dabei war der Pfarrer auch bunt angezogen. Aber nur der katholische, der evangelische nicht. Kira fragte sich immer, warum man bei
Beerdigungen Schwarz tragen sollte, Blumen waren doch auch nicht schwarz.
Kira wartete. Die Glocken haben noch nicht geläutet, dachte sie. Das dauert noch was.
Sie wusste dass bei Beerdigungen immer Glocken läuteten. So als wollten die sagen, nun beeilt euch mal ein bisschen, wir gehen jetzt.
Kira war sehr viel allein, fast immer allein, aber jetzt wünschte sie sich, dass jemand bei ihr wäre. Ich habe keine Angst, überhaupt keine Angst, dachte sie. Doch sie wusste, dass es nicht stimmte. Sollte sie nicht doch besser nach Hause gehen, der Gedanke war da, doch die Neugier und das Geschehen der letzten Tage verboten es ihr.
Sie setzte sich im Schneidersitz auf den feuchten schweren Lehmboden, stützte ihren Kopf mit den Händen ab und überlegte, was in den vergangenen Tagen denn nun
wirklich geschehen war.
Etwas ist anders geworden, ich rieche es. Etwas, dass ich spüre und dass mich sehr
traurig macht.

*

An jenem Tag, als der Lehrer von dem Unglücksfall des kleinen Mädchens erzählte, stand Kira in den Pausen allein auf dem Schulhof. Sie war es gewöhnt allein zwischen den anderen Kindern zu stehen, aber jetzt stand sie außerhalb. Es war, als ob eine
unsichtbare Mauer, sie von den Anderen trennte.


Die Mitteilung des Lehrers war kurz und teilnahmslos gewesen. Seine Stimme hatte sich nicht verändert. In Kira's Ohren war zwischen „Guten Morgen, Kinder und „ich habe euch die traurige Mitteilung, zu machen“ kein Unterschied. Für sie klang es wie eine ganz normale Mitteilung, eine Erklärung dafür, warum der Mitschüler die nächsten
Tage nicht zum Unterricht kommen würde. Auch die Worte, „wer wolle, könne mit auf die Beerdigung gehen,“ klang für Kira, als ob der Lehrer sagte, deine Hausaufgabe hat eine 5 verdient. Nein! Sie mochte diesen Lehrer überhaupt nicht.
Aber auch ihre Klassenkameraden zeigten keinerlei Gefühle. Sie brannten darauf, alle Einzelheiten des Unglücks haargenau zu erfahren.
Wie heiß das Wasser gewesen ist? Wie alt das Mädchen war? Wo der Vater? Wo die Mutter? Wo der Schüler? Wie groß die Wanne gewesen ist? Wie konnte so ein kleines Mädchen, in so eine hohe Wanne fallen? Das niemand die Schreie gehört hat? Und noch viele andere Fragen.
Der Lehrer unterbrach die Flut der Fragen kurz und bündig. „Einzelheiten sind nicht bekannt, Schluss jetzt“.
Kira dachte die ganze Zeit daran, das keiner den Namen des Mitschülers aussprach und auch seine Schwester keinen Namen hatte. Sie wusste auch nicht den Namen des kleinen Mädchens und sie war traurig darüber. Das Wort Tod machte Kira immer traurig. Egal wer tot war. Kira dachte an das Karnickel, das sie das ganze Jahr fütterte, das von ihr einen Namen bekam und das dann zu Weihnachten geschlachtet wurde. Jedes neue Karnickel erinnerte sie an Weihnachten. Wenn der Opa Zwei hatte, dann dachte sie auch an Ostern. Kira fütterte die Karnickel immer traurig, aber die hatten alle einen Namen.


Kira spürte die Blicke der anderen Kinder, die in Gruppen auf dem Schulhof standen und heftig aufeinander einredeten. Normalerweise stand sie auch in einer
Mädchengruppe ihres Alters, aber heute stand sie abseits. Sonst hatte man die
Anwesenheit von Kira stillschweigend akzeptiert, jetzt schickte man sie fort. Man wollte sie nicht in der Nähe haben. Kira war verunsichert und ratlos. Sie stellte sich in eine Ecke des Schulhofes und schaute sehnsüchtig zu den anderen Kindern. Sie hätte gern gewusst, was sie so redeten. Sie bemerkte, das die Jungen sehr viel lauter sprachen, als die Mädchen. Die tuschelten geheimnisvoll und leise. Kira spürte die Blicke körperlich, die man ihr zuwarf. Doch es waren keine freundlichen Blicke und sie fragte sich,
warum? Tränen kullerten von ganz allein die Wangen herunter und Kira spürte den Salzgeschmack auf ihrer Zunge, wenn sie eine dieser Tränen mit der Zunge erreichte. Unglücklich, schuldig und unsagbar allein fühlte sie sich. Es war ihr zumute, als ob man eine unsichtbare Mauer um sie errichtet hätte. Eine Mauer, die auch der Lehrer sehen musste, denn er ging an Kira einfach vorbei, ohne sie anzuschauen. Der Gedanke an ihren Opa kam. Ja, den musste sie fragen. Der würde ihr auch sagen, was sie denn böses getan hatte. Opa hilft mir, dachte sie, wenn er nicht böse auf mich ist. Die Tränen
wurden weniger, aber ihr Herz weinte weiter.
Was Kira nicht wusste, war, an der unsichtbaren Mauer wurde noch gebaut. Die Steine dafür lagen schon griffbereit.

*

Die Glocken hatten noch nicht begonnen zu läuten. Kira machte es sich im Kornfeld
bequem, sie legte sich auf den Rücken und schaute den Schäfchenwolken zu. Sie
versuchte herauszufinden, was die Wolken so auf dem Himmel malten. Tiere Berge
Seen, Bäume und manchmal sogar Gesichter. Kira hatte auch schon bekannte Gesichter gesehen. Meistens an der Nase. Das ist bestimmt ein großer Bär und jetzt kommt ein Wal, dachte sie. Kira fiel die Geschichte von "Robby und Robbin" ein. Es war ihr
Lieblingsbuch. Sie kannte die Geschichte auswendig, aber der Opa musste sie ihr jeden Tag neu vorlesen. Wenn Opa das speckige, abgegriffene, fleckige alte Buch aus der Schublade nahm, wusste Kira, jetzt darf ich auf seinen Schoß, darf meine Wange an
seinen rauen Bartstoppeln reiben, bis meine Wangen feuerrot und ganz warm sind. Manchmal rieb sie ihre Wangen so lange, das diese vor Schmerzen regelrecht brannten. Dann aber holte sie tief Luft und nahm den Geruch der Geborgenheit auf. Wermut, Knoblauch, kalter Tabak und Zahlfäulnis.
Wenn ich Glück habe dachte Kira, dann malen die Wolken auch Robby und Robbin, oder der Wal wird sich verändern. Vielleicht wird dann eine Robbe daraus.

Kira hörte Wagenräder. Erstaunt erhob sie sich und späte durch die Halme, die sie
vorsichtig auseinander schob. Ach so, dachte sie, ist ja nur ein Bauer mit dem
Leiterwagen. Glocken hatte sie noch keine gehört. Sie versuchte zu erkennen, welcher Bauer es war. Sie kannte alle Bauern des Dorfes. Deshalb wusste sie auch, welche Felder, zu welchen Bauern gehörten.

Diesen Bauern auf dem Leiterwagen kannte Kira aber nicht. Auch hatte sie noch nie
einen Bauern im schwarzen Anzug gesehen. Als der Wagen mit dem braunen Pferd sich näherte, erkannte Kira in der Mitte der drei erwachsenen Personen ihren
Schulkameraden. Kira war überrascht ihn zu sehen. Heute war doch die Beerdigung. Sie wartete doch schon auf die schwarzen Pferde. Die Glocken hatten auch nicht
geläutet. Ihr Mitschüler war noch nicht einmal festlich gekleidet. Die Kleidung der drei Personen war nicht bunt, aber sie waren auch nicht schwarz wie Kira erkennen konnte. Ob das seine Eltern sind, fragte sie sich. Jetzt sah sie auch die kleine helle Holzkiste, die auf dem Leiterwagen stand. Sie sah die blanken Nägel in der Sonne blitzen. Kira schloss schnell ihre Augen. Ich habe zu lange in der Sonne gelegen, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hatte sehr oft schwarze Punkte oder schwarze Fischchen vor den Augen. Die bewegten sich so schnell das es ihr nie gelang, mit den Gedanken eines zu fangen. Erst wenn sie die Augen fest zumachte und dann ganz langsam und vorsichtig öffnete,
verschwanden die Fischchen. Ganz rund waren sie nicht. Eher länglich rund und schnell. Wie die Fische im Zoo, die Kira gesehen hatte. In dem kleinen Bassin mit der Glasscheibe, durch die man die kleinen Fische sehen konnte, wie sie schnell hin und her und kreuz und quer schwammen.
Kira wagte es nicht ihre Augen zu öffnen. Sie hörte wie der Leiterwagen an ihr vorbei fuhr. Sie konnte das Pferd riechen. Hörte ganz leises Gemurmel und wartete darauf, dass der Pferdewagen an der weißen Friedhofsmauer zum stehen kam.
Als es still war, stand Kira vorsichtig auf und blinzelte. Dann machte die Augen ganz weit auf und schaute auf den Leiterwagen und auf das braune Pferd. Sie sah, wie der
eine Mann die winzig kleine Holzkiste von Wagen hob. Das ist bestimmt der Vater, dachte Kira und in der Kiste ist das kleine Baby. Kira zitterte vor Kälte als sie sah, wie der andere Mann zwei Schaufeln vom Wagen holte und alle Vier auf den Friedhof
gingen.
In Kira stieg ein Gefühl auf, das sie erzittern ließ und sie wünschte, sie wäre an der
Stelle des toten Babys.
Jetzt begann sie zu verstehen, zwar noch nicht ganz richtig, aber in ihrem Kopf entstand ein Bild. Ein Bild, dass sie niemals vergessen sollte.


