Kokon

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Isegrims

Mitglied
Chris Carlson fliegt nach New York, um Ruhm zu ernten. Er nimmt seine Frau mit. Während die beiden im Taxi zum Gebäude der Vereinten Nationen am East River fahren, schaut sie aus dem Fenster, streicht Chris über den Handrücken, berührt die Adern, die sich unter der Haut abzeichnen. Als sie aussteigen, dreht sie sich zu ihm, ein Lächeln, schön wie ein Lavendelfeld, entsteht auf ihrem Gesicht.

Im dreißigsten Stock nimmt er den Preis für die Save-the-world-App des Jahres entgegen. User können individuelle Ökoprofile erstellen, nachhaltige Produkte erwerben, Petitionen unterschreiben und sich zu Demonstrationen anmelden. Er hat auf den Zeitgeist gesetzt. Die Idee schlug ein. Chris strebt seither den Sternen entgegen, nennt sich Entrepreneur, sammelt Geld.

Sybil hat sich bei ihm eingehakt. Die Schuhe der beiden klacken im selben Rhythmus auf den Boden, während sie sich dem Saal nähern. Die Stimmen, die ihnen entgegenschlagen, klingen wie ein Heuschreckenschwarm. Während der Laudatio hört Chris kaum hin. Bilder entstehen, Erinnerungen breiten sich aus. Er hat keine Kontrolle über die Gedanken. Das Vorstadtghetto, die Siedlung, wo er aufwuchs. Die Müllcontainer, Tags auf den Mauern, der kaputte Aufzug. Die Schnaps-, die Whiskeyflaschen, die er in den Ritzen der Mauern, hinter Büschen versteckt hat, damit die Eltern sich das Zeug nicht in die Kehle schütten. Die Backsteinmauern der Schule, Bildungsheimat und Abenteuerspielplatz zugleich. Er leckt sich die Lippen wie damals, spürt den Durst in sich. Nach Wissen, Kultur, einer Art Schönheit, die ihn rettet. Er hört den Tonfall des Vaters, als er ihm von der Ehrung in New York erzählt hat. Da war kein Stolz, da sprach der Hilfsarbeiter und formulierte Sätze aus dem Bierwolkendunst heraus. Es hätte nichts genutzt, die Eltern nach New York einzuladen.

Als er aus dem Gedankenteppich entfliehen kann, riecht er Sybils blassen Rosenduft, spürt Nähe, die er nie ganz verstanden hat, eine geheime Verbindung, die während der Schulzeit entstand, obwohl er die Beamtenbürgerverhältnisse ihrer Familie verachtet, ihr Engelswesen, all die moralische Überlegenheit belächelt hat, die sie heute noch wie ein Vorwurf vor sich herträgt. Warum nur liebt er sie? Wozu? Schließlich pflegt er längst Affären, giert nach unverbrauchtem Fleisch, nach Lust, will sich endlich etwas gönnen. Wäre Sybil nicht hier, hätte er sich nach dem Empfang mit Cathrin treffen können, die Babyhaut der Princeton-Studentin berühren, in ihrem Mir-nur-mir-gehört-die-Zukunft-Lächeln versinken können. Warum verweigert Sybil Botox und Schönheitsoperationen? Warum lässt sie sich keine Implantate einsetzen? Er würde gerne dafür bezahlen. Endlich kann er sich was leisten. Im Keller von Sybils Elternhaus gab es Sauna und Schwimmbad, es roch nach Chlor, Sekt und Sauberkeit. Er hat sie sich geschnappt. Jetzt sitzt sie neben ihm. Er liebt sie. Irgendwie.

Die Leute klatschen, als er aufgerufen wird. Sybil zieht ihm die Krawatte zurecht, zupft an dem Einstecktuch. Chris wirft ihr einen Blick zu, wischt ihre Hand weg, als wär’s eine Fliege, reißt sich von ihr los. Seine Frau trägt ein cremefarbenes Kostüm, High-Heels, lächelt und schweigt. Auf dem Weg zur Bühne schüttelt er Hände, schart das Team um sich, damit alle gemeinsam die Stufen erklimmen, die Arme zum Himmel strecken, sich gegenseitig auf die Schultern klopfen können. Chris wird Teil des Kokons, dem fest verwobenen Gespinst derjenigen, die es geschafft haben.

