Klebrige Hohlraumversiegelung

Arbeitstitel:

Klebrige Hohlraumversiegelung

Im Krankenzimmer war endlich wieder Ruhe eingekehrt.Nur die zerknautschte Bettdecke und die unordentlich zurückgestellten Stühle, ließen erkennen, dass hier gerade eine Menge Besucher ihre Spuren hinterlassen hatten.
„Sag mal Kumpel, woher kennst du eigentlich die ganzen Leute, die dich hier dauernd besuchen kommen?“ Die Frage kam von Hajo Borowski, der sein Bett direkt am Fenster hatte und soviel Tamtam überhaupt nicht gewohnt war. Ihn kam keiner besuchen, obwohl er es sich so sehr gewünscht hätte. Doch wie immer in den letzten Jahren, wenn er vierteljährlich ins Krankenhaus musste, um seine Werte checken zu lassen, kam natürlich nie jemand von seiner Familie oder seinen ehemaligen Freunden. Sie hatten sich abgewandt von ihm. Als wenn er die Pest hätte oder ein Schwerverbrecher wäre. Mit ihm wollten sie nichts mehr zu tun haben.
Matthias Kleinschmidt, der gerade dabei war, sein Bett wieder einigermaßen zu richten, bevor die Schwestern einen Tobsuchtsanfall bekommen würden, ließ sich nicht von seinem Tun abhalten, drehte nur leicht seinen Kopf über die Schulter und lachte Hajo zu. „Kumpel“, rief er fröhlich, „das ist das Stichwort, Bruder. Denn das waren alles meine Kumpel! Meine Arbeitskollegen!“ Er schüttelte noch kurz sein Kopfkissen auf und setzte sich auf die Bettkante. Seine Hand griff zur Wasserflasche, die auf seinem Nachttisch stand, öffnete sie und trank in tiefen Zügen die Flasche halb leer.
Dann ein fragender Blick und eine hochgehobene Flasche in Richtung Hajo. „Nein, danke. Du solltest dir mal angewöhnen aus einem Glas zu trinken,“ Hajo unterstrich seine Worte noch,
indem er Entrüstung spielend die Arme weit von sich weg hielt.
„Du säufst wie ein Bauarbeiter ! Trinken kann man das ja wohl nicht nennen.“ Doch seine Augen lachten dabei, als hätte er gerade einen Witz gemacht.
Matthias fühlte sich weder beleidigt, noch getroffen. Er stellte fest, dass Hajos Mund beim Lachen winzige Grübchen zum Vorschein brachten und seine Augen im Glanz der Sonne golden glänzten. Er hat wunderschöne Augen, dachte er. Und auf diese langen Wimpern könnte man fast neidisch werden.Auch auf den Mund, der bestimmt einmal voller und runder gewesen war, aber ziemlich anziehend auf Matthias wirkte, so dass er sich wünschte...
Na ja, wünschen kann man sich viel, seufzte er innerlich.
„Bauarbeiter kommt hin. Ich bin Maurer. Warum kommt dich eigentlich niemand besuchen?“ Matthias hatte sich wieder gefasst und versuchte möglichst burschikos zu wirken, als er seine Frage stellte.
„Das ist eine lange Geschichte“, Hajo zögerte weiterzusprechen und wurde auf einmal sehr ernst.
Doch dann gab er sich einen Ruck und sprach den Satz, der ihn schon zahlreiche Freundschaften und seine Familie gekostet hatte: „Ich habe AIDS.“ Dann fügte er noch leise hinzu: „ Und wenn du jetzt nichts mehr mit deinem Zimmernachbarn zu tun haben willst, dann...“

Er beugte seinen Kopf nach unten, doch Matthias sah es trotzdem. Tränen liefen Hajo über die Wangen. Verstohlen versuchte er sie wegzuwischen.
Mit einem Satz sprang Matthias hinüber zu Hajos Bett und nahm seine Hände.
