Kleine sentimentale Geschichte

Kleine, sentimentale Geschichte

Da steht einer. Steht auf der Straße.
Steht.
Uneinsichtig. Es ist ein Uneinsichtiger. Wie wir alle, die wir die nötige Einsicht besitzen, ja, und eine wesentliche Änderung in unserer Gemütslage uns doch nicht glückt.
Er steht nun auf der Straße und blickt in dies Fenster, strahlend vor üppigem Licht und eitler Wärme. Denn draußen gefriert das Eis auf den Plätzen und die Nacht lädt nicht zum Stillstehn.
Blickt in dies entfernte Fenster und macht Schluß mit der Einbildung, es sei keine Heimat. Wer hier wacht, hat Leben.
Da steht er nun recht lange. So lange, bis ihm die Zehen zuschweigen: Wir sind Fleisch nicht mehr von deinem Fleische und er beinahe grimassieren muß bei dem Gedanken. Aber endlich - da beschließt er, hinzugehen, auf das Licht zuzutreten und selbst zu sehen, zu befühlen, zu erwittern, was das sei: Wärme, ein Ofen, ein Zuhause.
Geht dorthin und beginnt die Suche, sucht, nicht langsam, sucht und findet, er pocht an eine Türe.
Pochen. Jemand hat an die Türe gepocht.
Drinnen horcht einer unsicher auf. Er hat gelesen. Nun hat es an der Türe gepocht. Er zieht groteske Schnörkel mit seinen Brauen, ist unschlüssig, soll er das Buch beiseite legen oder wird er unvermittelt zurückkehren, er hört wieder das Pochen und hastet der Türe entgegen. Öffnet.
Nun, einer mit Brille, steht und bringt Kälte herein.
Rein?
Es ist spät, ja, außerdem habe er gelesen. Und. Schließlich. Schließlich.
Schließlich ist es, vielleicht ist es ein Tag für eine Begegnung und so läßt er ihn ein.
Der sieht um sich. Sucht wieder, aber nicht allzu rasch und blickt nicht habgierig. Auch ist er nicht furchtsam; der andere schon. Furchtsam, ein wenig gereizt, ihn verlangt nach dem offenen Buche.
Aber der da, der sieht nur um sich.
Und lächelt unvermittelt: ja, so ist's recht, das ist es: Wärme, ein Ofen, ein Zuhause.
Und beeilt sich mit der Erklärung: nicht, daß er stören wolle. Er habe auch kein Anliegen, das sei es nicht. Nur eintreten habe er gewollt, fühlen, sehen, wittern, ein Zuhause. Nicht als ob es das seine wäre, bitte, er möge nicht glauben, er ergötze sich in unschicklicher Weise an der Vorstellung, die Bücher (und besonders nicht das auf Seite 518 weltoffen leuchtende, auf das der andere nunmehr seinen wehmütigen, halb aller Hoffnung entseelten Blick richtet), der Branntwein, die ungeordneten Papiere, die Messer und Gabeln, die nicht glänzen, oder die wenigen Kleider im Schrank, dessen Türen sich seit Jahren schon nicht mehr bewegen lassen, seien die seinen; vielmehr wolle er das fremde Heim kosten, einen Moment im Fremden selbst heimisch sein, kurz: er suche - den "alten Hort".
Der andere klappt das Buch unwirsch zu. Nun aber. Nun ist es genug. Doch man wehrt ihn ab: nein, nein, er wolle, er könne ja nicht bleiben. Nur für diese Minuten. Und dann sei es auch schon genug, das ist wahr.
Mit vier Fingern trommelt der Heimgesuchte auf das Buch. Beider Blicke kreuzen sich, erst auf den Fingerkuppen, dann auf dem Einband. Der Fremde nickt. Er kenne sie wohl, die Erzählung, einen Pjotr Werchowenskij stoße man schließlich nicht aus seinem Hirn.
Ja, das, das mag wohl richtig sein, obschon er ja noch nicht. Aber er möge sich doch wenigstens setzen. Und: Kaffee sei keiner im Hause, aber vielleicht Tee - ein Gläschen vielleicht - ein Glas, ja.
Dann setzt er den Tee auf und fühlt sich nicht mehr gar so heimgesucht, denn Besuch, damit könne ja niemand mehr rechnen zu so später Stunde und bei dieser - nachgerade sibirischen Kälte.
Jaja, spricht der Eindringling, dessen Zehen nunmehr schmerzen, wenn er sich vorsichtig in einen Stuhl niederläßt, so als habe er bereits eingewilligt in die seichten Anspielungen des laut in einer Nische Hantierenden.
Einen Tee vielleicht, vielleicht ein Glas Branntwein dazu, dazu die Nacht, die Kälte, die Heimat, die Wärme, der Ofen und das Licht. Da ist man dann eingekehrt, so muß man es wohl nennen, und man hat den Mantel nicht abgelegt und beabsichtigt es auch nicht zu tun, und man sitzt da und streift all den liebevoll aufgetürmten Plunder, den man selbst nicht zusammengeklaubt hat auf den Basaren dieser Erde, und ahnt und weiß es nicht, woher diese Photographie stammt und welcher Liebe man sie nun verdankt, und doch ist all dies - gut.
Und wo getrunken wird, wird auch geschwatzt, gewitzelt, vielleicht rasch geweint. Und wenn die Einbildung: es sei keine Heimat dann ferne, ganz ganz ferne ist, steht er unversehens auf, der Uneinsichtige, und schließt die Tür mit einem Ruck.
Der andere aber bleibt zurück mit Branntwein, Tee und leerem Blicke. Und er mag das Buch nicht mehr anrühren, mag auch nicht mehr sitzen, er bleibt zurück mit einem ungewissen Verlangen, allein. Und plötzlich - sind die Bücher und der Branntwein, die ungeordneten Papiere, die Messer und Gabeln, die nicht glänzen, oder die wenigen Kleider im Schrank - sind ihm kein Zuhause mehr.
Dann steht da einer. Steht am Fenster.
Steht. Und blickt hinaus auf die entfernte Straße, in die Kälte, in die Nacht.

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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