Kollabieren

Hale-Bopp

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Die Nacht war angebrochen, doch wurde sie nicht erfüllt von großer Stille und dem ehrfürchtigem Schweigen der Natur, wie sie es früher so viele Nächte lang gewesen war. Große Lautsprecher spuckten nun donnernde Gesänge in die Weite der Landschaft und zerstörten die Andacht der Dunkelheit. Nach und nach glitt ein gleißendes, ungesundes Licht durch die Fenster zu den unruhig wartenden hinein und tauchte die Zimmer in einen krankhaften grünen Ton. An Schlaf war nun nicht mehr zu denken.
Die Stunden dehnten sich. Ein- oder zweimal kam David zu ihnen ins Zimmer. Er sprach leise und beruhigend zu ihnen, doch wenn die Kinder ihn ängstlich fragten, wann dies alles vorbei sein würde, flackerte in seinem Blick eine Mischung aus Trauer und Grimm. „Bald“, sagte er.
Dylan wartete mit den anderen, schloss nervös seine Augen und fiel mit ihnen in Gebete ein. Seine Stirn war feucht, seine Hände klamm und sein Schlaf wogte wie Wellen von Panik und Kälte durch seinen Körper, den er mal hierhin, dann dorthin drehte, stets im Versuch Ruhe zu finden. Der Schlaf kam nicht.
Irgendwann musste er in eine seltsame Tiefe und Starre gefallen sein, denn als Dylan das reißende Geräusch hörte, welches stets entstand, wenn Hubschrauber über das Haus hinwegjagten, war draußen eine natürliche Helle eingetreten, hervorgerufen nicht durch die kranken Strahlen der Scheinwerfer, sondern durch die Sonne, von Gott erneut an ihren Platz über den Menschen gerückt.
Kurz nach ihrem Erwachen rief David sie in den großen Versammlungsraum. Sein Blick war leuchtend und klar und seine Stimme sang von Zuversicht. Die Hände weit ausgebreitet und mit einem leichten, fast angedeutetem Lächeln auf den Lippen, berichtete er, dass seine Arbeit an dem Buch über die sieben Siegel fast abgeschlossen sei, der freudige Tag der Apokalypse rücke näher. Ein tiefes Glänzen durchlief die Gesichter der Jünger, durchbrach ihre Erschöpfung und ihre Angst. Wie ein warmer Regen tropften Davids Worte gleichsam vom Himmel auf die Menschen hinab und durchrieselten ihre Seelen. Dylan fühlte, wie es ihn von oben nach unten erschauerte, wie die angekündigte Apokalypse ihn wie eine süße Ahnung durchfloss.
Am selben Tage erscholl wieder mehrmals das Telefon. David nahm keine Notiz davon, ertrug den schrillen, pfeifenden Ton des Klingelns mit einer Miene wie kalter, nasser Stein. Selbst wenn Schneider, der die Anrufe entgegennahm, versuchte, ihm den Inhalt des Telefonats zu übermitteln, oder ihn zu Antworten zu überreden, schüttelte David nur leise den Kopf und schwieg. Als mit Einsetzen der Dämmerung erneut die Lautsprecher aufgestellt wurden und alle mit panischem Schauder realisierten, dass sie auch diese Nacht nur wenig Schlaf finden würden, herrsche David Schneider schließlich an, er solle „denen sagen, dass wir rauskommen, wenn mein Buch fertig ist.“ Obwohl Schneider seine Aufgabe augenblicklich erfüllte, blieben die Lautsprecher auch diese Nacht nicht stumm.
So zogen sich die Tage dahin, endlos und wiederholend. Als wären sie wartende, Wäschestücke auf einer Leine, sanft schwankend im kalten, grauen Frühlingswind des Schicksals.

Gefangen in dieser endlosen Kette von Wiederholungen, erwachte Dylan eines Tages, wie so viele Tage zuvor. Die Nacht klebte um seine Augen, wie ein Fieber, dass man erst mit dem Aufstehen wahrnimmt. Neben ihm regte sich leise seine Frau und Dylan durchlief ein seltsamer Schauder, bei dem Gedanken, dass sie eine weitere Nacht zusammen verbracht und gemeinsam überlebt hatten. Wie lange würde diese Belagerung so weiter gehen, wann würde endlich der Morgen kommen, an dem auch das siebte Siegel brach? Dylan befreite sich aus seinen Laken und kleidete sich an. Durch das geschlossene Fenster konnte er die schwarzen Absperrungen am Rande des Hügels sehen, die Bewegungen der Polizisten in der Ferne. Und über ihnen, bis an sein Fenster heran, durcheilten silbern glänzende Wolken den Frühlingshimmel. Als er schließlich den Frühstücksraum betrat, lag ein sanftes Lächeln auf Dylans Lippen.
