ENachtigall
Mitglied
Unser Zoni
[ 4]Timo war 18 und Zoni, als wir ihn im Sommer 1989 beim Zelten am Plattensee kennen lernten. Er hatte gerade in Dresden Abitur gemacht und war nur noch einen Daumen im Wind weit vom Deutschen Demokratischen Militärdienst entfernt. Wenigstens das kleine, ihm zugängliche Stückchen Europa wollte er bereist haben - die Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien, Rumänien - bevor das Leben so richtig ernst zu werden drohte.
Wir, das waren meine kleine Schwester Doris und ich: sie in den frühen, ich in den späten Zwanzigern und Wessis. Wir hatten uns Mutters Golf geliehen für ein paar Tage ersehnten Sonnenschein, Badespaß und kleines Geld.
[ 4]Es regnete tagelang und nachts fühlten wir die Mäuse unter unseren Isomatten flitzen. Um uns herum wimmelte es von Schwaben, deren Sprache wir lachmuskelreizend fanden, solange sie nicht im Cola-Rot-Rausch, der ihnen beinahe Dauerzustand war, über die Schnüre und Heringe auf unser dünnwandiges Lager taumelten, wo wir zur Abendzeit auf dem Spirituskocher gern bizarre Gemüsegerichte köchelten. Der Duft dieser kulinarischen Experimente lockte eines Tages Timo – seines Zeichens Vegetarier – an, uns in die Pötte zu kieken. So ergab es sich, dass wir fortan mit ihm und seinen Freunden gemeinsam die Töpfe und Pfannen bestückten und vor allem: leer schaufelten. Am besten aber waren die Geschichten, die sie zu erzählen wussten. Da ging es um abenteuerliche Ausflüge zwecks Materialbeschaffung, freibeuterische Taxifahrer, Wohn-Zweckgemeinschaften in Minimalquadratmeter-Einheiten und jahrelange Wartezeiten auf einen Telefonanschluss oder ein Auto. Was die Spannungsbögen und das Erzähltalent unserer Ossis anging, hatten wir Wessis – von wenigen Ausnahmen abgesehen - entschieden keine Schnitte.
[ 4]Aus den Kofferradios sprudelten tagein nachtaus Berichte über besetzte Botschaften in nunmehr fast allen Ostblockstaaten und die vermutete Aufweichung der strikten Kontrollen an der Österreich-Ungarischen Grenze.
Seltsam still wurde es dann in unserer gemischten Runde. Unsere Ossis hörten mit gebeugten Köpfen und hochroten Ohren zu. Keiner wagte etwas zu sagen. Auch wir brachen nicht das Tabu. Nur einmal, als wir mit Timo allein waren, fragten wir, wie er darüber dächte und ob dieser Weg auch für ihn in Frage käme. Eigentlich sei es ja ein guter Zeitpunkt, meinte er. Und der Militärdienst sei nun auch nicht das, worauf er sich freue. Aber er könne sich nicht entschließen.
Wann immer ein Trabbi oder Wartburg den Zeltplatz verließ, fingen die Ossis an zu tuscheln.
[ 4]Es war schon Herbst, als uns eine Karte aus Bulgarien und tags darauf ein Anruf aus dem Auffanglager erreichte. Die Einladung, bei uns zu wohnen, nahm er widerspruchslos an. Verwandte in Süddeutschland, die ihm quasi fremd waren, wollte er später kontaktieren. Also holten wir ihn ein paar Tage später vom Bahnhof ab. Doris und ich wohnten im gleichen Haus in unterschiedlichen Wohnungen. Wir hatten mehr als genug Platz für einen Gast und waren ganz kribbelig, einen eigenen Zoni, der frisch „über die Grenze gemacht hatte“, zu beherbergen.
Unglaublich erschien ihm, dass wir tatsächlich kein Auto besaßen und unser Fernseher kaum größer war als der Toaster. Von den hundert Mark Begrüßungsgeld kaufte er sich einen ganzen Seesack voll Klamotten. Mit meinem Fahrrad fuhr er quer durch den Puff, nachdem ich ihm erklärt hatte, wie er hinfände. Er wollte seiner vagen Vorstellung davon ein konkretes Bild an die Seite stellen. Verhältnismäßig wenig beeindruckt aber etwas aus der Puste kam er zurück und berichtete von seinen Runden. Zunächst hatte er nur Männer an der Straßenseite gesehen, weil er zu schnell war. Vielleicht war es doch die falsche Straße? Nein, der Name stimmte. Er wartete ein Weilchen bis zur zweiten Runde und erhaschte endlich den gewünschten Blick: aufgebretzelte Damen in rot beleuchteten Schaufenstern.
Gegen Ende der Woche stellte er sich dann telefonisch bei seinen Verwandten vor, die ihn postwendend zu sich baten. Er freute sich einen Ast, als wenig später wie ein böser Fluch die Grenze sich in Wohlgefallen auflöste und mit ihr sein schlechtes Gewissen, die eigene Familie auf Nimmer Wiedersehen verlassen zu haben.
[ 4]Nach ein paar Telefonaten und Postkarten verloren wir seine Spur, wie es so oft passiert am Strand des Lebens zwischen Ebbe und Flut. Ob er tatsächlich Meeresbiologe geworden ist? Das sei sein größter Wunsch, sagte er einmal, als in Ungarn die Sonne schien und wir zum Schwimmen in den Plattensee gewatet waren.