IV
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Kira betrat an der Hand ihres neuen Schuldirektors, die neue Klasse, in der neuen Schule. Jetzt war sie also in einer großen Stadt. Großstadt, sagte die fremde Frau. Man hatte sie einfach weggeschickt. Man wollte sie nicht mehr haben. Oma und Opa hatten sie nicht mehr lieb.
Ihr war ganz schlecht vor Angst. Der Magen tat ihr weh. Der Kopf schmerzte. Sie spürte das Pochen hinter den Schläfen. Schämte sich, weil ihre Hand in der Hand des Direktors nass wie ein Waschlappen war. Ihre Beine zitterten. Jetzt sterbe ich, wie ein Aufblitzen kam ihr der Gedanke. So ist es also, wenn man stirbt. Panik überfiel sie und verzweifelt rang nach Luft. Sie hörte in der Ferne eine fremde Stimme, aber sie nahm nicht wahr, dass diese Stimme zu ihr sprach. Ihre Augen, weit aufgerissen, suchten nach einen Fluchtweg. Die Hand, die ihre Hand hielt, wurde kräftiger, so als wollte sie Kira sagen, du bist gefangen, wehre dich nicht, es hat keinen Zweck.
Es hat keinen Zweck. Es hat keinen Zweck, wie eine Melodie tanzten diese Worte durch ihren Kopf. Es hat keinen Zweck. Kira sackte in sich zusammen und sie ließ mutlos den Kopf hängen. Jetzt nahm sie auch die Stimmen wahr und verstand, dass man über sie sprach. Sie schloss ihre Augen und versuchte die Atmosphäre zu spüren. Das tat Kira öfters. Wenn sie sich in die Enge getrieben fühlte, schloss sie einfach nur ihre Augen und fühlte. Wie die Käfer mit den Fühlern, die sie so oft beobachtete. Hatten diese Fühler ein Hindernis wahrgenommen, verweilten sie kurz, um zu überlegen, was sie jetzt machen sollten. Hatten sie sich entschieden, dann kletterten sie entweder über den kleinen Zweig, oder sie gingen um ihn herum. Schnitt Kira ihnen dann mit einem anderen Zweig oder Blatt den Weg ab, versuchten sie es mit einem Umweg. Manchmal zogen sie sich auch, indem sie rückwärts gingen, aus der vermeintlichen Gefahr. Meistens jedoch nahm Kira das Hindernis vorher weg. Dann freute sie sich, wenn sie sah, dass der Käfer schnell weglief. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie sei der Käfer. Sie spürte direkt die Anstrengung auf der Suche nach einem Ausweg, eine unaussprechliche Erleichterung, wenn die Hindernisse aus dem Weg geräumt waren. Kira war erstaunt, das sie manchmal sogar ein tonloses danke in ihrem Herzen hörte. Dann sagte Kira laut zu dem Käfer, gern geschehen und noch viel Spaß.
Das Sprechen zu den Tieren, Bäumen, Blumen, Wolken, der Sonne und dem Mond, den Sternen, die sie vergeblich versuchte zu zählen, war für Kira selbstverständlich. Es war ganz einfach so. Sie hatte beobachtet, dass die Erwachsenen nur den Kopf schüttelten, oder verständnislos lächelten, wenn Kira laut und doch allein, mit sich sprach Wenn man sie nach dem, warum, fragte, dann sagte sie nur, weiß nicht.
Sie wusste es wirklich nicht.

Mit geschlossenen Augen an der Hand des neuen Direktors nahm Kira das Gefühl auf, das um sie herum entstanden war. Neugier, Abschätzung, Verachtung und Desinteresse.
Aber da war auch ein neues Gefühl. Kira versuchte es einzuordnen, aber sie kannte es nicht. Was kann das sein, fragte sie sich und öffnete vorsichtig ihre Augen. Sie schaute sich in ihrer neuen Klasse um, sah in fremde Mädchengesichter. Suchte nach Jungen, stellte fest es waren keine Jungen da. Suchte nach den Holzbänken mit den angeschraubten Schreibpulten, stellte wieder fest es waren keine da. Ihr Blick fiel auf die großen Fenster, die eine ganze Seite des lang gestreckten hohen Klassenzimmers
einnahmen. Es waren vier, wie sie feststellte. Kira war sprachlos, denn die Fenster
waren so groß, wie das ganze Klassenzimmer in der Dorfschule, und so hoch. Kira schaute nach oben zur Decke. Nie zuvor kam sie sich so klein vor. So groß ist die Schule, dachte Kira. Mein Gott, so groß und so viele Mädchen. Sie hatte noch nie so viele, gleichaltrige Mädchen, auf einmal gesehen.


Kira dachte an ihren ersten Schultag in der Dorfschule. Da hatte sie auch Angst, aber die Oma hatte ihr eine große spitze bunte Papptüte geschenkt, die voller Süßigkeiten war. Sie hatte die Oma ganz erstaunt und ungläubig angeschaut. Sonst bekam sie nur zu Ostern oder Weihnachten Süßes zum Naschen. Ach ja, beinahe hätte sie noch den
Nikolaus und ihren Geburtstag vergessen, aber da gab es ja auch nicht so viel. Diese
große Schultüte, das war ein Wunder. Doch dann sah sie vor der Schule noch einige Kinder stehen, die auch eine Wundertüte hatten. Das große Wunder wurde etwas
kleiner, denn die anderen waren sogar noch größer und bunter, als ihre eigene, das
hatte sie sofort gesehen. Aber Kira war deshalb nicht traurig, Süßigkeiten hatten Kira noch nie traurig gemacht.
Kira kannte alle Kinder im Dorf vom sehen. Sie wusste wo sie wohnten, welche
Geschwister hatten, welcher Hof groß und welche Bauernhöfe klein waren. Auch an den Wundertüten konnte Kira das erkennen, aber das galt ja nicht. Sie wusste schon,
kleinere Schultüten konnte auch was mit Geschwister zu tun haben. So wie mit den Kleidern, die Oma bis spät in die Nacht hinein für die Kinder ändern musste. Passend machen, nannte Oma das. Manchmal waren die Kleider aber schon zu alt, um passend gemacht zu werden, dann trennte die Oma die Kleider auf und verwahrte die guten Stoffreste im Schrank. Wenn sie genug beisammen hatte, nähte die Oma für Kira ein neues Kleidchen. Jetzt wo du in die Schule gehst, sagte die Oma, musst du besonders gut auf die Kleider aufpassen. Kira versprach es, aber was die Schule mit den neuen
Kleidchen zu tun hatte, verstand sie nicht.