Die Rede stammt von einem Ghostwriter, der behauptet hat, er habe für Obama gearbeitet. Als die Leute klatschen, an der richtigen Stelle lachen, weiß Chris, dass sich das Honorar gelohnt hat. Der Generalsekretär schüttelt ihm die Hand, überreicht eine Medaille. Später wird Sekt gereicht, Kanapees stehen bereit. Die Damen vom Catering-Service tragen Dirndl. An Stehtischen bilden sich Grüppchen. Sybil folgt Chris, plaudert hier, plaudert da, schüttelt Hände, bis die Aufmerksamkeit wieder ihrem Mann gehört. In einer Ecke verbringt er einen Moment allein mit Sybil, hält ein Glas in der Hand. Sie prosten einander zu.
„Wahnsinn, oder?“, sagt er und strebt zum Tisch des Teams.
„Ja, kann man so sagen. Freut mich für dich.“
„Ohne dich wär’s nicht gegangen.“
„Wirklich?“ Sie schüttelt den Kopf, lässt den Mund offen, zeigt ihre blankpolierten Zähne.
Chris’ Blick wandert durch den Raum: „Sehen übrigens super aus, die Mädchen.“ Er deutet auf eine Dirndl-Frau mit besonders ausladendem Dekolleté.
„Wer’s mag“, sagt Sybil, zeigt ihm ein Zauberlächeln, schaut ihn direkt an.
„Na ja, du hast andere Qualitäten“, sagt er und grinst anzüglich.
Sybils Augen durchwandern den Saal. In der Ecke bemerkt sie eine Gestalt, die nicht hierhergehört. Sie trägt ein Rüschenkleid, die Haare sehen wie Schnee aus, die Haut wie Erde, die Augen wie Feuer. Sybil kennt sie, kann dem Blick dennoch nicht standhalten, blinzelt. Als Sybil wieder hinschaut, nimmt sie gerade noch wahr, dass die Mama Jala in der Menge verschwindet.

***

Sie drängt sich in seine Achselkuhle, will sich dort verkriechen, schnuppert an dem Chrisduft aus Gras und Honig, aus Metall und Blut, saugt an seiner Haut. Sybil schließt die Augen, hört den Herzen zu. Seinem. Ihrem. Er atmet im Echo ihres eigenen Pulses, träumt vielleicht. Damit sie den Geschmack im Mund, die süße, salzige Milch, behalten kann, hat sie die Zähne nicht geputzt. Sie liebt und sie hasst ihn. So war’s immer. Weil sie befürchtet, in dieser Position einzuschlafen, löst sich Sybil von Chris, dreht sich weg, zieht die Beine an, drückt den Hintern gegen sein Becken. Er liebt ihren Arsch, die roten Flächen, die Abdrücke, die er darauf hinterlässt, wenn er in Fahrt kommt, freut sich daran, wenn sie sich windet, die Stimme auf- und abschwillt, wenn ihr Schmerz in Lust verwandelt wird. Früher mochte sie das, früher war’s anders. Sie weiß, wie er denkt, sie weiß es genau. Es gelingt ihr nicht mehr, sich selbst anzulügen. Der Schmerz nahm überhand, breitete sich über die Haut, die Innereien, bis zur Seele aus, wo er sich festfraß, nichts mehr übrig ließ von dem, was sie einst war. Früher klangen seine Worte wie Stürme, zielten auf das Guteschönewahre, wärmten wie Frühlingssonne. Heute presst er sie durch schmale Lippen. Metallisches Gestammel, Gemurmel, Schweigen zwischen der Leere, verglühte Augen, die erst dann aufflackern, wenn es um Geld und Gold und Vorteile geht., mehr ist nicht geblieben. Einer müsse bestimmen. Ganz nach oben müsse man wollen, sagt er. Weiter, weiter. Jeder gesellschaftliche, jeder menschliche, soziale Kontakt müsse Nutzen bringen, sichtbaren Ertrag? Welchen Ertrag brachte sie ihm, welchen, er ihr? Das Ende naht, der Plan steht fest, die alte Frau war hier in New York City, o ja, das Traumweltleben war vorbei, die Angst wie ein Windhauch verflogen. Der Zauber der Mama-Jala wird ihr den Weg weisen. Zum Glück.