„Pssst...ganz ruhig. Du glaubst doch nicht, dass ich mir wegen ein paar HIV-Viren in die Hosen mache vor Angst, oder?“
Beruhigend strich er Hajo dabei über seinen dunklen Haarschopf, der sich anfühlte wie Samt.
Wäre in diesem Moment jemand ins Zimmer gekommen, hätte man die beiden für ein Liebespaar halten können. „Aber..“, fing Hajo an. Matthias legte ihm einen Finger auf den Mund.
„Nein, Hajo. Ich habe wirklich keine Angst. Ich habe meinen Freund vor drei Jahren an Aids verloren. Es war eine schlimme Zeit für mich. Er fehlt mir heute noch oft. Obwohl ich zwischendurch versucht habe, mich auf eine neue Beziehung einzulassen. Es hat nicht funktioniert.“. Plötzlich standen auch ihm Tränen in den Augen. Sie waren auf einer Welle. Hajo drückte sanft Matthias Hand und er erwiderte seinen Druck. Es bedurfte in diesem Moment keiner Worte. Unausgesprochen fühlten sie sich plötzlich sehr nah...
***
An diese Situation erinnerten sich Hajo und Matthias in den nächsten acht Jahren noch ziemlich oft.Denn sie hatte dazu geführt, dass sich die beiden ineinander verliebten.
Matthias hatte mittlerweile eine Umschulung zum Krankenpfleger gemacht, denn drei Jahre später hatte sich Hajos Gesundheitszustand drastisch verschlechtert, so dass er ständige Pflege brauchte.
Zu seiner primären Krankheit war noch eine schwere Hepatitis hinzugekommen, die seine angeschlagene Leber noch mehr schädigte. Eine Niere arbeitete nicht mehr, weil sie geschrumpft war. Ab und zu bekam er jetzt epileptische Anfälle und er wurde inkontinent. Hajos Arzt hatte ihm vor sechs Jahren noch höchstens eine Lebenserwartung von drei oder vier Jahren prognostiziert. Da aber die Wirkung von wirksamen Medikamenten immer weiter und schneller vorangeschritten war, gelang es den Ärzten durch eine antiretrovirale Therapie, den HI-Virus unter Kontrolle zu bringen.So wurde die Virenlast auf einem akzeptablen Spiegel gehalten und im Gegensatz zu vielen anderen Leidensgenossen, hatte Hajo sehr gute Helferzellen.
Das – sowie der unbedingte Zusammenhalt und die Liebe der beiden Männer hatte die Worte des Arztes von damals trotzig Lügen gestraft. Hajo lebte! Und wie!
Er ließ sich z.B. immer wieder neue Absurditäten einfallen, wie er sein Essen verschwinden lassen konnte. Er mochte einfach nicht mehr soviel essen, wie er müsste. Als wenn das alles nicht genug wäre, war vor einem Jahr noch eine bittere Diagnose hinzugekommen, die Hajo kurzzeitig in eine tiefe Depression gestürzt hatte.
Es wurde eine Besondere, leider auch schon sehr fortgeschrittene Form von Demenz bei ihm entdeckt.
Es fing ganz harmlos an. Mit Dingen, bei denen er vergaß, wo sie lagen oder bei Namen...

***
„Schau mal, mein Hase, wer uns besuchen kommt“, rief Matthias eines Tages fröhlich und kam mit den Zwillingsschwestern Laura und Sarah auf dem Arm und seiner Schwester Conny im Schlepptau zu Hajo auf die Terrasse. Da es Hajo heute sehr gut gegangen war, hatte Matthias ihn kurzerhand aus dem Bett geholt und ihn in seinem Rolli auf die Terrasse geschoben, wo er die frische, warme Frühlingsluft genießen konnte.Hajo hatte einen Becher Kaffee vor sich stehen und versuchte ein Kreuzworträtsel zu lösen.
„Onkel Hajo, Onkel Hajo. Lass mich runter, ich will zu Onkel Hajo!“ riefen die beiden Mädchen im Chor.