Kira bemerkte an der Hand ihrer Oma den Jungen der Abseits stand. Er war allein. Kein Erwachsener stand bei ihm. Er war klein und zierlich, fast zu dünn für einen
Jungen, fand Kira. Jedenfalls waren alle Jungen die Kira kannte stämmig und groß.
Seine Haare waren länger als die der anderen Jungen und fast schwarz. Seine Haut war dunkler und in den großen braunen Augen war so etwas wie Stolz zu erkennen. Kira hatte so einen Blick schon bei Opa gesehen, aber der hatte keine braunen Augen. In braunen Augen sah Stolz viel weicher aus, fand sie. Seine Kleider waren sauber aber alt und dünn, fast so wie meine dachte Kira und sie fühlte sich sofort zu ihm hingezogen. Sie hatte den Jungen zwar schon mal gesehen, auch wusste sie, das er außerhalb des Dorfes in einem kleinen Häuschen wohnte, aber mehr wusste sie nicht. Die Oma und auch der Opa hatten ihr verboten, sich so weit vom Dorf zu entfernen. Das Verbot kam ihr überflüssig vor, denn es war für sie ja sowieso zu weit und dann war da ja noch das Moor. Der Opa hatte ihr viele spannende Geschichten über das Moor erzählt. Über Geister, Gespenster, Trolle und böse Gestalten, die kleine Mädchen vom trockenen Weg abbringen und die dann vom Moor in die Tiefe gezogen wurden. Als Kira daraufhin den Opa ungläubig angeblickt hatte, sagte er nur, das man jedes Jahr einige Tote aus dem Moor herausgeholt hat. Immer, wenn Kira an das Moor dachte, gruselte ihr. Jetzt sah den Jungen, der sogar am Rand des Moores wohnte. Ob der sich auch fürchtet, fragte sie sich, aber seine Augen waren furchtlos. Warum hat der Junge keine Wundertüte, fragte Kira die Oma. Kein Geld, antwortete die Oma kurz. Kira wollte noch mehr
fragen, aber sie wusste, die Oma hatte es nicht gern, wenn sie Fragen stellte. Sie schwieg und schaute sich um. Die Erwachsen standen mit ihren Kindern dicht beisammen und unterhielten sich angeregt. Die Kinder tollten teilweise übermütig herum. Kira stand mit der Oma allein. Die Oma schweigsam und sie verängstigt. Kira schaute auf den allein stehenden Jungen der keine Wundertüte hatte. Blickte an ihrer Oma hoch. Löste sich aus der schützenden Hand. Ging auf den Jungen zu und hielt ihm die offene
Wundertüte hin. Hier nimm dir was, sagte sie. Der Junge schaute sie an und sie schaute fest zurück. Nimm, wiederholte sie und der Junge nahm zögernd das kleinste Stück Schokolade, das er fühlen konnte. Mehr, sagte Kira und er griff noch einmal in die Tüte und nahm sich ein größeres Stück aus Kira’s bunter Wundertüte. Kira drehte sich um, ging zu ihrer Oma und ihre kleine Hand suchte die große, raue, warme, schützende Hand. Die Oma strich ihr über das Haar, aber sagte kein Wort.
Auf dem Schulhof war es plötzlich so still geworden, dass Kira unruhig wurde. Die Erwachsen schauten fassungslos und entsetzt erst auf sie und dann auf die Oma. Die Kinder hatten mit dem Herumtollen aufgehört und schauten starr, wie vom Blitz
getroffen, auf Kira. Die Erwachsen riefen ihre Kinder zu sich. Kira hörte jetzt laute
Gesprächsfetzen. Sie sah, das die Mütter auf ihre Kinder einredeten. Zwischendurch warfen sie immer erneut prüfende Blicke auf die Oma und sie. Kira wusste instinktiv, sie hatte einen sehr, sehr großen Fehler gemacht. Da half auch die Hand von Oma nicht, als diese ihr abermals über das Haar strich.
Jetzt fiel ihr ein, dass der Junge noch nicht einmal danke gesagt hatte.

*

Der Schuldirektor der Mädchenschule in der Großstadt, stellte Kira der Klasse und ihrem neuen Lehrer vor. Kira kannte nur alte Lehrer, aber dieser war gar nicht so alt. Sie hörte eine warme Stimme. Auch seine Hand war warm, als er ihre Hand nahm und sie willkommen hieß. Kira schaute in seine Augen. Sie wusste, das war ein guter Lehrer. Sie machte einen Knicks. Die anderen Mädchen begannen zu kichern und Kira wurde rot. Macht man in der Stadt keinen Knicks, dachte sie und schaute erneut in die Augen des Lehrers. Wieder überkam sie dieses neue Gefühl. Das hat etwas mit dem Lehrer zu tun, überlegte sie, aber was? Sie fürchtete sich vor dem neuen Gefühl, vor dem großen Klassenraum und vor den vielen Mädchen. Ihre Augen suchten den Blick ihres neuen Klassenlehrers, und in diesen Augen las sie, ich verstehe dich Kind. Dieser Lehrer
versteht mich, dachte Kira. Er lacht mich nicht aus. Erleichtert, als ob man ihr eine schwere Last abgenommen hätte, richtete Kira sich jetzt auf, atmete tief durch und sie lächelte zaghaft.
Der Lehrer begleitete Kira zu einem Stuhl in der ersten Reihe und sagte das dieser Stuhl von nun an ihr Stuhl sei. Kira setzte sich verlegen und scheu darauf. Die Bänke in der alten Schule waren niedriger. Sie ließ ihre Beine in der Luft baumeln.

Es ertönte eine Klingel und Kira erschrak. Pause, sagte der Lehrer und die Mädchen stürmten laut kichernd aus dem Klassenzimmer. Kira blieb auf ihrem Stuhl sitzen und überlegte, was sie tun sollte. Sie sah hilflos auf ihren neuen Lehrer. Freundlich lächelnd kam er auf Kira zu, komm, sagte er und nahm ihre Hand. Das Klassenzimmer war im zweiten Stock der Schule und Kira ging an der Hand ihres Lehrers die breite
ausgetretene Treppe hinunter. Gemeinsam betraten sie den Schulhof. Mit einem
Lächeln lies er Kira’s Hand los und entfernte sich.
Kira sah dem Lehrer ängstlich nach und jetzt merkte sie wieder ihre Bauchschmerzen. Ihre Hand tastete nach dem Schlüssel, der um ihren Hals hing, als könnte der ihr helfen.
Aber der Schlüssel erinnerte sie nur an ihr neues Zuhause. Kira sah sich vorsichtig um. Alles war so groß und Furcht einflößend. So viele Mädchen. So schöne Kleider. So
schöne Mädchen. Sie sah fremde Frisuren und Mädchen mit Farbe im Gesicht. Aber alle waren wunderschön. Kira kam sich ganz hässlich vor. Sie ging langsam auf die Ecke der Schulhofsmauer zu und vom Schutz der Mauer aus, beobachtete sie die vielen Mädchen. Sie standen in Gruppen und sprachen mit Händen und Füssen wie Kira feststellte, dazu kicherten und lachten die Mädchen in allen Tonlagen. Albern wie Kira fand und hätte doch zu gerne gewusst, worüber die Mädchen in der Großstadt so kicherten. Als es
klingelte ging sie zu dem neuen Lehrer und gemeinsam gingen sie zurück in den
Klassenraum. Sie setzte sich auf ihren Stuhl, aber ganz vorn auf die Kante, damit ihre Beine den Boden berühren konnten. Sogar Stühle sind in der Großstadt höher dachte sie dabei.
Kira versuchte dem Unterricht zu folgen, aber das war unmöglich. Sie verstand gar nichts und es wurde ihr langweilig. Sie hasste es, still auf einem Stuhl sitzen zu müssen und so schaute sie aus dem großen Fenster. Sie beobachtete die Taube, die auf dem Fenstersims hin und her lief und dabei gurrte. Und Kira’s Gedanken verließen die Großstadt und kehrten zurück in das kleine Dorf zu ihrer Oma und zu ihrem Opa.


V
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Kira hatte ihren ersten Schultag überstanden. Sie war auf dem Heimweg und hatte für sich eine Entscheidung getroffen. Schule? Nein!
Es waren nur zwei Stunden gewesen, die Kira im Klassenzimmer der kleinen Dorfschule verbracht hatte. Aber die hatten ihr vollkommen gereicht.
„Nein“, sagte Kira jetzt laut. „Schule ist doof“.
Die Wundertüte kann Oma zurück haben, beschloss sie. Die ist noch fast neu. Es fehlen ja nur die beiden Stücke, die sie dem Jungen gegeben hatte. Oma hatte es ja auch
gesehen. Kira selbst hatte noch nicht einmal von den Süßigkeiten genascht. Es fiel ihr zwar sehr schwer, aber Süßigkeiten für Schule? Nein!

Kira dachte daran, wie sie und Oma vor Beginn der Schulstunde, von den
Dorfbewohnern gemustert wurden. Dachte an ihren Fehler, aber auch an die Freude. Es hatte ihr Freude gemacht, ihre Süßigkeiten mit Milan zu teilen. Das der Junge Milan hieß wusste sie jetzt. Denn der Lehrer hatte jeden neuen Schüler nach seinem Namen
gefragt.
Kira fand den Namen Milan wunderschön. Er klang so fremd, so geheimnisvoll.
Sie liebte Geheimnisse über alles.