Auf der Haut findet sie trotz allem ein Tröpfchen von ihm, schleckt daran. Ihr Körper fühlt sich wie ein Nadelkissen an. Er liegt auf dem Rücken, die Hände wie ein Toter gefaltet, die Augen fest zugekniffen, röchelt ab und zu. Sybil kann nicht länger bei ihm bleiben, steht auf. Sie hört dem Wasser zu, das aus dem Hahn fließt, wäscht sich, verteilt Zahnpasta im Mund. Dann öffnet sie die Minibar, nimmt sich ein Whiskey-Fläschchen, schüttet den Inhalt in den Mund, braucht die Wärme, die durch ihre Kehle rinnt, stellt sich ans Fenster. Lange steht sie dort, betrachtet die Sternenlichter New Yorks. Das Rauschen der Stadt rieselt durch ihre Ohren, als wär’s eine Sanduhr. Wer aufhört, an sein Glück zu glauben, zerbricht, schreibt sie auf den Notizblock, der auf dem Hotelschreibtisch liegt.

Zwei Uhr in der Nacht. Acht Uhr morgens in Deutschland. Sie nimmt das Smartphone und schickt ihrer Freundin Alex eine Nachricht, sieht, dass sie auf WhatsApp online ist. Sybil setzt sich auf die Klobrille, wählt ihre Nummer, spricht mit ihr, hört der Plapperstimme zu. Sie tauschen Belanglosigkeiten. Ganz nebenher erzählt Sybil, dass Chris sie wieder einmal geschlagen hat, labt sich am Entsetzen ihrer Freundin, will sie auf ihrer Seite wissen. Bussi, Bussi zum Abschied.