Anmerkungen
Cola-Rot: Gemisch aus Rotwein und Coca-Cola
[ 4]Timo war 18 und Zoni, als wir ihn im Sommer 1989 beim Zelten am Plattensee kennen lernten. Er hatte gerade in Dresden Abitur gemacht und war nur noch einen Daumen im Wind weit vom Deutschen Demokratischen Militärdienst entfernt. Wenigstens das kleine, ihm zugängliche Stückchen Europa wollte er bereist haben - die Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien, Rumänien - bevor das Leben so richtig ernst zu werden drohte.
Wir, das waren meine kleine Schwester Doris und ich: sie in den frühen, ich in den späten Zwanzigern und Wessis. Wir hatten uns Mutters Golf geliehen für ein paar Tage ersehnten Sonnenschein, Badespaß und kleines Geld.
[ 4]Es regnete tagelang und nachts fühlten wir die Mäuse unter unseren Isomatten flitzen. Um uns herum wimmelte es von Schwaben, deren Sprache wir lachmuskelreizend fanden, solange sie nicht im Cola-Rot-Rausch, der ihnen beinahe Dauerzustand war, über die Schnüre und Heringe auf unser dünnwandiges Lager taumelten, wo wir zur Abendzeit auf dem Spirituskocher gern bizarre Gemüsegerichte köchelten. Der Duft dieser kulinarischen Experimente lockte eines Tages Timo – seines Zeichens Vegetarier – an, uns in die Pötte zu kieken. So ergab es sich, dass wir fortan mit ihm und seinen Freunden gemeinsam die Töpfe und Pfannen bestückten und vor allem: leer schaufelten. Am besten aber waren die Geschichten, die sie zu erzählen wussten. Da ging es um abenteuerliche Ausflüge zwecks Materialbeschaffung, freibeuterische Taxifahrer, Wohn-Zweckgemeinschaften in Minimalquadratmeter-Einheiten und jahrelange Wartezeiten auf einen Telefonanschluss oder ein Auto. Was die Spannungsbögen und das Erzähltalent unserer Ossis anging, hatten wir Wessis – von wenigen Ausnahmen abgesehen - entschieden keine Schnitte.
[ 4]Aus den Kofferradios sprudelten tagein nachtaus Berichte über besetzte Botschaften in nunmehr fast allen Ostblockstaaten und die vermutete Aufweichung der strikten Kontrollen an der Österreich-Ungarischen Grenze.
Seltsam still wurde es dann in unserer gemischten Runde. Unsere Ossis hörten mit gebeugten Köpfen und hochroten Ohren zu. Keiner wagte etwas zu sagen. Auch wir brachen nicht das Tabu. Nur einmal, als wir mit Timo allein waren, fragten wir, wie er darüber dächte und ob dieser Weg auch für ihn in Frage käme. Eigentlich sei es ja ein guter Zeitpunkt, meinte er. Und der Militärdienst sei nun auch nicht das, worauf er sich freue. Aber er könne sich nicht entschließen.
Wann immer ein Trabbi oder Wartburg den Zeltplatz verließ, fingen die Ossis an zu tuscheln.
[ 4]Es war schon Herbst, als uns eine Karte aus Bulgarien und tags darauf ein Anruf aus dem Auffanglager erreichte. Die Einladung, bei uns zu wohnen, nahm er widerspruchslos an. Verwandte in Süddeutschland, die ihm quasi fremd waren, wollte er später kontaktieren. Also holten wir ihn ein paar Tage später vom Bahnhof ab. Doris und ich wohnten im gleichen Haus in unterschiedlichen Wohnungen. Wir hatten mehr als genug Platz für einen Gast und waren ganz kribbelig, einen eigenen Zoni, der frisch „über die Grenze gemacht hatte“, zu beherbergen.
Unglaublich erschien ihm, dass wir tatsächlich kein Auto besaßen und unser Fernseher kaum größer war als der Toaster. Von den hundert Mark Begrüßungsgeld kaufte er sich einen ganzen Seesack voll Klamotten. Mit meinem Fahrrad fuhr er quer durch den Puff, nachdem ich ihm erklärt hatte, wie er hinfände. Er wollte seiner vagen Vorstellung davon ein konkretes Bild an die Seite stellen. Verhältnismäßig wenig beeindruckt aber etwas aus der Puste kam er zurück und berichtete von seinen Runden. Zunächst hatte er nur Männer an der Straßenseite gesehen, weil er zu schnell war. Vielleicht war es doch die falsche Straße? Nein, der Name stimmte. Er wartete ein Weilchen bis zur zweiten Runde und erhaschte endlich den gewünschten Blick: aufgebretzelte Damen in rot beleuchteten Schaufenstern.
Gegen Ende der Woche stellte er sich dann telefonisch bei seinen Verwandten vor, die ihn postwendend zu sich baten. Er freute sich einen Ast, als wenig später wie ein böser Fluch die Grenze sich in Wohlgefallen auflöste und mit ihr sein schlechtes Gewissen, die eigene Familie auf Nimmer Wiedersehen verlassen zu haben.
[ 4]Nach ein paar Telefonaten und Postkarten verloren wir seine Spur, wie es so oft passiert am Strand des Lebens zwischen Ebbe und Flut. Ob er tatsächlich Meeresbiologe geworden ist? Das sei sein größter Wunsch, sagte er einmal, als in Ungarn die Sonne schien und wir zum Schwimmen in den Plattensee gewatet waren.
Anmerkungen
Cola-Rot: Gemisch aus Rotwein und Coca-Cola