Vom Sehen kannte Kira ihren neuen Klassenlehrer bereits. Sie hatte ihn oft in der
kleinen katholischen Kapelle gesehen, wo er an der kleinen Orgel saß und die
Kirchenlieder begleitete. Kira ging oft in die kleine Kapelle zur Messe. Anne musste
immer in die Messe gehen. Anne musste auch immer zur Beichte gehen. Im Frühjahr hörte Kira schon die Stimmen von Anne und ihren Großeltern, wenn sie sich ganz früh anzogen, um zur Messe zu gehen. Sie waren dabei sehr laut. Manchmal knallten sie auch die Türen, so das Kira oft aus dem Schlaf gerissen wurde, erschreckt den Kopf hob und angespannt lauschte. Sie fürchtete sich vor lauten Geräuschen.
Die Großeltern von Anne wohnen auch in der umgebauten Scheune. Zwei Zimmer
hatten sie und die lagen direkt gegenüber von Oma und Opa. Der Opa hatte auch zwei Zimmer und ein ganz kleines, in dem sie jetzt schlief. Wenn Kira morgens still im Bett lag, konnte sie die Schweine im Stroh rascheln hören. Sie mochte die Schweine sehr, vor allem die kleinen Ferkelchen. Doch Wand an Wand mit ihnen wohnen, das mochte sie überhaupt nicht. Es stank immer so, vor allem wenn es draußen heiß war. Und dann war noch das Plumpsklo. Sie hasste es so sehr, das sie sich weigerte es zu benutzen. Da waren immer so viele Spinnen. Sie hatte Angst vor Spinnen. Die Spinnen wussten das natürlich nicht, wenn sie an ihren dünnen Fäden, auf Kira's Kopf krabbelten. An die Mäuse hatte Kira sich sehr schnell gewöhnt. Der Opa hatte versucht die Löcher in den Dielenbrettern zu schließen, aber schnell hatten die Mäuse neue Löcher gemacht. Sie lag dann ganz still in ihrem Bett und hörte das knabbern. Kira hatte am Anfang versucht, Ex König Faruk mit in ihr Bett zu nehmen, wegen der Mäuse. Doch Faruk fauchte nur, als er eine Maus sah und suchte sein Heil durch das offene Fenster. Sie hatte Opa
gefragt, warum Faruk keine Mäuse fing, er war schließlich ein Kater. Doch der Opa sagte was von zu alt. Kira glaubte dem Opa nicht, denn Faruk verschwand im Jahr für mehrere Wochen und kam dann verletzt und mager wieder. Wenn sie Oma fragte
warum Faruk so müde, verletzt und mager vor dem Kohlenofen lag, dann sagte sie nur, es ist halt seine Zeit. Als Kira fragte, was für eine Zeit, bekam sie darauf keine Antwort. Anne war oft wochenlang bei ihren Großeltern. Sie war ein Jahr älter als Kira.
Manchmal, wenn Anne Lust hatte, spielte sie mit Kira, aber meistens hatte Anne keine Lust. Frühmesse mochte Kira nicht, denn dann war sie immer wach, aber es gab auch Wochen, da ging Anne zur Spätmesse. Kira wunderte sich sehr darüber, denn sie ging nur am Heiligenabend spät mit der Oma in die Kirche, die mit dem spitzen Turm. Die kleine Kapelle hatte keinen Turm und keine Turmuhr. Auch keine Glocken, das wusste sie.
Kira musste nicht in die Messe gehen. Darüber war sie sehr froh. Aufstehen war für sie so wieso eine Strafe, denn das warme Bett zu verlassen, dass abends immer so lange brauchte, um warm zu werden, war jedes Mal eine Qual für sie. Auch wenn Opa einen heißen, in Zeitungspapier eingewickelten Ziegelstein, schon Stunden vorher unter ihre klamme Bettdecke legte, hasste Kira es, abends ins Bett gehen zu müssen. Aber noch mehr hasste sie es, morgens aufzustehen. Der Gedanke jetzt jeden Morgen früh
aufstehen zu müssen, nur wegen der Schule unterstützte ihren Entschluss gewaltig, Schule? Nein!

Anne ging auch jeden Sonntag um zwei Uhr in die Messe und das waren die Tage, an denen Kira sie manchmal begleitete. Kira mochte die Messe eigentlich nicht, aber sie liebte den Geruch von Weihrauch. Am Besten war es, wenn sie ganz vorn saß, gleich hinter den Schwestern, die bekamen den meisten Weihrauch.
Kira mochte den Lehrer, der an der Orgel saß, überhaupt nicht. Er hatte kalte Augen. Sein Mund war dünn und verkniffen, die Haut weiß und mit roten Pickeln übersät. Die dünnen, im Nacken kurz rasierten, dick mit Pomade gekämmten, roten Haare sahen strähnig aus. Immer, wenn Kira mit Anne die Kirche betrat, schaute der Lehrer sie, durch seine dicken Brillengläser, jedes Mal so komisch an. Doch wenn der Pfarrer sie anlächelte, schaute der Lehrer schnell auf die Tasten. Kira konnte nicht sagen, ob der Lehrer jetzt groß oder klein war, er war einfach unscheinbar. Dieses Wort liebte Kira, der Opa hatte ihr gesagt, das heißt in etwa so viel, wie fast unsichtbar. Kira wünschte sich diesen Lehrer in der Kapelle oft unsichtbar, denn dann brauchte sie nicht auf die kurzen dicken Finger zu schauen, wenn er an der Orgel saß.
Aber spielen konnte er. Kira mochte Orgelmusik.
Kira schauderte bei dem Gedanken, diesen Mann mit Herrn Welter ansprechen zu
müssen und sie beschloss, nur Herr Lehrer zu sagen. Er war ihr neuer Klassenlehrer.


VI
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Kira schreckte aus ihren Gedanken hoch. Verwirrt schaute sie sich um. Ach ja, sie war ja jetzt in einer Großstadt. Hatte sie nicht gerade ihren Namen gehört? Sie schaute auf ihren neuen Lehrer und sah das er lächelte. Gott sei Dank, dachte Kira. Ihre Augen suchten den Schreibpult des Lehrers ab. Er ist nicht da? Sie schaute auf die Aktentasche die neben dem Pult stand. Auch nicht da? Kira konnte ihn nicht sehen. Unsicher schaute sie auf den Lehrer. Auf seine Frage, was sie denn suchen würde, sagte Kira, den Rohrstock natürlich.
Die Klasse brüllte vor Lachen und Kira’s Kopf lief feuerrot an. Sie schämte sich. So
mutig war sie in der Dorfschule nie gewesen. Aber dieser Lehrer hatte gelächelt und da war es doch ganz normal, wenn man nach dem Rohrstock fragt. Verlegen senkte sie den Blick. Warum mache ich immer alles falsch, dachte sie. Auf dem Dorf hatte man sie
verachtet, nicht beachtet und jetzt? Jetzt lachte man sie aus! Warum lieber Gott, bitte, bitte, warum?
Sie spürte wie die Tränen die Wangen herunterliefen. Erst waren es nur wenige, doch dann kamen immer mehr. Als sie von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt wurde, schämte sie sich noch mehr. Aber sie konnte einfach nicht mehr aufhören.
Kira merkte nicht, dass der Lehrer neben sie getreten war, spürte nicht seine Hand auf ihrer Schulter und hörte nicht, dass der Lehrer die Klasse zur Ordnung rief.
Erst als er ihre Hand nahm, sie hinaus auf den langen großen Flur führte und behutsam auf sie einsprach, beruhigte sie sich langsam. Es war für sie auch kein Trost, zu wissen, dass es in der jetzigen Schule keinen Rohrstock geben würde. Die Tränen und das leise wimmern konnte ihr auch der Lehrer nicht nehmen.
So wurde Kira, an ihrem ersten Schultag in der Großstadt, früher nach Hause
geschickt.
Auf dem Heimweg spürte Kira eine ihr unbekannte Kälte in sich. Sie fror trotz des
warmen Spätsommertages. Sie fühlte, dass etwas in ihr zerbrochen war. Es ist kaputt!
Es ist nicht mehr da! Angst überkam sie.
Das Gefühl von Geborgenheit, Vertrauen und Sicherheit war verschwunden.

Kira wusste nicht, dass mit den Tränen die alte Kira gestorben war, doch gleichzeitig auch eine neue Kira geboren wurde.
Sie hatte für immer die Welt der Kindheit verlassen und war still und unbemerkt in die Welt der Erwachsenen eingetreten.

Als sie mit dem Schlüssel, der um ihren Hals hing, die Wohnungstür aufschloss, merkte sie, das die fremde Frau noch nicht da war. Für Kira war sie eine fremde Frau, obwohl die Oma ihr gesagt hatte, dass das ihre Mutter sei. Aber sie konnte das nicht glauben. Auch als die Oma ihr sagte, das Kira ihre Mutter schon einmal gesehen hatte, als sie noch viel kleiner war, Kira war misstrauisch.
Sie machte sich in der Küche ihr Essen warm, so wie man es ihr gezeigt hatte. Aber
essen konnte sie nicht. So saß sie in der Küche vor ihrem vollen Teller und dachte
wieder an das kleine Dorf. An Oma und Opa und an das Böse, dass sie getan hatte. Denn es war das Böse, die Strafe, dass Kira jetzt in der Großstadt bei einer fremden Frau war.



VII
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Kurz nach dem tragischen Tod von Milans kleiner zweijährigen Schwester, die in eine Wanne mit kochendem Wasser gefallen war, sprach das ganze Dorf von Kindesmord.
Die Bauern waren sich einig, was selten vorkam, aber jetzt waren sie es. Die eine Hälfte fand, die Mutter war es, die anderen hielten den Vater für den Mörder. Auch die
örtliche Tageszeitung machte das kleine Dorf, durch ihre Schlagzeilen, berühmt.
Die Polizei machte kurzen Prozess, sie nahm Milans Eltern in Untersuchungshaft und Milan wurde weggebracht.

*
Kira wusste, dass man Milan und seine Familie als Zigeuner bezeichnete. Und vor den Zigeunern hatten die Bauern Angst. Jedenfalls sagte der Opa das. Auch Flüchtlinge wurden als Halbzigeuner tituliert und die Angst bestohlen zu werden, veranlasste die Bauern, nachts sogar ihre Felder zu bewachen.
Ganz so Unrecht haben die gar nicht dachte Kira, denn wenn sie nachts mit der Oma auf ein abgeerntetes Kartoffelfeld ging, war ihr schon recht mulmig zumute. Auch die beruhigenden Worte von Oma, die Kartoffeln die wir hier sammeln sind selbst für Schweine nicht gut genug, halfen da nicht.
Kira musste in den Herbstferien, wie alle Flüchtlingskinder, den Bauern bei der
Kartoffelernte helfen. Sie sah, dass die Bauern nie alle Kartoffeln einsammelten. Nur die Großen. Die ganz kleinen ließen sie einfach liegen.
Aber bestohlen werden, das wollten sie auch nicht. So war es mit Rüben, Fallobst und was es sonst noch so gab. Lieber sollten es die Maden haben, aber kein Flüchtling.

