Kleine Katzen töten

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Meine Jugend habe ich zu einem guten Teil in einem aufgelassenen Steinbruch verbracht. Mein Vater kaufte ihn der Gemeinde ab, als ich vier Jahre alt war. Auf dem Gelände befand sich die vormalige Unterkunft der Steinbrucharbeiter, eine Holzbaracke mit einem Steinsockel. Wir bezogen drei der fünf Räume, in zwei weiteren drängte sich noch eine der ärmsten Familien des Ortes. Etwas später bekam sie anderweitigen Wohnraum zugewiesen.

Wie viele Kinder hatten die Moschs? Ich weiß es nicht mehr, gewiss nicht wenige und sie waren viel wilder als ich. Eines von ihnen, ein zwölfjähriges Mädchen, stürzte damals in den Felsen hinter dem Haus tödlich ab. Ja, da sah es höchst romantisch aus, diese steilen Wände und davor die Schutthalden, pyramidenförmig oder länglich wie ein Sarg und alle schon dicht bewachsen.

Vater Mosch war, glaube ich, Gelegenheitsarbeiter und stand am liebsten auf der Treppe vor dem Haus, gleichmütig auf den Zehen wippend. Gelegentlich bot auch dieser Phlegmatiker Beispiele von Tatkraft, die mich gleichzeitig anzogen und abstießen. So sagte er einmal gut gelaunt zu mir: "Deine Mutter ist bei den Hühnern. Die Katze hat Junge bekommen. Wir müssen sie fortschaffen. Kommst du mit?" Ich nickte. Er sagte: "Warte" und verschwand im Keller. Als er zurückkam, waren die Außentaschen seiner Jacke etwas ausgebuchtet. Drinnen zappelte es. Er schlug den Weg zu den Felsen ein.

Zwei seiner Kinder, die noch nicht zur Schule gingen, folgten uns neugierig. Wie wir uns vom Haus entfernten, ließ sich empörtes Miauen aus dem Keller vernehmen, gedämpft zwar durch dicke Mauern, dafür in seinem Ausdruck noch schmerzlicher. Wir gingen, bis wir zu der Stelle kamen, an der sich gerade vor der Felswand eine Abfallgrube auftat.

Vater Mosch griff in seine Jackentasche und holte eines der neugeborenen Kätzchen heraus. Es war rotweiß gestreift und nicht länger und nicht dicker als der Mittelfinger seiner rechten Pranke, mit der er es sogleich über die Grube hinweg auf die glatte Steinwand schleuderte. Undeutlich sah man, wie etwas von der Wand in die Grube fiel. Die übrigen drei kleinen Würmer, blind und außerhalb der mütterlichen Wärme orientierungslos, wanden sich noch zuckend in seiner Hand - dann erging es ihnen ebenso. Wir Kinder verfolgten regungslos das Geschehen und staunten.

Schon nach einer Minute war alles vorbei. Wir traten den Rückweg an. Keiner sagte ein Wort. Doch das Gesicht von Vater Mosch, sonst so harmlos und friedfertig, wies jetzt einen Ausdruck von Befriedigung auf, den ich bis dahin noch nicht an ihm wahrgenommen hatte. Man konnte diesen Ausdruck mit nur einem Wort beschreiben: ERLEDIGT.
 

Val Sidal

Mitglied
Arno,

eine beklemmende Geschichte.

Eines von ihnen, ein zwölfjähriges Mädchen, [red]stürzte[/red] damals in den Felsen hinter dem Haus [red]tödlich[/red] ab. Ja, da sah es [blue]höchst romantisch[/blue] aus, ...
Super, deine Lakonik -- wie du mit sparsamsten Mitteln die Grundstimmung des Erzählers, der Geschichte erzeugst...

... und die Spannung steigerst:
So sagte er einmal gut [blue]gelaunt[/blue] zu mir: "Deine Mutter ist bei den Hühnern. Die Katze hat Junge bekommen. Wir müssen sie [red]fortschaffen[/red]. Kommst du mit?" Ich nickte.
Der Höhepunkt wirkt auf mich enttäuschend und unglaubwürdig:
Wir Kinder verfolgten regungslos das Geschehen und [red]staunten[/red].
Ich glaube nicht das "staunen" die Gefühlslage von Kindern treffend einfängt. Mag sein, dass es sogar einen Unterschied im Erleben (z. B. wegen Sozialisationsdifferenzen) von Moschs Kindern und dem, des Erzählers gibt. Im Augenblick der Hinrichtung käme Mitgefühl auf, das verschieden in Erscheinung treten könnte.
Folgender Abschnitt untermauert mein Empfinden:
Wir traten den Rückweg an. Keiner sagte ein Wort. Doch das Gesicht von Vater Mosch, sonst so harmlos und friedfertig, wies jetzt einen Ausdruck von Befriedigung auf, den ich bis dahin noch nicht an ihm wahrgenommen hatte.
Aber,
Man konnte diesen Ausdruck mit nur einem Wort beschreiben: ERLEDIGT.
Das klingt nach Autors und nicht Erzählers Stimme.