Das Essen ging heiter vonstatten. Die Gemeinschaft zeigte sich so ausgelassen und fröhlich, als wären die Sonnenstrahlen, welche durch das Fenster glitten, direkte Fingerzeige Gottes, die ihnen jede Furcht und jeden Glauben an den Tod nahmen.
Als das Frühstück beinahe beendet war, und sich die ersten Familien erhoben, durchlief mit einem Male ein gespenstisches Zittern die Wände des Raums. Das Geschirr vollführte einen klappernden Tanz, während alle erschrocken aufhorchten und nach und nach begannen, in Panik aus dem Frühstücksraum zu flüchten. Dylan nahm Frau und Kinder bei der Hand und ließ sich von dem wogenden Menschenstrom mit aus dem Raum tragen. Der Flur war von einem seltsam beißenden Geruch erfüllt, welcher im Hals kratzte und Tränen in die Augen jagte. Hustend und spuckend stolperten sie voran, unklar darüber, wohin sie sich überhaupt wenden sollten, als ihnen Schneider entgegenkam. Schnell führte er sie durch die Flure hin zur großen, offenen Kellertüre, wo er anordnete, sie sollten sich nach unten begeben und sich die Gasmasken aus den Kisten in den hinteren Räumen suchen. Da alle selbstverständlich im Umgang mit derlei Notfallplänen und Materialen vertraut waren, wusste man sofort, wo man zu suchen hatte.
Nachdem die Masken verteilt und die Tränen der Kinder getrocknet worden waren, lauschten alle bedächtig auf das Dröhnen und Krachen, welches von oben zu ihnen herunterschallte. Kein Zweifel: Das siebte Siegel war gebrochen worden.
Kurze Zeit später kamen David und Schneider zu ihnen herunter, ebenfalls mit aufgesetzten Gasmasken. David betete und alle schlossen sich ihm an. Während ihre Stimmen begannen, sich voller Klage und Stolz durch den Raum zu bewegen, drang dichter, schwarzer Rauch durch die Kellertüre zu ihnen hinunter.
Einige der Betenden begannen unruhig zu werden und waren drauf und dran nach oben zu stürmen. Doch da die große Mehrheit bei ihrem stillen, unerschütterlichem Gebet verharrten, blieben schließlich auch sie in der Menge stehen, bis der Rauch alle soweit umschlungen hatte, dass keiner mehr den anderen erkennen konnte.
Nach und nach sah Dylan immer mehr Lichtstrahlen durch die Dunkelheit des Qualms dringen. Sie wirbelten in Spiralen und Kreisen um ihn herum und vereinigten sich schließlich zu einer wogenden, wabernden Oberfläche, welche ihn an Wasser erinnerte. Doch obwohl das Licht den Qualm so klar zerschnitt wie die Morgensonne die Nacht, erhellte es keines der umstehenden Gesichter, auch nicht die von Dylans Frau, oder die seiner Kinder. Mit einem Male formte die stille Lichtsee türmende Wellen, welche über Dylan hinweggingen. Rasch streckte er seine Arme vor und begann durch die Flut zu schwimmen, wobei er in ratloser Panik mal hierhin, mal dorthin paddelte. Doch schnell merkte er, dass die Wellen zwar hoch und stürmisch fluteten, dabei jedoch keinerlei Druck oder Gewicht besaßen, sodass er sozusagen frei zwischen all den Lichtmassen schwebte.
Wenn die hohen, leuchtenden Wellen nun über ihm brachen, erhaschte er jedes Mal einen Einblick in einen langen endlosen Tunnel. Träge begann er in das verlockende Schimmern hineinzugleiten. Sanfte, engelsgleiche Stimmen drangen an sein Ohr, seltsame, fremdartige Worte wurden gesungen, deren Sinn dunkel blieb, aber alleine durch ihren Klang und eine gewisse Verstörtheit, mit der sie gesungen wurden, tief in die Seele drangen. Dylan schwebte in all diesem Licht und diesen feinen Stimmen und er fühlte wie die Wellen von Licht, die ihn umgaben zu Wellen von Licht, in seinem Inneren wurden, wie sich Gott selbst in die Seele Dylans setzte.