Auch eine Rangordnung gab es in dem kleinen Dorf.
Der reichste Bauer war der Wortführer. Aber nur, wenn er katholisch war. Es gab auch reiche, evangelische Bauern, die wurden toleriert, aber nicht nach ihrer Meinung
gefragt. Dann kamen die Handwerker, allen voran der Schmied. Der war sehr
angesehen in dem Dorf. Anfang der 50er Jahre gab es noch keine Maschinen. Alle
mussten daher ihre Pferde zum Schmied bringen. Da der das wusste, nutzte der seine Position schamlos aus. Dann kam der Pfarrer, aber der hatte nichts zu sagen, die
Kaufleute, die Lehrer, und zum Schluss die Wirte. Die hatten auch nichts zu sagen, aber die hatten die Stammtische und den Schnaps.
Auch auf dem kleinen Friedhof konnte Kira diese Rangordnung erkennen. Die Reichsten ganz vorne, die Armen versteckt, ganz hinten.

*

Kurz, nach dem Milan’s kleine Schwester beerdigt worden war, Kira hatte noch die Holzkiste mit den blanken Nägeln vor Augen, starb ein alt, eingesessener Großbauer. Die ganze Schule musste an dem Begräbnis teilnehmen. Denn die Lehrer waren nach der Beerdigung zum Leichenschmaus geladen worden.
Die Oma hatte aus diesem Anlass die weiße Spitze von Kira’s blauen Sonntagskleid
abgetrennt. Ihre dünnen Haare auf Zeitungspapier gerollt, so das sie etwas lockig
wurden und ein Schwarzes Samtband um den Pferdeschwanz gebunden. Am Abend vorher wurde Kira sogar gebadet. Sonst war immer der Samstag der Badetag, jetzt war es mitten in der Woche. Sie schrie und strampelte immer, wenn die Oma sie in die große Zinkwanne setzte, doch war sie erst einmal im warmen Wasser, wollte sie auch nicht wieder heraus. Oma hatte es aufgegeben, sie aus der Wanne zu holen, die wartete bis das Wasser so kalt war, dass sie bibbernd von selbst rauskam. Aufgegeben hatte Oma es nicht, Kira mit Gewalt in die Wanne zu setzen.


VIII
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Die Glocken läuteten an jenem Morgen schon Stunden vor dem eigentlichen Begräbnis.
Opa sagte Kira, dass machen die nur, weil er reich war. Kira verstand nicht, was reich sein mit Glocken zu tun hatte.
Sie war sehr aufgeregt, denn es war ihre erste Beerdigung, in der Kira, festlich
gekleidet, im Trauerzug mitging. Oma hatte aus dem Garten noch ein paar Blumen gepflückt und Kira aufgetragen, diese auf das Grab zu legen.
Es war der größte Trauerzug, den sie je gesehen hatte. Der schwarze, hochpolierte
Leichenwagen wurde, anstatt mit vier, von sechs Pferden gezogen. Die vielen Kränze, die den Wagen zierten, versperrten die Sicht auf den Sarg. Viele der Trauergäste trugen ihre Kränze selbst. Die Dorfkapelle spielte einen Trauermarsch. Der Schützenverein kam in Uniform. Schwere Goldketten oder Orden, zierten die Brust. Der Jagdverein in Jägergrün, die Gewehre glänzten von der Politur.
Es störte Kira nicht, dass sie in Reih und Glied mit den Schulkindern ging. Sie war
dabei, nur das zählte. Jetzt war sie auch eine wichtige Person. Gerade, mit hoch
erhobenen Kopf, so wie sie es oft beobachtet hatte. Auf die Schritte achtend, so wie sie es in der Schule geübt hatten. Die Blumen fest mit beiden Händen an die Brust gedrückt, fühlte sie sich auf dem Weg zum Friedhof, als etwas ganz Besonderes.
Die endlosen Reden, die am offenen Grab gehalten wurden, machten Kira nervös. Sie verstand ja nichts. Langsam machte es ihr auch keinen Spaß mehr, etwas Besonderes zu sein. Nicht, wenn es bedeutet, die ganze Zeit still zu stehen.
Endlich wurde der Sarg heruntergelassen und der Jagdverein schoss in die Luft.
Hoffentlich erwischen die keinen Vogel, dachte Kira entsetzt.
Als sie sah, dass die Trauergemeinde bereit war, den kleinen Friedhof zu verlassen. Die Rangordnung streng einhaltend und sich die Menschen, die auf dem Friedhof keinen Platz gefunden hatten, sich dem Zug anschloss, blieb Kira allein zurück. Sie stand an der weißen Mauer gelehnt und schaute dem Zug hinterher. Die Blumen noch in ihren Händen haltend. Die ließen bereits ihre Köpfe hängen. Schade, dachte sie. Die schönen Blumen.
Als der Trauerzug aus ihrem Blickfeld verschwand, ging Kira zurück. An dem Grab waren die Leichengräber dabei, das Grab zuzuschaufeln. Sie lachten, machten Witze und tranken ab und zu aus einer Schnapsflasche. Kira schaute ihnen eine Weile zu. Die vielen Kränze, Blumensträuße und Topfpflanzen lagen jetzt achtlos auf den schmalen Kieswegen. Langsam schlenderte Kira weiter und versuchte die Schrift zu lesen die auf den Grabsteinen standen. Manchmal reichte ihr lesen aus, manchmal aber auch nicht. Dann versuchte sie an der Größe des Steines zu erkennen, wem dieses Grab gehören könnte. Kira ging den schmalen Weg durch die halb hohe immergrüne Hecke. Dahinter waren die Gräber der Armen. Kira sah es an den verwitterten Holzkreuzen. Manche waren umgefallen, keiner hatte sie wieder aufgestellt. Sie suchte das Grab von Milans Schwester, für sie bedeutete es, sie musste nach einem neuen Kreuz suchen. Aber es war kein neues Kreuz da. Sie suchte nach frisch aufgeworfener Erde, nach einem kleinen Hügel. So konnte man auch ein neues Grab erkennen. Als sie einen Hügel gefunden
hatte, legte sie ihre Blumen darauf. Blieb eine Weile davor stehen und wurde ganz
traurig. Es war das erste Grab ohne Namen. Es war ihr egal, ob sie das richtige Grab
gefunden hatte.
Diese Blumen sind für dich, dachte sie und ging langsam zurück, an den vielen Kränzen vorbei, nach Hause.


IX
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Kira hatte ihr Essen in das Wasserklosett geschüttet und an der Kette gezogen. Als sie die Toilette das erste mal gesehen hatte, war sie sprachlos. Auch von dem Gasherd war sie fasziniert. Trotzdem war sie sehr vorsichtig, denn sie hatte Angst, etwas kaputt zu machen.
Schulaufgaben hatte man ihr keine gegeben und so ging sie in das aufgeräumte
Wohnzimmer, nahm einen Stuhl und setzte sich an das Fenster. Von hier aus konnte sie die Straße sehen. Die Vielen verschiedenen Autos, Menschen mit Einkaufstaschen, das Mädchen, das gegenüber an der Hauswand, allein, mit einem Ball spielte und den
Spielplatz. Sie war schon ein paar mal da gewesen, aber es machte ihr keinen Spaß. Die Freiheit die sie in dem kleinen Dorf gehabt hatte, vermisste sie. Auf Bürgersteigen
gehen, an Ampeln halten, bis es grün wurde, auf Autos aufpassen und sich immer
gesittet benehmen, hasste Kira. Aber die Fremde und der fremde Mann wollten es so.
Die Sehnsucht nach Oma und Opa war so stark, dass es schmerzte. Blind vor Tränen starrte sie ins Nichts. In Gedanken rannte sie barfuß durch ein Kornfeld und kehrte
zurück.

Der beliebteste Spielplatz des Dorfes, war der Sandberg. Das war ein lang gestreckter kleiner Berg, der dicht mit Buchen bewachsen war. An der Westseite hatte der Wind den Mutterboden weggeweht und so den feinen, goldgelben Sand freigegeben.
Für die Kinder war dieser Hügel ein natürlicher, riesengroßer Sandkasten.
Im Winter fuhr man mit dem Schlitten, im Sommer setzt man sich einfach auf den Po und rutschte so den Hang hinunter. Die Jungen bauten sich richtige Höhlen, die
Mädchen schöne Sandburgen.
Kira ging zum Sandberg, wenn sie sicher war, dass dort keine Kinder waren. Dann lag, oder saß sie allein auf halber Höhe und blickte über die Kornfelder.
Kira liebte die Stille, liebte den Wind, der die Buchenblätter zum Singen brachte.
Dann lag sie einfach nur da, den warmen Sand im Rücken, die Schäfchenwolken am blauen Himmel über ihr, die gelbe Farbe des Korns, das blau der Kornblumen, das rot der Anemonen und das weiß der Margariten, vor ihr.
Dazwischen sah man einen Baum oder eine kleine Baumgruppe. Das grün der Bäume, unterstrich die Farbenpracht der Kornfelder. Der Wind spielte in den Halmen und ließ die Farben wie Edelsteine im gleißenden Sonnenlicht leuchten.
Kira konnte bis zum Horizont schauen, sie fragte sich dann, was wohl dahinter sein mochte.