Mir hätte:
[blue]Doch das Gesicht von Vater Mosch, sonst so harmlos und friedfertig, wies jetzt einen Ausdruck von Befriedigung auf, den ich bis dahin noch nicht an ihm wahrgenommen hatte: ERLEDIGT.[/blue]
gereicht.

Wer bereit ist, sich auf die Tiefen deines Textes ein zu lassen, wird viel Wahres über Mensch erkennen, unangenehmen Facetten seines Selbst begegnen.
 
Danke, Val Sidal, für die aufgewandte Mühe. Die von dir zum Schluss vorgeschlagene leichte Kürzung habe ich, zu meiner Schande sei's gesagt, ihrem Sinn (oder Klang?) nach nicht recht begriffen.

Zum "Staunen" der Kinder: Je nun, es handelt sich um Vor- und Grundschulkinder, die noch stark unter dem Einfluss väterlicher Autorität stehen. Man kann tatsächlich gelegentlich beobachten, dass Kinder auf überraschende, gewaltsame Aktionen in ihrer Umgebung perplex und mit weit offenem Mund reagieren. Du vermisst Anzeichen von Empathie? Die gibt es zwar nicht selten auch schon in diesem Alter, aber man kann sie nicht unbedingt erwarten. Umgekehrt können wir oft an den lieben Kleinen durchaus Anzeichen von Grausamkeit feststellen, gerade im Umgang mit Tieren (Katzen). Nicht umsonst wurde der bekannte Spruch geprägt: Quäle nie ein Tier zum Scherz usw.

Freundlichen Gruß
Arno
 

Val Sidal

Mitglied
Arno,

Über die Empfindsamkeit und Grausamkeit von Kindern kann man trefflich plaudern -- ist aber nicht mein Punkt.
Das mit dem "Staunen" empfinde ich als eine vertane Chance.
Im ersten Absatz macht der Erzähler darauf aufmerksam, dass hier zwei unterschiedliche soziale Schichten aufeinander treffen. Im Verlauf der Geschichte trägt dieser Aspekt nichts mehr aus -- es sei denn, der Leser würde erleben, dass Kinder mit unterschiedlicher Sozialisation das Töten unterschiedlich verarbeiten.

Der Schluss
du sagst:
Die von dir zum Schluss vorgeschlagene leichte Kürzung habe ich, zu meiner Schande sei's gesagt, ihrem Sinn (oder Klang?) nach nicht recht begriffen.
Was ich meine ist:
Den Absatz könnte man auch so formulieren:

a) Doch das Gesicht von Vater Mosch, sonst so harmlos und friedfertig, wies jetzt einen [red]Ausdruck[/red] von Befriedigung auf.

b) Den [red]Ausdruck[/red] hatte ich bis dahin noch nicht an ihm wahrgenommen.

c)Man konnte diesen [red]Ausdruck[/red] mit nur einem Wort beschreiben: ERLEDIGT.

Der Erzähler nimmt also einen Gesichtsausdruck wahr, der bei ihm einen Eindruck mit zwei Attributen hinterlässt:
1. "Befriedigung"
2. "Neu - so noch nicht gesehen"

Nun verarbeitet der Erzähler(nicht der Autor) diese beiden Aspekte und spitzt ihre Ausage zu, indem er sie mit einem Wort EINDRUCK (groß geschrieben) zusammenfasst.

Mein Problem bei deiner Version besteht darin, dass ich es als stilistisch störend empfinde, wenn der Erzähler ein sehr intensives Gefühl zeichnet (der Gesichtsausdruck irritiert ihn doch, sonst würde er darüber nichts sagen) das er anschließend mit rationaler Distanz ("Man könnte...) komprimiert und zwar in Großbuchstaben -- was soll mir dies als Leser an-/bedeuten?