Noch lachte Hajo und freute sich. Aber dann...
„Ich kann euch beide nie auseinanderhalten. Wer ist jetzt wer?“, fragte er mit einem hilfesuchenden Blick zu Conny. Mit diesem kleinen Trick versuchte er gerade zu überspielen, dass er sich nicht mehr an die Namen der Zwillinge erinnern konnte. „Ja, gibt`s denn so was? Du weißt doch, dass Laura eine kleine Narbe unter dem Kinn hat“, entrüstete sich Conny mit einem Augenzwinkern.
„Lass mal Conny. Das fällt auch mir immer schwer. Bei Zwillingen ist es nun mal so, dass nur die Mutter sie am besten auseinander halten kann“, scherzte Matthias.
Er ahnte ja nicht, dass Hajo sie nicht nur nicht auseinander halten konnte, sondern dieser krampfhaft versucht hatte, sich an die Namen der Mädchen zu erinnern. Genauso, wie er vor ein paar Minuten beim Rätseln überlegt hatte, wie die Hauptstadt Italiens hieß.
Es waren nur drei Buchstaben, aber die wollten ihm partout nicht einfallen. Auch der Fluss,der durch Paris fließt, wollte sich in seinem Gedächtnis nicht finden lassen. Und jetzt hatte er Probleme mit den Namen der Zwillinge.
Matthias, der wohl gemerkt hatte, wie unangenehm es Hajo langsam wurde, griff wieder ein.
„Hier Hajo“, damit setzte Matthias ihm eines der Mädchen auf den Schoß, „nimm mir Sarah mal ab. Sie ist ganz schön schwer geworden.“
Dieser lächelte die beiden Mädchen jetzt, wo beide auf seinen Knien saßen, zärtlich an. „Hallo Laura und Sarah, schön, dass ihr gekommen seid“, flüsterte er ihnen leise zu.
Sie hatten ihre Köpfe ganz nah zusammengesteckt und küssten ihn jeweils auf eine Wange.
„Du kleiner Genießer....“ lachte Conny. Sie umarmten sich so gut es ging, zwischen den vier Ärmchen der Zwillinge hindurch, und dann setzte auch Conny sich auf einen der bequemen Gartenstühle.
Den Mädchen, denen schnell langweilig wurde auf Hajos Arm, rutschten von seinem
Schoß und rannten ins Gästezimmer, wo eine Puppenstube für sie aufgebaut war.
„Wie geht es dir denn heute, mein Lieber?“ fragte Conny und nahm sich eines der Plätzchen, die auf dem Tisch auf einem Teller lagen.
Hajo hatte die Hand von Matthias ergriffen und liebkoste sie, indem er mit seinen Lippen kleine Küsse auf sie drückte.
„Du siehst doch, Conny, ich werde bestens von Matze versorgt. Mir könnte es nicht besser gehen“, lächelte er zu ihr hinüber und nahm einen großen Schluck aus seiner Kaffeetasse.
„Deine Werte sind ok?“ , fragte sie hartnäckig weiter. Ihr lag die Gesundheit ihres Schwagers in spe
sehr am Herzen.
„Lass uns doch über etwas anderes reden“, meinte Hajo und kleine Falten bildeten sich zwischen Nase und Stirn. Er wollte das Thema schnell wieder wechseln. Seine Krankheit war zwar da, aber am liebsten hätte er sie total ignoriert. Matthias merkte, dass Hajos Stimmung in den Keller zu rutschen drohte und versuchte das Gespräch aufzulockern, indem er den Faden aufnahm und Conny die grandiose Neuigkeit verkündete, über die er und Hajo gestern erst eine Entscheidung gefällt hatten. Er wusste, das würde auch seinen Schatz wieder aufheitern.