Seit dem großen Begräbnis, war Kira nicht mehr auf dem Friedhof gewesen. Sie
vermisste ihn etwas. Nicht nur wegen der Gräber, den Kränzen, den Blumen, den
geharkten Kieselwegen, auf denen man sehen konnte, ob schon jemand vor einem da war. Jeden Morgen wurden die Kieselwege geharkt. Manchmal sogar mit Muster. Dann ging sie den Mustern nach, von rechts nach links, oder umgekehrt von links nach rechts. Manchmal übersprang sie eine Harkenbreite und war glücklich, wenn sie sah, das sie es geschafft hatte.
Kira ging nie ohne einen kleinen Schuhkarton auf den Friedhof. Den brauchte sie
nämlich wegen der Schnecken. Nicht wegen der großen grauen, Oma sagte dazu,
Weinbergschnecken. Nein, wegen der kleinen. Die mit den bunten Häuschen auf dem Rücken. Die schimmerten in allen Farben. Es gab so viele Schnecken auf dem kleinen Friedhof, dass Kira sich fragte, ob die denn auch alle satt würden. Außer Blumen und dem wenigen Gras gab es doch nichts.
Kira wusste von der Großmutter, dass Schnecken gerne Salatblätter essen. Auch Blätter von Bohnen, Kartoffeln, das Grün der Mohrrüben und was sonst noch in Omas Garten war. So legte sie den Boden des Kartons mit Gras aus, auch etwas an den Seiten, damit die Schnecken sich nicht verletzten. Ging damit zum Friedhof und sammelte immer nur so viele Schnecken, wie auf dem Boden Platz war. Ab und zu nahm sie auch schon mal ein, zwei Weinbergschnecke mit, aber die brauchten immer soviel Platz. Hatte sie genug, dann trug Kira vorsichtig den Schneckenkarton nach Hause und setzte die Schnecken vorsichtig in Omas Garten auf die entsprechenden Blätter. Immer schön verteilt, damit die Schnecken sich nicht um die Blätter streiten. Kira hasste Streit.
Kira vergaß nie, den Schnecken einen „guten Appetit“ zu wünschen.
Von Omas Garten bis zu Friedhof musste Kira lange gehen. Das Einsammeln der
Schnecken, wobei es ihr oft sehr schwer fiel, sich zu entscheiden, der Rückweg dann noch den Schnecken das richtige Grün raussuchen, das brauchte schon so seine Zeit. Mehr als zweimal am Tag, den Weg hin und zurück, schaffte Kira nicht.
Immer wenn Oma sagte, heute muss ich Unkraut jäten, versteckte Kira sich im
Birnenbaum. Von dort beobachtete sie wie die Oma über die vielen Schnecken
schimpfte. Der Opa lag dann unter dem kleinen Pflaumenbaum. In seiner blauen Arbeitshose, dem grobmaschigen weißen Unterhemd, einen Zigarrenstumpen im Mund, barfuß, die Wermutflasche neben sich. Kira glaubte zu wissen, dass die Oma extra so laut schimpfte, Oma wollte bestimmt, dass Kira es hörte. Denn Oma sprach nie laut und schimpfen tat sie schon gar nicht.



X
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Kira hörte wie der Schlüssel ins Schloss geschoben wurde und sah von ihrem Platz aus, wie die Fremde die Wohnung betrat. Auch daran musste sie sich gewöhnen. Bei Oma gab es keinen Schlüssel.
Das Wort Mutter brachte sie noch nicht über ihre Lippen. So versuchte sie, mit dem Wort „DU“, diese Anrede zu umgehen.
Als man Kira gesagt hatte, das der fremde Mann, der in der Woche auf See war und nur an den Wochenenden kam, gerne ihr neuer Papi werden wollte, schwieg sie.
Kira wollte keine Mutti und keinen neuen Papi. Sie kannte ja noch nicht mal die Alten.
Kira wollte Oma und Opa! Kira wollte Plumpsklo und Spinnen! Kira wollte zurück!

Kira hörte in der Küche die Frau fragen, ob sie gegessen hatte, das Pausenbrot gut war, ob ihr die Schule gefallen würde und ob der Lehrer nett wäre.
Dann hörte sie, wie anstrengend die Arbeit gewesen war, eine Kollegin sie eingeladen hatte und dass sie hundemüde sei.
Bei den ersten Fragen, die sie betrafen, antwortete brav mit ja. Die Frau hatte ihr
gesagt, dass es unhöflich ist, auf eine Frage nicht zu antworten.
Danach schwieg sie, denn was die Frau dann sagte, waren ja keine Fragen.
Kira konnte nicht sagen, wann sie aufgehört hatte zuzuhören. Aber die Fremde schien es nicht zu bemerken, sie redete immer weiter.
So dachte Kira an ihre schweigsame, stille Oma, die so schöne Lieder an ihrer
Nähmaschine singen konnte.
Sie dachte an die laute, manchmal wütende Stimme vom Opa, wenn er sich mal wieder über die Politiker ärgerte. Dachte daran, dass der Opa sich immer über die Politiker
ärgerte, es immer die gleichen Geschichten waren und Kira die bereits auswendig
kannte.
Sie erschrak, als die ungeduldige laute Stimme sie zum Abendessen rief.
Nach einer Uhr zu essen, kannte Kira nicht. Sie war es gewohnt nur dann zu essen, wenn sie hungrig war. Auch dann nur das zu Essen, worauf sie Appetit hatte. Für Kira hieß das, entweder in den Garten gehen, manchmal auch in fremde Gärten. Auf
Obstbäume klettern oder bei den wenigen bekannten Leuten einfach während der
Essenszeit zu bleiben. Da gab es nur zwei Möglichkeiten, entweder man lud sie zum Essen ein oder man schickte sie nach Hause.
Meistens bat man sie zu bleiben.
Kira wunderte sich immer, dass es Erwachsene gab, die sie anscheinend gern hatten, aber nicht die Kinder der Erwachsenen. Warum das so war, konnte sie sich selbst nicht erklären.
So stand sie schnell auf und ging in die Küche. Als Kira auf den gefüllten Teller sah, wurde ihr schlecht. Die Bauchschmerzen kamen zurück. Sie konnte einfach keinen
Bissen runter kriegen. Aber die Frau bestand darauf, Kira musste so lange am Tisch
sitzen bleiben, bis sie ihren Teller leergegessen hatte.
Sie dachte daran, dass die Schule das Gefängnis und das neue Zuhause die
Erziehungsanstalt war.
Aber das sagte sie keinem. Das war Geheimnis.

So blieb sie allein am Tisch in der Küche sitzen, bis man sie ins Bett schickte. Aber das war gar nicht so schlimm. Sie hatte zwar nichts gegessen, dafür aber die Großstadt schon längst verlassen.

*

Kira lag auf dem Sandberg. Seit Tagen war sie so mit einem Gedanken beschäftigt, dass es sogar der Oma und dem Opa auffiel. Doch als sie gefragt wurde, ob sie krank wäre, sagte sie wahrheitsgemäß nein.
Sie war nicht krank.
Kira dachte angestrengt nach. Sie musste etwas in Ordnung bringen, aber sie wusste nicht was und wie. Dass da etwas war, dass sie störte, das wusste sie genau. Auch dass sie Hilfe brauchte, war ihr klar. Doch wer ihr helfen könnte, noch unklar. So grübelte sie, dachte, überlegte und suchte nach einer Lösung. Aber wie sollte sie eine Lösung
finden, Kira kannte ja noch nicht einmal ihr Problem.


XI
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als Kira Schritte hörte, setzte sie sich auf und sah Vincent auf sich zukommen.
Er war ein Jahr jünger als Lisbeth, die in der Schule neben ihr saß. Die anderen
Geschwister von Lisbeth waren schon älter und gingen in den zweiten Klassenraum.
Auch Lisbeths Eltern waren Flüchtlinge, aber die hatten ein kleines Häuschen ganz für sich allein bekommen.
Vincent und Lisbeth waren in dem Dorf geboren worden. Das machte sie zwar offiziell zu Einwohnern, aber inoffiziell blieben auch sie Flüchtlingskinder.
Manchmal dachte Kira, dass die Bauernkinder nur neidisch waren. Die mussten
nämlich nach der Schule auf den Höfen arbeiten, während sie und die Anderen nach der Schule spielen konnten.

Wenn Kira auf einen der Bauernhöfe ging, aber nur auf solche, von denen sie wusste, dass man sie nicht verjagen würde, dann sah sie die wütenden Blicke auf sich gerichtet.
Aber mutig ging sie dann zu den Erwachsenen und schaute ihnen bei der Arbeit zu. Sie stellte dann immer Fragen, wollte alles wissen und hatte das Gefühl, die Erwachsenen freuten sich sehr darüber.
Wenn Kira das bei den Kindern tat, nahmen die eine Mistgabel, schimpften ganz
fürchterlich und vertrieben sie.