In meinem Vorschlag habe ich den Satz a), in dem der Ausdruck der Befriedigung eingeführt wird, mit dem Wort, das sich dem Erzähler (nicht dem Autor) dabei aufdrängt -- c) ERLEDIGT -- unmittelbar verknüpft:

Doch das Gesicht von Vater Mosch, sonst so harmlos und friedfertig, wies jetzt einen [red]Ausdruck[/red] von Befriedigung auf: ERLEDIGT.
Jetzt fehlt nur noch die Erwähnung des [blue]Neu[/blue]heitsaspekts -- b) -- was durch Einschieben von b) zu meinem Vorschlag führt:

[blue]Doch das Gesicht von Vater Mosch, sonst so harmlos und friedfertig, wies jetzt einen Ausdruck von Befriedigung auf, den ich bis dahin noch nicht an ihm wahrgenommen hatte: ERLEDIGT.[/blue]
Warum ich die Lösung besser finde (ist natürlich subjektiv)?
Zwei Redundanzen ([red]Rot[/red] und [blue]Blau[/blue]) werden vermieden:

- "Ausdruck" -
Doch das Gesicht von Vater Mosch, sonst so harmlos und friedfertig, wies jetzt einen [red]Ausdruck[/red] von Befriedigung auf, den ich bis dahin noch nicht an ihm wahrgenommen hatte.

- Wozu sagen, dass es ein Wort gibt für den Ausdruck und dann das Wort nennen --
Man konnte diesen [red]Ausdruck[/red] [blue]mit nur einem Wort[/blue] beschreiben: [blue]ERLEDIGT[/blue].

Die Sache ist natürlich Geschmackssache und deine Sache -- ich wollte es nur bemerkt haben.
 
Meine Jugend habe ich zu einem guten Teil in einem aufgelassenen Steinbruch verbracht. Mein Vater kaufte ihn der Gemeinde ab, als ich vier Jahre alt war. Auf dem Gelände befand sich die vormalige Unterkunft der Steinbrucharbeiter, eine Holzbaracke mit einem Steinsockel. Wir bezogen drei der fünf Räume, in zwei weiteren drängte sich noch eine der ärmsten Familien des Ortes. Etwas später bekam sie anderweitigen Wohnraum zugewiesen.

Wie viele Kinder hatten die Moschs? Ich weiß es nicht mehr, gewiss nicht wenige und sie waren viel wilder als ich. Eines von ihnen, ein zwölfjähriges Mädchen, stürzte damals in den Felsen hinter dem Haus tödlich ab. Ja, da sah es höchst romantisch aus, diese steilen Wände und davor die Schutthalden, pyramidenförmig oder länglich wie ein Sarg und alle schon dicht bewachsen.

Vater Mosch war, glaube ich, Gelegenheitsarbeiter und stand am liebsten auf der Treppe vor dem Haus, gleichmütig auf den Zehen wippend. Gelegentlich bot auch dieser Phlegmatiker Beispiele von Tatkraft, die mich gleichzeitig anzogen und abstießen. So sagte er einmal gut gelaunt zu mir: "Deine Mutter ist bei den Hühnern. Die Katze hat Junge bekommen. Wir müssen sie fortschaffen. Kommst du mit?" Ich nickte. Er sagte: "Warte" und verschwand im Keller. Als er zurückkam, waren die Außentaschen seiner Jacke etwas ausgebuchtet. Drinnen zappelte es. Er schlug den Weg zu den Felsen ein.

Zwei seiner Kinder, die noch nicht zur Schule gingen, folgten uns neugierig. Wie wir uns vom Haus entfernten, ließ sich empörtes Miauen aus dem Keller vernehmen, gedämpft zwar durch dicke Mauern, dafür in seinem Ausdruck noch schmerzlicher. Wir gingen, bis wir zu der Stelle kamen, an der sich gerade vor der Felswand eine Abfallgrube auftat.

Vater Mosch griff in seine Jackentasche und holte eines der neugeborenen Kätzchen heraus. Es war rotweiß gestreift und nicht länger und nicht dicker als der Mittelfinger seiner rechten Pranke, mit der er es sogleich über die Grube hinweg auf die glatte Steinwand schleuderte. Undeutlich sah man, wie etwas von der Wand in die Grube fiel. Die übrigen drei kleinen Würmer, blind und außerhalb der mütterlichen Wärme orientierungslos, wanden sich noch zuckend in seiner Hand - dann erging es ihnen ebenso. Wir Kinder verfolgten regungslos das Geschehen und staunten.

Schon nach einer Minute war alles vorbei. Wir traten den Rückweg an. Keiner sagte ein Wort. Doch das Gesicht von Vater Mosch, sonst so harmlos und friedfertig, wies jetzt einen Ausdruck von Befriedigung auf, den ich bis dahin noch nicht an ihm wahrgenommen hatte: ERLEDIGT.
 
Besorgt!