Am Ende des Tunnels stand eine große, von Licht umkränzte Gestalt. Mit einer sanften Geste nahm sie Dylans Hände in ihre und zog in immer weiter in das Licht hinein.
Obwohl es keine Zeit und keinen Raum mehr gab, schien es Dylan irgendwann so, als hätte das unendliche Spiel aus Licht, Gesang und Gefühl nach und nach ein Ende gefunden. Das Licht verblasste, der Gesang schien sich ins Nichts zu verirren und Dylan, der sein Ich zuvor in dieser gewaltigen göttlichen Allgewalt verloren hatte, fand sich mit einem Male wieder, in einen leeren Raum geworfen.
Nun ist es selbstverständlich schwer oder vielmehr unmöglich zu erklären, wie diese Leere aussah, in der er sich befand. Seinem ersten Impuls folgend, versuchte Dylan sich umzusehen, als er mit Schrecken erkannte, dass es in diesem Nichts kein Umsehen gab. Um zu sehen, hätte er Augen benötigt, doch war nichts davon zu spüren, dass er überhaupt noch einen Körper besaß. Dylan spürte keinen Verlust irgendwelcher Körperlichkeit, doch war weder irgendein Körper an ihm zu ertasten, noch zu erblicken. Mit unbegreiflicher Panik stellte er fest, dass er nun nicht mehr als ein bloßer Gedanke war.
Das Nichts um ihn herum war mit keiner Eigenschaft zu beschreiben, war nicht zu sehen und nicht zu hören, ja wenn Dylan ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass die Vorstellung, dass Nichts sei „um ihn herum“ schlichtweg falsch sein musste, da es nichts gab, was „Ihn“ von dem Nichts trennen sollte.
Wo war der Himmel? Wo das göttliche Licht? Stimmen, Engel und Gesänge hatten ihn hierher geleitet, warum fand sich nun anschließend nichts?
Wie Tintentropfen in ein helles, reines Glas Wasser, fiel die Panik in ihn und wirbelte schwarz in seinem Geist umher. Seine Gedanken rasten, marterten ihn, überschlugen sich zunächst und wurden dann abgehackt, verworren, Blitzen ähnlich, die am Horizont aufzucken. Anschließend schienen sie an Substanz zu verlieren, wertlos zu werden, fragwürdig zu werden. Dylan war sich nicht mehr sicher, ob er überhaupt noch dachte, ob der Fortbestand seines Gedankenstroms nicht nur ein äußerst alberner Irrtum sei. Wie könnten auch in all diesem Nichts noch Gedanken als wahrnehmende Instanz bestehen?
Verzweifelt versuchte Dylan Herr über all die zerstückelten Gedankenfetzen zu werden, welche kreuz und quer durch das träge Nichts zu gleiten schienen. Wie lange mochte er nun schon hier sein? Nur wenige Minuten? Eine Stunde vielleicht? War Zeit überhaupt in diesem seltsamen All überhaupt noch vorhanden? Träge, fast widerwillig ließ er seinen Geist Sekunden abzählen, doch kaum hatte er sich Sekundenzahlen wie die Eins, die Zwei und die Drei gedacht, brach er den Versuch wieder ab. Hier, in diesem allumfassenden Nichts, verloren die Zahlen jegliche Bedeutung, kaum waren sie gedacht und als feststehende Größe vorgestellt, fielen sie in sich zusammen.
Es ist unmöglich zu beschreiben, welche qualvollen Ewigkeiten Dylan durchlitt, während er als gedankliche Form das Nichts ausfüllte. Wollten wir einen mehr als unzureichenden Vergleich anstellen, um wenigsten Bruchstücke dieser Hölle zu erahnen, so erinnern wir uns vielleicht an Momente unseres Lebens, in denen wir zur Untätigkeit und damit zum Nachdenken verdammt, vor einem Problem standen. Schon in einer solch alltäglichen Situation kann das Ausmaß der Zersetzung und Zerstörung unserer Persönlichkeit durch die unkontrollierbare Grübelei uns schaudern machen. Der Wahnsinn und Destruktion, die ein derartiges Muster in einer solch kosmischen Erhöhung, wie sie Dylan widerfuhr, verbreiten muss, sind kaum zu denken.