Kira hatte nichts gegen Vincents Anwesenheit auf dem Sandberg. Ihr war, als ob er gar nicht da wäre. Vincent legte sich meist ganz still neben sie.
Am Anfang hatte sie versucht, mit ihm zu reden, doch die einsilbigen Antworten, die er gab, langweilten sie.
Kira wusste, das Vincent sehr krank war. Auch dass er sehr oft ins Krankenhaus
musste. Kira beneidete ihn manchmal. Sie war noch nie in einem Krankenhaus gewesen.
Sie musste zur Schule gehen, aber Vincent durfte kommen und gehen, wann und wie er wollte. Die Lehrer erwarteten keine Hausaufgaben und in den Unterrichtsstunden
wurde er nie aufgerufen.
Wäre auch blöd von den Lehrern, dachte sie, die bekamen sowieso keine Antworten von ihm. Er wurde auch nie ausgeschimpft. Dass der Rohrstock höllisch weh tat, konnte Vincent auch nicht wissen.
Er war der Einzige, der neben den Kindern des katholischen Großgrundbesitzers, den Stock nie zu spüren bekam.
Oma hatte Kira streng verboten, Vincent zu ärgern, oder ihn aufzuregen, weil er ein Epileptiker sei. Sie hatte es hoch und heilig versprochen, obwohl sie keine Ahnung hatte, was ein Epileptiker ist.
So akzeptierte Kira Vincents Anwesenheit auf dem Sandberg, froh darüber, dass er so schweigsam war.
Kira drehte sich so, dass sie Vincent beobachten konnte. Er hatte die Augen geschlossen, sie sah auf seine langen, geschwungenen Wimpern. Sie mochte an ihm nur seine Augen. Immer, wenn sie Vincent in die Augen sah, dachte sie automatisch an ein Rehkitz.
Kira durchzuckte es wie ein Blitz. Sie hatte ihr Problem erkannt. Auch wusste sie jetzt, wer ihr helfen würde.
Natürlich Vincent!
Jetzt musste sie nur noch überlegen, wie sie ihn dazu bringen konnte, dass er ihr auch half.
Jetzt hatte sie ein neues Problem. Sie überlegte und dachte angestrengt nach.



XII
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Die Tage in der Großstadt waren für Kira eine Qual. Freudlos ging sie in die Schule.
Freudlos nach Hause. Machte ihre Hausaufgaben nur, weil sie die machen musste, oder saß traurig am Fenster und starrte ins Nichts. Ihr kleines Herz tat ihr weh. Auch die Bauchschmerzen blieben. Sie konnte immer noch nichts essen, oder nur ganz wenig. Die Kälte, die sie in sich spürte, blieb. Sie antwortete brav auf Fragen, die gestellt wurden, stellte aber selbst keine Fragen. Sie hatte jedes Interesse an ihrer neuen Umgebung
verloren. Die gesunde Gesichtsfarbe wich und machte einem fahlen Grau Platz. Sie
verlor an Gewicht und in den ehemals großen, neugierigen Augen, konnte ein
aufmerksamer Beobachter, die tiefe Sehnsucht einer kleinen Kinderseele erkennen.
Auf dem Schulhof suchte sie keinen Kontakt zu ihren Mitschülern, umgekehrt war es dass gleiche. Für die Stadtkinder war Kira uninteressant. Die hatten ganz andere
Interessen. Nur Mode, Make up, Kino, Pyjamapartys und dann die endlosen Gespräche über die Jungen. Richtig affig, dachte Kira, sie hatte keine Ahnung, warum über solche Themen, richtige Streitereien entstehen konnten. Außerdem konnte sie nicht mitreden.
Kira hatte sehr schnell die neue Rangordnung auf dem Schulhof erfasst. Hier war das reichste Mädchen die Wortführein und bildete eine Klicke von ebenso reichen Mädchen um sich. Dann kam die Schönheit. Die Schönste war Wortführerin und in dieser Klicke waren die hübschen Mädchen. Auch eine Klicke der intelligenten Mädchen gab es. Kira war nicht reich, oder schön und schon gar nicht intelligent. Kira dachte an das Wort, dass sie liebte. Sie war unscheinbar, also unsichtbar und überzeugt, dass man sie ja auch deshalb nicht sehen konnte.
Kira, die stundenlang die Tiere beobachten konnte, fing nun an, die Menschen genau so zu beobachten. Sie studierte deren Körpersprache. Ohne das es ihr bewusst wurde, fing sie damit auf dem Schulhof an und setzte dieses Beobachten bei den Erwachsenen fort.
Kira's neuer Lehrer war auch so ein Beobachter. Als er die Wesensveränderung an ihr feststellte, musste Kira zum Schularzt. Es war das erste Mal, dass sie bei einem Arzt war. Sie hatte schreckliche Angst davor. Doch die Frau musste arbeiten und Kira den Weg zum Arzt allein gehen. Sie dachte an Vincent, an seine Krankheit und daran, wie sie beide auf dem Sandberg lagen.

Kira hatte lange überlegt, wie sie Vincent aus der Reserve locken könnte. Sie wusste, das er sehr beeindruckt von den Ärzten war, die ihn behandelten. Er wollte Arzt werden, wenn er erst einmal groß war. Kira hatte noch nie einen Arzt gesehen. Wenn Vincent mal spielen wollte, dann immer nur dass Doktorspiel. Er war Doktor, sie musste, krank sein, spielen. Dieses Spiel fand sie einfach blöd, aber Vincent war dann ganz bei der
Sache. Er wusste wie man den Puls fühlt. Das man das Herz und den Rücken nur durch ein Stethoskop abhören konnte. Dazu holte er sich immer einen Stock. Er fühlte ob sie Fieber habe und schaute ihr in den Mund. Sie musste laut A sagen und die Zunge
rausstrecken. Blödes Spiel!
Jetzt fragte sie ihn lächelnd, ob er Lust habe, das sie Doktor spielen. Sie war nicht
überrascht über sein freudiges JA. Damit hatte sie im Stillen gerechnet. Vincent sprang schon auf, um sich einen Stock zu suchen, als Kira ihm sagte, sie spiele nur mit ihm, wenn er mit ihr anschließend ein paar Schnecken vom Friedhof holen würde. Sie wusste dass Vincent Angst vor dem Friedhof hatte und sein, ICH WILL ABER NICHT, hatte sie erwartet.
So sagte sie ganz ruhig, dann eben auch kein Doktorspiel, sie müsse sich jetzt so wieso auf den Weg machen und hätte auch keine Zeit mehr.
Aufmerksam las sie in seinem Gesicht. Deutlich sah sie, dass die Angst vor dem Friedhof und die Freude, Arzt spielen zu dürfen, sich in seinem Gesicht abwechselten. Sie hatte gewonnen. Noch, bevor Vincent leise, JA, versprochen sagte, wusste Kira ihre Rechnung war aufgegangen. Kira wurde langsam ungeduldig, als der „Doktor“ so lange mit dem Stock auf ihrem Rücken herumstocherte. Warum hatte er nur so einen spitzen Stock
holen müssen, der tat selbst durch den Stoff ihres Spielkleidchens weh.
Sie erlaubte ihm noch, ihren Puls zu fühlen, aber als sie die Zunge rausstrecken sollte, protestierte sie. Energisch erinnerte sie ihn an sein Versprechen, sie zu begleiten und so gingen sie zum Friedhof.
Kira mit großen Schritten voraus und Vincent mit kleinen Schritten hinterher.
Schweigsam.




XIII
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Je mehr sie sich dem Friedhof näherten, desto ängstlicher wurde Vincent. Sie bemerkte sein zittern, dachte an Omas Worte, ihn ja nicht zu ärgern und an ihr Versprechen. Um ihn abzulenken, erzählte ihm von den schönen Schnecken, den farbigen Häuschen auf deren Rücken und dass er etwas Gutes tut, wenn er ihr hilft, diese in Omas Garten zu bringen. Vincent blickte sie mit angstvollen Augen an. Mitleid überkam sie und sie
versprach im, er brauchte nicht mit auf den Friedhof zu gehen, es genügte schon, wenn er nur an der Mauer auf sie warten würde. Trotzdem, Kira konnte seine Angst fast
körperlich spüren, und sie merkte, dass sie jetzt auch Angst bekam. Allerdings wusste sie nicht, warum? Wovor hatte sie denn Angst? Sie überlegte, fand aber nichts und so plapperte sie einfach nur so darauf los. Nur um ihre eigene Stimme zu hören, denn die half ihr meistens, wenn sie Angst hatte.
Als sie den Friedhof erreicht hatten, ging Kira allein auf den Friedhof. Vincent hatte sich an die Außenmauer gesetzt und schaute Kira verständnislos nach, wie sie durch das Tor ging. Er hatte versprechen müssen, auf sie zu warten.

