Kleine Fische.

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pleistoneun

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Flavio steckte wie jeden Tag um diese Zeit im Stau. Er und rund vierhundert andere Arbeiter der Fischfabrik hatten Schichtwechsel und näherten sich doppelspurig in ihren Vehikeln im Schritttempo der Werksausfahrt, die aus Gründen der Sicherheit künstlich verschmälert wurde, sodass jeder einzelne genau kontrolliert werden konnte, der sie passierte. Denn wie in anderen Berufen auch, ließ man hier gerne mal ein paar frische Flossen fürs abendliche Festmahl mitgehen. Flavio hatte eine denkbar schlechte Stelle erwischt: die MVA, die Muränen-Verpackungsabteilung. Hier wollte niemand freiwillig etwas entwenden.

Die tief stehende Abendsonne ließ Flavios Blick auf seine Hose senken. Dort zeigten sich noch die Spuren seines Arbeitstages. Durch das geöffnete Fenster seines Wagens entsorgte er mit Schwung die übelriechenden Muränenreste. Die Teile klatschten auf das Beifahrerfenster seines Staunachbarn. In diesem saß Edo Swiatnik, ein polnischer Aushilfsschlächter, spezialisiert auf Berglangusten. "Hallo! Aufhören!", war dumpf der polnische Akzent durch die geschlossene Fensterscheibe zu vernehmen. Doch vertieft in seine Säuberungsarbeit hörte Flavio die Andeutungen des Polen nicht und schnippte mit Daumen und Zeigefinger weiterhin Fischteile zu seinem Nachbarn.

Edo, der Pole, wollte das Beifahrerfenster öffnen, doch gelang ihm dies nicht, wohl aus Dickleibigkeit, wohl aber auch wegen der großen Kühlbox, die am Beifahrerstitz stand und den Zweck hatte, die gestohlenen Fische frisch zu halten bis nachhause. So behalf er sich damit, die Aufmerksamkeit Flavios zu erlangen, indem er einen Fisch - an der Hinterflosse haltend - zur Scheibe klatschte. Zuerst ein kleiner Fisch, dann ein etwas größerer. Flavios einzige Reaktion war ab und zu das Heben des Kopfes, um zu sehen, ob es im Stau vorwärts ging. Die Ereiferungen des Polen jedoch blieben unbeachtet.

Bojan, dessen arbeitende Position die Rochenzerlegung war, beobachtete das Geschehen im Wagen vor ihm, konnte also sehen, wie der Pole einen dicken Fisch immer wieder gegen die Innenscheibe schlug. Er meinte, er wolle damit nur demonstrieren, welches Exemplar er heute hätte mitgehen lassen. Bojan dachte an seinen frischen Zitterrochen, den er seinerseits entwendet hatte. Er konnte es nicht lassen, wollte seinem Vordermann zeigen, wer da nun das Fischmaß aller Dinge sei und hielt mit beiden Händen seinen toten Rochen hoch. Das roch der Nebenmann, der nach kurzem Überlegen seinerseits derselben Absicht nachkam, zu zeigen, was ein guter Fischklau ist.

Und so kam es, dass die gesamte Kolonne ihre Fischbeute präsentierte, zum großen Missfallen der Kontrolleure an der Werksausfahrt. Die Wachmannschaft ließ alle Arbeiter aussteigen und sämtliches gestohlenes Fischgut sollte vorgelegt werden. Dabei kam es - wie häufig bei widerwilligem Volk - zu einer Massenfischschlägerei. Dicke, dünne, große, kleine, nasse, schmierige, gefrorene, stinkende, lausige, gestreifte und gemusterte Fische flogen über die Autodächer hinweg und erfüllten die Straße mit übelriechendem Gestank.

Flavio, der Pole und die anderen standen schnaubend nach dem Gemetzel inmitten von Innereien und offenen Fischkörpern und wurden - nachdem dem Wachpersonal klar war, dass hier keine Beute mehr gemacht werden konnte - aufgefordert, unverzüglich das Fabriksgelände zu verlassen.

Und als der letzte Wagen durch die Ausfahrt tuckerte, konnte man erst das wahre Ausmaß der Schlacht ermessen. Leblose Kadaver lagen in einem Meer aus Blut, das mit dem Eis verschmolz, das einst zur Erhaltung der Frische diente. Aber ganz hinten, zwischen zwei entstellten Doktorfischen, zappelte etwas. Es schien einen Überlebenden zu geben. Mit allerletzten Kräften wollte eine kleine Sardine auf sich aufmerksam machen und wölbte seinen Körper im Überlebenstrieb.

Doch schon bog mit Getöse das mächtige Reinigungsfahrzeug um die Kurve und schluckte mit großem Appetit die ganze Fischstraße, ohne zu wissen, dass ein Sardinenbaby bis dahin glaubte, sein ganzes Leben noch vor sich zu haben und das Austrocknen der Kiemen wäre nur vorübergehend und alles käme mit einem Schuss Frischwasser wieder in Ordnung. Für Flavio, Edo, Bojan, den anderen Fabriksarbeitern und dem Reinigungsfahrzeug aber war die Sardine nur ein kleiner Fisch. Nur ein kleiner Fisch, dessen Schicksal einzig dem Hungerstillen diente? Auf keinen Fall, denn sonst würde man ja Sar-dienen mit langem i schreiben, nicht wahr?
 



 
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