„Gute Idee“, meinte er. „Du weißt nämlich noch gar nicht, was mein Hase und ich geplant haben.“
„Erzähl“, forderte Conny ihn auf, die natürlich nicht blöd war und genau wusste, dass ihr Bruder nur ablenken wollte. „Wir wollen heiraten! Und du, mein liebes Schwesterherz sollst eine der Trauzeugen sein. Oder möchtest du lieber die Brautjungfer spielen?“ fragte er lachend.

„Oh, was für tolle News“, freute sich Conny und ihre Freude kam aus tiefstem Herzen. „Wann ist es denn soweit? Habt ihr schon einen Termin? Ich muss unbedingt vorher noch was zum Anziehen kaufen und zum Friseur.“
„Dafür bleibt dir noch genügend Zeit“, lachte ihr Bruder, froh, dass er es geschafft hatte, die Atmosphäre wieder einigermaßen fröhlich hinbekommen zu haben.
„Die Hochzeit soll erst in zwei Monaten stattfinden. Da haben wir unseren Jahrestag und den können wir dann nie mehr vergessen.“
„Na ja, zwei Monate gehen ja rum wie nix “, meinte Conny, „da muss ich mich echt beeilen, um etwas Gescheites in den Läden zu finden.“
Nachdenklich schenkte sie sich einen Kaffee ein. Sie überlegte, ob wohl auch jemand von Hajos Verwandtschaft eingeladen würde. So direkt traute sie sich aber nicht zu fragen.
„Du musst dir jetzt wirklich noch keine Gedanken machen, Conny. Ich will sowieso mit Hajo nächstes Wochenende nach Hamburg. Bisschen den Wind um die Nase wehen lassen. Warum kommst du nicht mit und wir gehen zusammen shoppen? Die Kids können bei deinem Lover bleiben. Sie verstehen sich doch super mit ihm, oder?“ fragte Matthias.
Conny strahlte übers ganze Gesicht. Shoppen gehen mit den beiden verrückten Männern fand sie eine richtig gute Idee. Und sie kam ja sonst nicht mehr so viel raus, seitdem sie die beiden Kleinen hatte.
„Also abgemacht?“ Hajo streckte ihr die Hand hin.
„Na ja, ich muss Lars erst noch fragen. Aber ich denke, das kriegen wir hin“, spitzbübisch grinste sie Hajo und Matthias an. „Wenn ihr mir ein bisschen helft, ihn zu überreden.“
„Eine meiner leichtesten Übungen“, lachte Hajo.
***
Und so traf sich am Samstagmorgen das Dreigestirn, wie Hajo die kleine Truppe scherzend nannte, am Bahnhof, um die Reise nach Hamburg anzutreten.
Sie waren bester Stimmung, das Wetter spielte mit und hatte strahlenden Sonnenschein geschickt. Extra für uns, meinte Conny, die sich sehr schick angezogen hatte. Ihr weißes Designer-Kostüm war viel zu lange nicht getragen worden, fand sie. Endlich mal wieder eine Gelegenheit! Sie wollte bei Joop, Armani und Co. ja schließlich nicht aussehen, wie ein hässliches Entlein.
Auch Hajo und Matthias waren in guter Stimmung. Aufgekratzt wie schon lange nicht mehr, bat Hajo im Zugbistro, in dem sie saßen, um einen kleinen Schluck Sekt. Er wusste, dass er keinen Alkohol trinken durfte, wegen seiner Medikamente. Aber ein Schlückchen würde ihn wohl nicht gleich umbringen, meinte er.
Trotz seiner Bedenken, überließ Matze ihm ein halbes Glas von seinem Prosecco. Er freute sich wie ein kleines Kind und stieß übermütig mit Conny und Matthias an.
„Auf ein schönes Wochenende, ihr Lieben. Stößchen!“ Sein Toast brachte Matze und Conny zum Lachen. Die Zeit verging schnell und nach knapp einer Stunde hielt der Zug im Hamburger Hauptbahnhof.