Kira ging langsam über den Friedhof. Ihre Augen suchten etwas. Etwas, dass sie so sehr gestört hatte, dass es nicht mehr aus ihrem Kopf wollte.
Sie ging hin und her, durch die Hecke zu den Armengräbern, wieder Richtung Ausgang, nahm Wege, die sie normalerweise nie ging und überlegte fieberhaft. Prüfend glitt ihr Blick über jedes Grab, blieb an jedem Stein hängen und sagte mit lauter Stimme:
„ORDNUNG MUSS SEIN“!
Sie nahm allen Mut zusammen und fing an, die Kränze so zu verteilen, das auf JEDEM der Gräber welche waren. Danach ging sie wieder langsam über den Friedhof und schaute sich prüfend um. Stellte sie fest, dass auf dem einem Grab zu wenig Blumen
waren, dann holte sie von dem Grab, von dem sie glaubte, dass dort zu viele waren,
welche. Auf dem Armenteil des Friedhofes brachte sie etwas mehr, denn die Gräber
hatten keine Einfassung aus Stein. Auch fehlten dort die gepflanzten Blumen. Es war eine schwere Arbeit. Sie durfte keinen bevorzugen oder benachteiligen. Ordentlich, wie sie fand.
Als sie fertig war, ging sie noch einmal über den Friedhof und schaute sich ihre Arbeit an. Sie war sehr zufrieden und mächtig stolz auf sich. Jetzt sah der Friedhof doch sehr viel schöner aus. Sie fragte sich, warum die Erwachsenen nicht schon längst auf diese Idee gekommen sind.
Als sie den Friedhof verließ sah sie, dass Vincent nicht mehr da war.
Auf dem Heimweg sang Kira laut und hüpfte vor Freude von einem Bein, auf das
Andere.


XIV
© 2003 by KW


Der Schularzt in der Stadt stellte bei Kira eine Blutarmut fest.
Jeden Morgen ein Glas Rotwein mit zwei Eidotter, nüchtern, das wird helfen, sagte er, und überreichte ihr einen Brief für die Mutter. Jetzt bekam sie Medizin und jeden
Morgen Rotwein. Kira ekelte sich vor dem Geschmack und hätte ihn am Liebsten
weggeschüttet, aber sie hatte versprochen, ihn zu trinken. Sie dachte an Oma und daran, das diese ihr Klosterfrau Melissengeist gegeben hatte, wenn sie sich mal nicht wohl
fühlte. Dann zählte die Oma die Tropfen, die sie auf einen Löffel mit Zucker fallen lies und Kira in den Mund schob. Diese Medizin schmeckte ihr sehr viel besser, als dieser graue Rotwein.
Bei Oma war sie nie müde gewesen, aber hier, in der großen Stadt, wurde sie nie richtig wach. Ihre schulischen Leistungen waren gleich Null, sie hatte einfach keine Lust und außerdem war Schule doof.
Der Klassenlehrer bestellte Kira's Mutter zu sich. Kira zitterte vor Angst. Die Strafe, die sie erwartete, kannte sie. Tagelanges Schweigen!
Nicht das Kira reden wollte, aber wenn die Frau so tat, als ob Kira gar nicht da wäre, war in der Wohnung so eine geladene Atmosphäre. Wie vor einem Gewitter, dachte Kira dann und sie hatte schreckliche Angst vor Gewittern. Vor den Blitzen nicht, aber vor dem Donner.
Doch als die Frau nach Hause kam, ging sie sofort zu ihr und wollte sie in den Arm nehmen. Kira machte sich steif wie ein Brett. Das ist ja noch schlimmer als schweigen, durchfuhr es sie. Seit sie in der Großstadt war, hatte die Frau ihre Hand nur
genommen, wenn sie eine Straße überquerten und danach sofort wieder losgelassen. Körperkontakt hatte Kira nur, wenn sie bei Opa auf dem Schoß saß und er ihr aus ihrem Lieblingsbuch vorlas. Die Oma wollte nicht angefasst werden und Kira fragte sich immer, was daran denn so böses sei. Sie spürte, dass ihre Oma das nicht leiden konnte, so versuchte Kira es auch gar nicht mehr.
Als Kira hörte, dass ihr Klassenlehrer vorgeschlagen hatte, dass man sie in ein
Landschulheim schicken wolle, erschrak sie. Sie konnte sich nicht vorstellen, was ein Landschulheim war.
Kira hörte nur das Wort Heim und sofort dachte sie an die Frau von der Führsorge.
Damals!
*

Ja! Damals? Wie lange war das jetzt her? Für Kira eine Ewigkeit.
Dabei war noch nicht einmal ein Jahr vergangen. Nur ein Weihnachten lag dazwischen. Kira wusste das so genau, weil sie mit dem Opa zusammen, den kleinen Tannenbaum aus dem Wald geholt hatten. Das ist streng verboten, hatte er Kira gesagt. Aber sie sind trotzdem im Dunkeln in den Wald gegangen. Der Opa hatte den Leiterwagen
mitgenommen und eine kleine Axt in eine Decke gewickelt. Es war am Heiligenabend. Den ganzen Tag hatte es geschneit. Die Kälte hatte den Schnee gefroren und die Wolken vom Himmel verjagt. In der sternenklaren Nacht, sie erinnerte sich an den großen
weißen Mond und daran, wie das Licht den Schnee glitzern ließ. Sie gingen auf
Diamanten. Das Wort hatte Kira von Oma, denn wenn die einen Knopf fand, der im Licht glitzerte, dann sagte Oma immer, schau, wie ein Diamant.

Kira konnte nicht sagen, warum sie die Sache mit dem Friedhof dem Opa nicht gesagt hatte. Sie erzählte ihm doch sonst immer alles. Aber irgendetwas hatte sie
zurückgehalten.
Am Morgen darauf, kam die Oma vom Brötchen holen zurück und brachte eine Zeitung für den Opa mit.
Die Überschrift, die der Opa dann vorlas, ließ Kira's Herz stocken. „GRABSCHÄNDUNG“
Als der Opa weiter las, hörte Kira nur, Verwüstung eines Friedhofes, Missachtung der Toten, Diebstahl, Kriminelle Tat, schwere Bestrafung, fieberhafte Suche nach den
Tätern.
In Kira wallte eine Hitzewelle der Empörung aus. Sie hatte den Friedhof nicht
verwüstet, nicht eine Blume mitgenommen und war ganz leise gewesen, damit keiner der Toten wach wurde.
Sie hatte nur Ordnung gemacht!
Als Kira dem Gespräch, zwischen der Oma und dem Opa, zuhörte, merkte sie auch
deren Empörung über diese unerhörte Tat. Kira's Kopf war jetzt ganz rot geworden und sie senkte schnell den Kopf. Jetzt wusste sie, warum diese Angst gestern war. Es war das schlechte Gewissen.
Sie bereute nicht, was sie getan hatte, nur die Reaktion der Erwachsenen darauf,
machten ihr jetzt Angst.
Der Direktor in der kleinen Dorfschule, der so böse mit ihr gewesen war, die Polizei, die, die Oma zum weinen gebracht hatte, das war es, dass sie nicht verstand.

Als Kira der Frau von der Fürsorge ihre ganze Geschichte erzählt hatte, während die Oma die ganze Zeit weinte und der Opa ab und zu über ihren Kopf strich, fühlte Kira sich schon viel besser. Auch die Frau von der Fürsorge strich Kira über den Kopf und bat sie, hinauszugehen. Sie müsse noch mit ihren Großeltern sprechen. Kira verließ die Küche und setzte sich zwischen die Beerensträucher.
Jetzt schmeckten sie ihr wieder und sie aß so viele, bis sie Bauchweh bekam.


XV
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Kira wurde in ein Landschulheim an die Ostsee geschickt. Es war das erste mal, soweit sie sich erinnern konnte, dass sie ganz allein war. Am schlimmsten fand sie den großen Schlafsaal. Sie war es nicht gewohnt, ebenso wenig wie die gemeinsamen Mahlzeiten, oder Mittagsruhe. Aber eine Besserung trat nicht ein. Als sie in die Großstadt
zurückkehrte, erschrak ihr Klassenlehrer derart, dass Kira's Mutter wieder in die Schule gebeten wurde. Auch der Schularzt war bei dieser Unterredung anwesend. Seine Diagnose lautete, dass dieses Kind lieber sterben würde, als in der Großstadt zu bleiben. Dass Kind müsse so schnell wie möglich zurück zu ihren Großeltern.

Als die Frau Kira sagte, dass sie zurück zu den Großeltern gebracht werden würde, jubilierte sie innerlich. Den Kampf, den sie mit der Frau ausgefochten hatte, hatte sie
gewonnen. Kira ging als Siegerin zurück.
Die Tränen, die, die Frau vergoss, ließen Kira kalt. Sie hatte kein Mitleid mit ihr. Schließlich hatte die Frau auch kein Mitleid mit Kira gehabt.
Sie ist einfach eines Tages gekommen und hatte Kira gegen ihren Willen mitgenommen. Die Frau hatte eine größere Macht als ihr Opa. Denn der Opa wollte sie nicht fortlassen. Kira hörte Oma nur sagen, ein Kind gehört nun einmal zur Mutter. Und die Frau, die Kira's Mutter war, machte von ihrem Recht gebrauch.

Jetzt kehrte sie zurück in das Dorf, zum Plumpsklo, den Spinnen und Mäusen, zu Ex König Faruk und dem Rohrstock.
Doch das Gift, dass die Mutter in dem knappen Jahr in Kira gesät hatte, wuchs und Kira war nicht mehr das Kind, dass sie einmal gewesen war und sollte es auch nie mehr werden.
Die Kälte in ihr, war ihr ständiger Begleiter und aus dem kindlichen Vertrauen, wurde Misstrauen.

Ende
 



 
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