Val Sidal, nun habe ich es begriffen, war wohl vorhin durch einen Nebenumstand abgelenkt. Der Schluss wies in der Tat eine leicht schiefe Perspektive auf, ich habe ihn deinem Vorschlag gemäß korrigiert.

Noch zum "Staunen". Erst du bringst mich auf den Gedanken, dass die Verarbeitung mit der vorherigen Sozialisation zu tun haben könnte. Abgesehen davon, dass das nicht zwangsläufig so sein muss, würde es auszuarbeiten den Rahmen eines derart kurzen Textes leicht sprengen.

Arno Abendschön
 
D

Dominik Klama

Gast
"und staunten" streichen! Fügt dem Text nichts hinzu, sondern wirkt wie ein "Zu viel". "Wir Kinder standen regungslos." Und was in uns vorging, denkt sich jetzt bitte jeder Leser selber aus.
 
Meine Jugend habe ich zu einem guten Teil in einem aufgelassenen Steinbruch verbracht. Mein Vater kaufte ihn der Gemeinde ab, als ich vier Jahre alt war. Auf dem Gelände befand sich die vormalige Unterkunft der Steinbrucharbeiter, eine Holzbaracke mit einem Steinsockel. Wir bezogen drei der fünf Räume, in zwei weiteren drängte sich noch eine der ärmsten Familien des Ortes. Etwas später bekam sie anderweitigen Wohnraum zugewiesen.

Wie viele Kinder hatten die Moschs? Ich weiß es nicht mehr, gewiss nicht wenige und sie waren viel wilder als ich. Eines von ihnen, ein zwölfjähriges Mädchen, stürzte damals in den Felsen hinter dem Haus tödlich ab. Ja, da sah es höchst romantisch aus, diese steilen Wände und davor die Schutthalden, pyramidenförmig oder länglich wie ein Sarg und alle schon dicht bewachsen.

Vater Mosch war, glaube ich, Gelegenheitsarbeiter und stand am liebsten auf der Treppe vor dem Haus, gleichmütig auf den Zehen wippend. Gelegentlich bot auch dieser Phlegmatiker Beispiele von Tatkraft, die mich gleichzeitig anzogen und abstießen. So sagte er einmal gut gelaunt zu mir: "Deine Mutter ist bei den Hühnern. Die Katze hat Junge bekommen. Wir müssen sie fortschaffen. Kommst du mit?" Ich nickte. Er sagte: "Warte" und verschwand im Keller. Als er zurückkam, waren die Außentaschen seiner Jacke etwas ausgebuchtet. Drinnen zappelte es. Er schlug den Weg zu den Felsen ein.

Zwei seiner Kinder, die noch nicht zur Schule gingen, folgten uns neugierig. Wie wir uns vom Haus entfernten, ließ sich empörtes Miauen aus dem Keller vernehmen, gedämpft zwar durch dicke Mauern, dafür in seinem Ausdruck noch schmerzlicher. Wir gingen, bis wir zu der Stelle kamen, an der sich gerade vor der Felswand eine Abfallgrube auftat.

Vater Mosch griff in seine Jackentasche und holte eines der neugeborenen Kätzchen heraus. Es war rotweiß gestreift und nicht länger und nicht dicker als der Mittelfinger seiner rechten Pranke, mit der er es sogleich über die Grube hinweg auf die glatte Steinwand schleuderte. Undeutlich sah man, wie etwas von der Wand in die Grube fiel. Die übrigen drei kleinen Würmer, blind und außerhalb der mütterlichen Wärme orientierungslos, wanden sich noch zuckend in seiner Hand - dann erging es ihnen ebenso. Wir Kinder verfolgten regungslos das Geschehen.

Schon nach einer Minute war alles vorbei. Wir traten den Rückweg an. Keiner sagte ein Wort. Doch das Gesicht von Vater Mosch, sonst so harmlos und friedfertig, wies jetzt einen Ausdruck von Befriedigung auf, den ich bis dahin noch nicht an ihm wahrgenommen hatte: ERLEDIGT.
 

nanja

Mitglied
Nachdem alles Wesentliche schon diskutiert ist, bleibt mir nur mehr Positives anzumerken: mir gefällt gut, wie du den Erzähler gedanklich springen lässt, ohne den Leser dabei an der Hand zu nehmen, das fordert heraus und lässt Platz zum Assoziieren!
Die Geschichte ist tatsächlich in ihrer Einfachheit wunderbar verstörend.
 
Danke für die Blumen, Nanja. Und du hast Recht: Der Titel ist ein bisschen unangemessen reißerisch. Das ist so eine kleine Schwäche von mir, zu hoffen, dergleichen würde mehr Zugriffe generieren.

Arno Abendschön
 



 
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