Das Smartphone fühlt sich heiß an, die Verabschiedung klingt noch in ihren Ohren, als Chris vor ihr steht, ohne dass sie sein Kommen bemerkt, den Schatten gesehen, seine Nähe irgendwie gespürt hätte. Seine Nase berührt ihren Scheitel, gräbt sich in Sybils Locken.
„Was geht in deinem schönen Köpfchen so vor, hm?“, fragt er mit einer Stimme, als spräche er aus einer Nebelwolke, als hätte er sich aus der eigenen Düsternis weggeschlichen.
„Ich habe mit Alex telefoniert“, sagt sie ganz leise, um die Stimme nicht zu reizen.
„Mit der Bitch, na klar!“
„Nenn sie nicht so.“
„Ich nenne sie, wie ich will, Bitch, Dreckstück, scheißegal, aber deswegen bin ich nicht hier.“
„Wie meinst du das?“ Ihre Stimme bleibt leise.
„Du kannst nicht anders, was?“, sagt er. Chris deutet auf den Notizblick, hebt die Hand. „Hör auf damit“, sagt er, flüstert jetzt wieder.
Sybil denkt an leuchtende Strände, gleißendes Licht, die knallfarbenen Lackierungen der Oldtimer, die durch Havanna fahren. Sie spürt, wie sich ihr Mund öffnet, wieder schließt, als wäre sie ferngesteuert, wehrt sich gegen die Puppenspielerwelt, die sie in eine Marionette verwandeln, an Fäden aufhängen, Lippen, Arme, Beine, selbst Gedanken steuern will. Sie hat die Fäden gekappt, atmet hellwach, obwohl sie nicht weiß, ob das, was gerade passiert, Realität oder Teil der New Yorker Nacht ist. Unterdessen verziehen sich die Wolkenschleier vor Chris’ Augen.
„Bitte hör auf“, sagt er, fährt sich übers Gesicht, als wolle er eine Träne verreiben, beugt den Kopf, streckt die Hand aus, schaut sie ganz nachtzart an - mit einem Blick, der sie an längst vergangene Zeiten erinnert.
„Komm wieder ins Bett, Sybil, dann halten wir uns aneinander fest.“
Sie nickt, folgt ihm, rollt sich ein, strahlt ihn an, denkt an eine Zukunft im Licht.
„Wir gehen morgen spazieren und lassen uns einfach treiben“, sagt er noch.
„Ja, warum nicht.“
„Brooklyn Bridge, Frieheitsstatue, Bronx, Harlem, ganz egal was. Paar Fotos schießen, was Schönes essen.“
„Gut.“
„Okay, um zehn treffe ich noch paar Leute von Alphabet. Abends Dinner mit dem Team. Bleibt genug Zeit.“
„Klar.“
„Bist du stolz auf mich?“
„Stolz, was für ein Wort!“
„Nur ein Wort, aber du weißt schon, was ich meine.“
„Klar kannst du stolz sein. Du hast ne Menge Geld gemacht und die Quelle sprudelt weiter.“
„Ist doch was, oder?“
„Ein Meisterstück, so viel steht fest. Du stehst auf der richtigen Seite. Gibst dich als Weltverbesserer, Gutmensch und scheffelst nebenbei Geld damit.“
„Ist doch super, zu den Guten zu gehören. Du profitierst schließlich auch, Liebling, vergiss das nicht.“
„Geniale Idee jedenfalls.“
„Sag ich doch.“
„Und was, wenn die Glückssträhne irgendwann vorbei ist?“
„Ach was.“
„Egal. So bist du eben. Dein ganzer Ökobilanzenscheiß beruhigt das Gewissen deiner Kunden. Passt schon, ändert aber nichts. Die Leute wollen sich wohlfühlen, darum geht’s.“
„Na ja!“, sagt er noch, dann verstummt das Gespräch. Bevor Sybil einschläft, beobachtet sie ihn hinter dem Vorhang ihrer geschlossenen Augen, hört Chris Atemzüge. Er klingt so vertraut. Trotz allem.

***

Sybil öffnet die Augen, reckt die Glieder, bemerkt die Morgensonne, die durch den Vorhang schimmert, hört Chris im Bad hantieren, während sie die Ticketbestätigung sucht, die Buchstaben liest, den Zielort in der Karibik, sich versichert, dass sie die Zahlen-Buchstaben-Zeichen-Kombination des Bankkontos in Panama abgespeichert, zusätzlich im Adressbuch notiert hat. Die alte Frau, die Mama-Jala war wie versprochen hier in New York. Ein guter Tag, sagt sie sich, ein guter Tag.

Chris’ Augen wirken müde, die Lider angeschwollen. Er hat ein Handtuch um die Lenden geschlungen. Die Six-Pack-Reste werden mehr und mehr vom sich rundenden Bauch verdeckt.
„Wo sind die neuen Rasierklingen?“, fragt er.
„In deinem Kulturbeutel. Müsste sie eigentlich eingepackt haben.“
„Und wo sind sie dann?
„Schau mal in die Taschen.“
„Da is nix.“ Seine Stimme bebt.
Er stampft ins Bad, kommt zurück und kippt den Inhalt des Beutels aufs Bett, wühlt, sucht zwischen Shampoo, Nagelschere, Haargel, findet nichts. Die Muskeln zucken, die Augen irren. Rasierklingen kommen nicht zum Vorschein. Sybil schmeckt die Reste des Whiskeys am Gaumen.
„Müsste ich eigentlich eingepackt haben“, äfft er sie nach, spuckt die Worte auf den Boden, direkt neben das Bett.
Dann steht Chris bei ihr, legt von hinten die Pranken auf Sybils Schultern, beginnt zu kneten. Nach einer Weile hält er inne, der Druck lässt nach, hört ganz auf. Als Sybil die Augen öffnet, sieht sie Chris vor dem Spiegel. Er beginnt mit der Rasur. Sie beobachtet seine Bewegungen, hört dem Geräusch des Rasierers zu, der über die Haut scharrt, den Schaum in Bahnen abschabt wie ein Farbroller, der eine Tapete bestreicht.
„Ich habe Geld versteckt, eine Menge Geld. Schau mal, wie viel es ist. Ganz sicher. Alles in Panama. Für alle Fälle“, hört sie ihn ausgerechnet an ihrem Hochzeitstag sagen.