Sie verabredeten eine Zeit und einen Treffpunkt. In zwei Stunden wollten sie sich im Coffee Fellows am Bahnhof wiedersehen, um dann nochmal gemeinsam etwas zu unternehmen.
Während Conny sich zu den Taxiständen begab, schob Matthias den Rollstuhl von Hajo an einen Zeitschriften, - und Zigarettenladen.
„Ich brauch noch Zigaretten, Schatz. Kann ich dich einen Moment hier parken oder möchtest du mit rein?“, fragte Matthias während er sich zu Hajo niederbeugte und ihm einen Kuss auf die Wange gab.
Die Gänge in diesen Läden waren sehr knapp bemessen, weswegen Hajo es meist vorzog, draußen zu warten. „Nö Matze, ich halte hier die Stellung. Beeil dich einfach...“ antwortete Hajo wie erwartet. „Bring mir ein Kreuzworträtsel mit.“
„Na gut, dann springe ich jetzt eben schnell rein. Bis gleich, mein Herz und lass dich nicht klauen.“
Mit diesen Worten verschwand Matthias im Laden, nicht ahnend, dass er kurze Zeit später fassungslos darüber sein würde, dass Hajo verschwunden war.
***
Da Matthias in einer etwas längeren Schlange an der Kasse stand, war Hajo langweilig geworden. Er versuchte Matze darauf aufmerksam zu machen, dass er nach draußen vor die Türe fahren wollte, aber seine Signale kamen nicht an. Matze war zu sehr damit beschäftigt, sich durch ein Männermagazin zu blättern, während er anstand. Was soll´s, dachte sich Hajo, es sind ja nur ein paar Meter bis zum Haupteingang. Wenn ich mich gut sichtbar platziere, wird er mich nicht übersehen können. Dann rollte er los.
Er genoss die warmen Sonnenstrahlen und atmete tief ein, als er draußen stand.
Fünf Meter weiter stritten sich zwei Möwen um ein Brötchen. Es sah lustig aus. Hajo rollte näher heran, um ihnen zuzusehen. Der Boden war leicht abschüssig. Er überlegte, ob er die Bremsen betätigen sollte.
Aber gleichzeitig fühlte es sich so gut an, wie er schnell und leicht dahin rollte, ohne dass er seine Arme anstrengen musste! Er hatte die Möwen und ihr Brötchen schon lange hinter sich gelassen und fuhr weiter und weiter den breiten Gehweg hinunter. Hajo fühlte sich glücklich wie lange nicht mehr. Sonst meist ans Haus gefesselt, kam es ihm vor wie ein Befreiungsschlag.
Darüber vergaß er Matthias, ihr gemeinsames Vorhaben und überhaupt....alles.
***
Er fand sich wieder vor der Lindenstraße Nr. 15. Einer Seitenstraße vom Steindamm. Wie er dorthin gefunden hatte, wusste er nicht. Aber was er genau wusste, war, dass dort seine Eltern lebten und er
hinein wollte.
„Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?“ Eine Frau, die einen Kinderwagen vor sich hergeschoben hatte, blieb bei ihm stehen und sah ihn fragend an.
„Bitte könnten Sie bei Borowski klingeln. Ich komme nicht ran.“
„Das sollte kein Problem sein“, lächelte sie und hatte im gleichen Moment ihren Finger auf dem Knöpfchen. „Wollen Sie die alten Leute besuchen? Da werden sie sich aber freuen. Um die kümmert sich ja seit Jahren keiner mehr.“
Hajo wunderte sich über ihre Worte. Wie, seit Jahren? Heute morgen hatten sie noch alle vier am Frühstückstisch gesessen und über das Geburtstagsgeschenk für Tante Liselotte nachgedacht, die in ein paar Tagen 80 wurde. Seine Eltern, sein Bruder und er. Na ja, sie verwechselt da wohl was, dachte er. Der Türdrücker wurde betätigt und sie hielt ihm hilfsbereit die Türe auf.