Doch seltsamerweise schien es einen Gedanke durch die unzählbaren Ewigkeiten, welche die Ruinen, die einst Dylan beherbergt hatten, nun erfüllten, zu Geltung zu drängen: Wenn es unmöglich war „Dylan“ vom Nichts zu trennen, dann war Dylan das Nichts. Oder anders gesagt: wenn wir uns das Nichts absurderweise für nur einen kurzen Moment als „Raum“ vorstellen, dann war es ganz unzweifelhaft der Fall, dass „Dylan“ diesen Raum voll und ganz ausfüllte.
Und in den Ruinen von dem, was man einst Dylan genannt hatte, erhob sich ein leises Geflüster: war das möglich? War Dylan das Alles? Das All?
„Unfug!“, flüsterten die einen, „Ich bin Ich und Du bist Du. Es ist doch völlig hirnrissig zu glauben, dass wir ein und dieselbe Person sein sollen, nur weil es angeblich eine allumfassende Kraft geben soll, die Dylan heißt“.
„Aber sicher doch!“, flüsterten die anderen, „Wir alle sind ganz klein, im Vergleich zum Großen, Ganzen. Es ist egoistisch und engstirnig von uns zu glauben, dass nur wir auf dieser Welt existieren. Wenn wir uns umsehen, gibt es soviel zu sehen und zu bestaunen(was diese Flüsternden allerdings wahrnahmen, wenn sie sich „umsahen“ kann ich euch beim besten Willen nicht verraten, denn sowohl die wahrgenommenen „Dinge“, wie der Prozess der Wahrnehmung dieser flüsternden „Wesen“ ist unmöglich für den Menschen nachzuempfinden. Zudem ist „umsehen“ eine eigentlich mehr als holprige Übersetzung für das, was im Originalkontext gemeint war) soll das etwa alles nur für uns da sein? Nein, irgendwo muss es etwas großes geben, dass all dieses hier zusammenhält und wenn wir keinen Namen dafür haben, können wir es genauso gut Dylan nennen!“
Und so ging das Geflüster hin und her, Argumente wurden mal hierhin, mal dorthin geworfen. Schließlich mussten jedoch auch die Skeptiker zugeben, dass die Ruinen von dem, was man anscheinend einst Dylan genannt hatte, zumindest ein deutlicher Hinweis darauf waren, dass etwas mit Namen Dylan mal existiert haben musste und man es als allumfassende Kraft betrachtet hatte. Und wenn die allesumfassende Leere ganz von diesem Dylan ausgefüllt gewesen war, dann gab es keinen Grund in irgendeiner Weise eine Trennung zwischen dem Nichts und Dylan zu ziehen.
Also war Dylan Gott. Kein Zweifel.
Wie seltsam es wohl in Dylan ausgesehen haben musste, nachdem er diese einfache Tatsache in sein Bewusstsein gelassen hatte? Er, der früher (Ohgott, hatte es dieses „früher wirklich gegeben und wenn ja, wo war es hin verschwunden?) oft geglaubt hatte dem allumfassenden Gott zu dienen und seinen Regeln zu gehorchen, musste nun feststellen, dass er selber die ganz Zeit lang diese allumfassende Kraft gewesen war, ohne es je zu bemerken. Das ganze All, all das, was er früher, als „um sich herum“ empfunden hatte, war in Wirklichkeit in ihm gewesen. In Ihm hatten alle Bewegungen und Ereignisse stattgefunden, alles Äußere war nur Illusion gewesen. Mit jedem Atemzug, mit jedem Herzklopfen hatte er die Welt neu erschaffen, hatte sie vor sich auf- und vergehen lassen, so wie sich eine Blüte öffnet und schließt.
Tiefe Ruhe durchfloss das Nichts, von dem Dylan nun wusste, dass es seinen Körper darstellte. Langsam, bedächtig und mit formerischer Liebe, begann Dylan die Welt neu zu erschaffen. Leben wuchs empor, welches nie zuvor auf der Welt zuvor von jemandem erblickt worden war, Licht erstrahlte aus Sonnen, welche Formen und Strukturen annahmen, welche sich kein sterblicher Geist je auszudenken gewagt hätte.
Stimmen durchhallten den Raum: „Ja so ist es gut, pressen sie weiter, gleich ist er draußen!“ Stöße erschütterten den Raum, in dem sich Dylan befand und pressten ihn aus dem warmen, dunklen Ort hinaus in ein grelles, unwirkliches Licht. Hände hielten ihn in die Luft, Freudenrufe drangen an sein Ohr. Dylan öffnete den Mund und stieß einen lauten, schrillen und freudigen Ruf aus.

Ende
 



 
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