Klosternächte

sylvanamaria

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Klosternächte

Nacht- naturwissenschaftlich definiert als der Zeitraum zwischen Sonnenunter- und Sonnenaufgang; in der Literaturwissenschaft wird die Metapher Nacht oft dunklen und bösen Vorgängen und gestalten zugeschrieben. Das Böse kommt in der Nacht, das Gute im strahlenden Licht. Nacht verbinde ich mit den Eigenschaften der Ruhe, aber auch der Bewegung. Veränderungen können sich nachts ankündigen, aber Dunkelheit kann auch Beständigkeit ausdrücken.
Einige Nächte haben sich mir besonders eingeprägt.
Als vollzeitbeschäftigte Ehefrau und Mutter hatte ich des öfteren das Bedürfnis nach Ruhe. Vollkommene Ruhe ohne die Nebengeräusche des Alltags: Kühlschranksummen, Standby der Technik, Hintergrundgeräusche des Straßenverkehrs, Lebenstöne. Unter Normalverhältnissen ließ sich die Ruhe selbst in der Nacht nicht finden. Ich stellte mir vor wie es wäre, natürliche Stille zu empfinden - wie nachts in einem Wald mit seinen Geräuschen in einer ungekünstelten Umgebung ohne Technik. Klänge zu hören und Empfindungen zu haben, die in unserem zivilisierten Leben eher selten sind oder nicht mehr bewusst wahrgenommen werden: das Rauschen der Baumkronen im Wind, das Zwitschern, Jubilieren oder Schreien der Vögel, das leise Murmeln eines Baches oder der sanfte Wellenschlag eines Sees an sein Ufer. Ich stellte mir vor, dass es möglich ist, Stille und Ruhe zu empfinden beim Getöse eines Wasserfalls oder der Brachialgewalt von Ozeanwellen - schon aus dem Grund, dass diese Geräusche normal und natürlich sind.
Letztendlich entschied ich mich für einen Klosteraufenthalt. Schon der Wortursprung "klaustrum" "Abgeschlossenheit“ befriedigte mein Begehren. Vorbereitungen waren schnell getroffen und so fuhr ich allein weit weg von Familie und Großstadt in die Eifel. Ideal für meine Vorstellungen: eine Abtei hoch oben auf dem Berg weit entfernt von menschlichen Ansiedlungen, umgeben von Wald und Natur.
Schon der Eintritt durch die Klostermauern vermittelte mir ein Gefühl von Ruhe , Geborgen- und Gelassenheit. Eine tiefe innere Stille erfüllt mich. Faszinierend ebenfalls war die äußere Stille, angepasst an das im Gebäude herrschende Halbdunkel. Der später angebaute Gästetrakt ahmte die ursprüngliche Bauweise nach und so beherrschten kleine Fenster, oftmals bemalt, die Architektur. Kein Ton war zu hören. Die Stille war so laut, dass es wehtat. Keine Totenstille, der Tod kennt eigene Geräusche, auch keine beängstigende Stille, sondern eine von kraftvoller und wohl-tuender Natur.
Der Abend nahte und die Langschatten unter der untergehenden Sonne hüllten das Klostergelände in eine samtene rotgoldene Dunkelheit. Die Farben der Natur erstrahlten hier auf dem Berg lebhafter, leuchtender. Der Abend verabschiedete sich und begrüßte die Nacht. Schlagartig erlosch das Licht und schwarzer Samt hüllte die Umgebung ein. Vereinzelte Geräusche drangen an mein Ohr: Grillenzirpen im hohen Gras, das leise Muhen der Kühe auf der nahegelegenen Weide, das Keckern des Fuchses. Meine Augen gewöhnten sich langsam an die veränderten Lichtverhältnisse. Es war September.Leise raschelten die Blätter der Kastanienbäume, ab und zu hörte ich das Herabfallen der reifen Kastanienfrüchte. Der einzige fremde Laut, der sich harmonisch einpasste, war das Glockenläut, das zum Angelus rief.
Da die Klosterpforte 20.00 Uhr geschlossen wurde , betrat ich, wenn auch widerstrebend, das Gebäude. In meinem Zimmer öffnete ich weit das Fenster um dem trägen Atmen der herbstwarmen Nacht zu lauschen. Meine Sinne lebten bewusst, wie sie es selten tun konnten. Hören, Sehen, Riechen sogar schmecken konnte ich die Umgebung. Es war faszinierend. Nach und nach füllte sich der ruhegeschwängerte Raum vor meinem Fenster mit einem Nachtszenario. Ein Käuzchen schrie, Rehböcke bellten, eine Nachtigall sang ihr bittersüßes Lied. Die Hirschbrunft hatte begonnen. In der Mitte der Nacht begann das kraftvolle Röhren der Hirsche, die um die Gunst der Hirschkühe buhlten und Revierkämpfe austrugen. Das Krachen von Geweihstangen der kämpfenden Rivalen drang bis in mein Zimmer. Und doch empfand ich alle diese Geräusche als Ruhe und nicht als Lärm. Die alten Klostermauern strahlten Stille aus aufgrund der Tatsache ihres Alters. Sie hatten Jahrhunderte überlebt. Geschichte wurde lebendig und erzählte von Opfern ,Krieg, Entbehrung, aber auch Leidenschaft, Mut und Frieden. Im ungewohnten Bett liegend umflogen mich die Schatten der Vergangenheit und erzählten mir uralte Weisheiten. Außer den Nachtgeräuschen war kein Laut zu hören. Irgendwann schlief ich ein.
Ich habe noch viele Nächte im Kloster erlebt. Aufgrund der ungewohnten Stille lag ich die ersten Nächte lange wach. Ich hatte mir angewöhnt, der Nacht zu lauschen, die nur abgedämpft bei geöffneten Fenster die Klostermauern umbrandete. Es war immer wieder faszinierend zu erleben, wie Tag und Nacht wechselten. Am schönsten war die Zeit vor dem Sonnenaufgang. Erste Lichtfunken am noch tiefdunklen Dämmerungshimmel kündeten die Sonne an und verzweigten sich Minuten später zu prachtvollen Farbspielen in rot, gelb, orange. Selten, aber unheimlich schön. Das in Dunkelheit lie-gende Land bot einen starken Kontrast zum sich erhellenden Himmel.
Viele Nächte habe ich an verschiedenen Orten erlebt, aber die Klosternächte waren, blieben und sind einzigartig. Vielleicht, weil es keine weitere Ansiedlung in der Nähe gibt und die Natur die Nacht für sich hat. Trotz der Einsamkeit des Ortes hatte ich nie Angst, denn oft müssen wir uns vor uns selbst, dem Menschen, mehr fürchten als vor allen anderen.
 



 
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