Darum verzichtete er darauf, es richtig zu stellen. „Vielen Dank auch“, rief er ihr über die Schulter noch zu und befand sich auch schon am Fahrstuhl. Drinnen drückte er den Knopf für das siebte Stockwerk und der Aufzug setzte sich in Bewegung. Es ruckelte ein bisschen, als er wieder anhielt. Dann öffnete er die Aufzugtüre und setzte seinen Rolli in Bewegung.
Hajo fuhr den kleinen Gang entlang bis zur Wohnung seiner Eltern. Er wunderte sich darüber, dass vor der Türe eine ältere Dame stand und nicht seine Mutter. Vielleicht Besuch, dachte er. Aber trotzdem... Mama schickte doch nicht ihre Gäste zur Türe, um zu öffnen. Das hatte sie noch nie getan. Außer, wenn sie vielleicht krank wäre. Hajo machte sich sofort Sorgen. Dann müsste es aber schon sehr schlimm sein.
„Ist was mit Mama?“, fragte er die Frau, die immer noch an der Türe stand und ihn irritiert anstarrte, während er ihr entgegen rollte.
Dann klingelte auf einmal sein Handy. Er ignorierte es, weil die Frau ihm noch keine Antwort gegeben hatte.
Das Handy klingelte weiter.
Nun standen sie sich gegenüber. „Bitte lassen sie mich durch, ich will sehen, was mit ihr ist“. Sein Tonfall war dringlicher geworden.
Da öffnete sich ihr Mund und ganz leise vernahm er ihre Stimme, die stockend fragte:
„Hans-Joachim...? Bist du es wirklich...?“ Und dann nach einer kleinen Pause:“Erkennst du mich denn nicht? Ich bin´s doch....deine Mutter.“
Tränen standen ihr in den Augen. Das Handy klingelte permanent weiter. Der Ton wirkte schrill und fordernd. In der lauten Kakophonie des Straßenlärms hatte Hajo es nicht wahrnehmen können. Jetzt dafür umso intensiver. Es störte ihn. Er nahm es aus seiner Hosentasche und drückte den lästigen Anrufer weg. 10 Anrufe in Abwesenheit registrierte er noch nebenbei.
Jetzt hatte die alte Dame den Weg frei gemacht und die Türe weit geöffnet, damit er hineinfahren konnte. “Komm herein, mein Junge.“
Endlich, dachte Hajo. Sie ist wohl ein wenig senil. Hält mich für ihren Sohn. Der hieß wohl zufällig genauso wie er. Hans-Joachim hatte ihn schon ewig keiner mehr genannt. Früher schon. Seine Mutter konnte sich nie an seinen Spitznamen gewöhnen.
„Wo ist sie?“, fragte er und rollte den breiten Gang an der Garderobe vorbei, auf das Wohnzimmer zu. Hajo kannte sich hier sehr gut aus. Er zog im vorbeirollen seine leichte Windjacke aus und legte sie auf den Garderobenschrank. Dann stand er mit seinem Rollstuhl im Wohnzimmer.

Sein Vater saß wie immer, mit einer Zeitung in der Hand auf dem Fernsehsessel und las. Als er ihn hereinkommen hörte, legte er sie auf seinen Schoss und starrte Hajo an wie ein Gespenst.
Hajo starrte zurück. Er war irritiert. DAS WAR NICHT SEIN VATER. Wer hatte hier alles auf den Kopf gestellt?
Es war die gleiche Wohnung, es waren dieselben Möbel, aber die Menschen hier waren falsch. Langsam machte sich Panik in ihm breit. Da klingelte wieder sein Handy. Dieses Mal nahm er den Anruf entgegen.
„Hajo! Wo steckst du verdammt?! Ich mache mir die größten Sorgen um dich. Ist alles in Ordnung? Warum bist du nicht ans Handy gegangen?! Sag mir bitte, wo du bist. Ich komme sofort zu dir.“

Diese Stimme kannte er. Matthias. Aber warum hatte er sich Sorgen gemacht? Da er im Moment aber ziemlich neben sich,- und nicht verstand, was die beiden alten Menschen in der Wohnung seiner Eltern machten und diese verschwunden zu sein schienen, gab er ihm schnell Auskunft darüber, wo er sich aufhielt.