Sybil beschließt zu schweben, will leicht sein, schreitet über die Brooklyn Bridge als wäre es eine große Bühne, die nur auf sie wartete, saugt den Ölgeruch der Stadt auf, spürt den Wind, der über die Straßen hinwegfegt, als wollte er sie reinigen, das Idyll einer Macht, die zum Greifen nah scheint, aus sich selbst heraus pulsiert. Während Chris zurückbleibt, nach Fotomotiven sucht, manifestiert sich in Sybil das New-York-Gefühl. Die Du-kannst-alles-erreichen-wenn-du-dich-vom-Sog-nach-oben-reißen-lässt-Energie elektrisiert sie. Trotz der Klischees, der gefälligen Botschaft. Nur die Bettler, Zerrissenen, wankenden Gestalten, die ihre Hände aufhalten, nach Dreck, Scheiße, Schnaps stinken, auf dem Boden kauern, mit Flüsterstimmen Selbstgespräche führen, stören irgendwie. Sybil bückt sich und wirft Münzen in Pappbecher. Deutsche Bettler wirken sauberer.

Von Brooklyn aus fahren sie mit der Subway, atmen die stickig heiße Luft in den Waggons, riechen Gummi, Metall und Schweiß, weichen Menschen aus, die zu Boden blicken, einander streifen. Als sie Harlem erreichen, halten sie sich an der Hand. Die Gehwege der Straßenzüge sind von Bäumen gesäumt. Einige der Häuser frisch angestrichen, mit Zäunen von der Straße abgetrennt, gentrifiziert. Auf den Stufen, die zum Eingang der übrigen Häuser führen, sitzen Leute, Hutzelfarbige mit Schattenaugen, Klappergestalten, die verdorrten Ästen gleichen, manche auf Plastikstühlen direkt vor den Fußgängern. Daneben Baseballcapjugendliche mit ausrasierten Nacken, Undercuts, die Ellbogen auf den spitzen Knien. Einige legen den Kopf in die Hände, nehmen eine Denkerpose ein, lassen Rap, Hip-Hop aus winzigen Lautsprechern über die Straße wummern, schreien sich an, um sich verständlich zu machen. Eine schrumpfgesichtige Frau, irgendwie alterslos, sitzt aufrecht auf einem mit grünem Samt bezogenen Oldschoolsofa inmitten von Puppen unterschiedlicher Größe, die helle Rüschenkleider tragen, die mit schwarzen Gesichtern und überdimensionierten Augen wirken, als würden sie die Gegend bewachen. Die Augen der alten Frau leuchten. Junge Kerle reichen der Frau auf dem Sofa Donuts, Tee.

Chris schüttelt den Kopf, hält das Smartphone vors Gesicht, will Fotos der Leute schießen. Sybil umfasst sein Handgelenk, hindert ihn daran. Sie gehen weiter. Chris‘ Schritte federn, seit er Erfolg hat, zu den Sternen strebt. Faulige Luft drückt von oben herab, Wind verteilt den Gestank von Müll und Diesel. Stimmen, das motorisierte Rauschen der Stadt dringen in ihre Ohren. Trotzdem reden sie miteinander. Geplapper, nichts von Belang, nichts, an das man sich erinnern müsste. Sie entfernen sich von dem Block, wo sie die Puppenoma gesehen haben, begegnen Fußgängern, vorwiegend Farbigen, Hispanics, weniger feines Tuch auf weißer Haut im Vergleich zu den Businessvierteln in Manhattan, urbane Multikultivermischung wie in europäischen Großstädten. Zwischen Wohnblockreihen gehen sie weiter, einer Kirche entgegen, die über die Häuser hinausragt. Zwei Türme säumen das Kirchenschiff. Oben befinden sich Zinnen, ein Balkon, von dem aus man die Stadt überblicken kann.