„Ich bin zuhause, Matze. Komm bitte schnell. Irgendwas geht hier vor...“ , dabei streiften seine Augen unruhig im Zimmer hin und her und blieben auf dem Gesicht seiner angeblichen Mutter hängen. „Wie, du bist zuhause? Das kann doch nicht sein! Du bist doch wohl noch in Hamburg, oder? Mach mich nicht wahnsinnig!“ Matthias Stimme überschlug sich beinahe am Telefon. Dabei hatte Hajos Arzt ihn eindringlich davor gewarnt, dass so etwas passieren könnte und er dann die Ruhe bewahren müsste. Das war nun wieder ein neuer Schub. Die nächste Stufe der Demenz. Es wusste, jetzt würden sehr harte Zeiten auf ihn zukommen. Aber er würde für Hajo da sein. Immer. Bis zu seinem Tod. Das hatte er sich geschworen.
„Ich verstehe das alles nicht, Matze.“ Tränen lösten sich aus Hajos Augen und er ließ die Hand mit dem Telefon auf seinen Schoss sinken. Seine Mutter ging auf ihn zu und nahm in in den Arm. „Es tut mir so leid, mein Junge“, sagte sie und weinte mit ihm.
„Ich verstehe das ja auch alles nicht. Aber ich bin so froh, dass ich dich wiedersehe. Auch wenn du ein Problem damit hast, mich zu erkennen. Wir haben uns ja so lange nicht mehr gesehen. Ich bin wirklich deine Mutter, Hans-Joachim.“
Eine barsche Stimme erklang aus dem Fernsehsessel. „Er soll hingehen, wo er hergekommen ist, Mutter. Du siehst ja, wohin diese Krankheit ihn gebracht hat. Sein Verstand ist weg. Scheint eine klebrige Hohlraumversiegelung zu sein, dass er noch nicht mal weiß, wer seine Eltern sind!“ Mit angewidertem Gesichtsausdruck wandte sein Vater den Blick von ihm ab und nahm seine Zeitung wieder auf.
Gottseidank erinnerte sich Matthias daran, wo Hajo früher in Hamburg gewohnt hatte. Während er am Telefon den Gesprächsverlauf mitverfolgen konnte, weil Hajo immer noch sein Telefon in der Hand hielt und nicht aufgelegt hatte, hatte er in einem Taxi Platz genommen und dem Fahrer die Adresse genannt. Es tat ihm in der Seele weh, wie der alte Mann Hajo behandelte. Und so was nennt sich Vater, entrüstete er sich laut. Der Fahrer drehte sich kurz zu ihm um, aber Matthias winkte nur ab und lauschte weiter in den Hörer hinein.
„Jetzt hör doch auf, Alfred!“ hörte er, wie Hajos Mutter ihre Stimme erhob. „Du mit deiner Homophobie hast ihn doch aus dem Haus getrieben! Ich habe meinen Jungen immer vermisst. Aber ich durfte ja keinen Kontakt zu ihm aufnehmen. Ich schwöre dir eins: Das hat jetzt ein Ende!“ Im Laufe der Zeit hatte sich das Aussehen seiner Eltern natürlich verändert. Deshalb hatte Hajo sie nicht erkannt. Aber diese Stimme... und den Geruch, den seine Mutter ausströmte, den er immer so geliebt hatte...
Er war zwar immer noch verwundert und durcheinander, aber trotzdem war ihm jetzt danach, sich an sie anzuschmiegen und alles in diese ihm so vertrauten Hände zu legen, die seinen Kopf hielten und ihn streichelten.
Matthias kam ja gleich und alles würde gut werden...

© Tilli Ulenspeel
 



 
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