Chris erfasst das Motiv, zoomt, probiert Kameraeinstellungen, versinkt vollständig in der Ich-wär-so-gern-Künstler-geworden-Illusion. Sybil spürt den Windhauch der alten Frau, die sich mit einer Geschwindigkeit nähert, die man ihr nicht zugetraut hätte, lächelt sie für einen Moment an. Die Mama-Jala kommt Chris so nah, dass er ihren Rosenatem riecht. Ihre Gefährten umzingeln Chris, drängen Sybil zur Seite. „Stopp!“, ruft die Mama-Jala. Chris erschrickt, hält das Smartphone fest, damit es ihm nicht aus der Hand gleitet. Der Ton schwillt an. Die Sirenenstimme der Mama-Jala scheint überall zu sein, lässt die Luft vibrieren. Die Puppenoma, die vor wenigen Minuten noch auf dem Sofa saß, umfasst den Arm von Chris mit eisernem Griff, während ihre Augen aufflammen.

„Du musst die Bilder löschen! Alle! Sofort!“, tönt es, während der erste Schlag Chris trifft, weitere folgen, bis er zu Boden geht, kniet und jault. „Wie kannst du nur die armen Leute fotografieren. Wie kannst du nur? Was bist du für ein Mensch!“ Die Mama-Jala spuckt ihn an, lässt Speichel auf ihn regnen, spürt die ganze Macht ihres Zorns. „Die Kirche, ich wollte die Kirche aufnehmen“, jammert er. Männer, Frauen umringen ihn. Hiebe prasseln auf seinen Körper, wie Trommeln, die eine Nachricht verkünden. „Die Kirche? Du lügst.“ Während Chris’ Hände das Smartphone umklammern, flüstert sie: „Gib der Mama-Jala das Handy!“, als rede sie mit einem Kind. Chris weicht dem Blick aus, reicht ihr das Gerät. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. „Dankeschön. Wir sind aber noch nicht fertig mit Dir, Chris Carlsen!“ Dann schreibt sie ein Zeichen in die Luft. Kräftige Hände halten Chris fest.

Die Mama-Jala löst sich aus dem Kreis, geht auf Sybil zu, sieht aus wie eine Göttin, so aufrecht, so schwarz. „Er ist kein Puppenspieler“, sagt sie, lässt die Worte verklingen. „Hast du den Flug gebucht, Sybil?“ „Ja, ich fliege heute Abend nach Panama. Wenn alles erledigt ist, treffen wir uns auf der Plaza de Catedral in Havanna.“ „Keine Sorge. Ich werde mich um dich kümmern, wenn du auf Cuba bist. Geh jetzt los! Wie behalten deinen Mann eine Weile hier. Morgen lassen wir ihn wieder frei.“ Sybil umarmt die alte Frau, wendet sich ab, blickt nicht zurück, eilt zur Subway-Station.

Die Mama-Jala schaut ihr nach, streicht über die Papiere aus Sybils Handtasche. Sie wird vielen Menschen helfen können. Auch Sybil. Dann ruft sie einen der Männer zu sich. Er hat einen kahlrasierten Schädel, schöne, schwarze Augen, einen Stahlkörper, überragt sie um zwei Köpfe, beugt sich zu ihr herab. „Du weißt, was du zu tun hast, Mike?“ „Ich bin vor der blonden Frau in Panama“, antwortet er. Die Mama-Jala zieht eine der Puppen aus den Falten ihres Rüschenkleides, presst sie an sich, betrachtet die großen großen Augen.
 



 
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