Kongruenz

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brain

Mitglied
„Wichtige Entscheidungen zu treffen,
ist die einzige Freiheit im Leben, die man hat.“
Cl. Razak

Matthias trat in die Pedale.
Er fuhr die Downtown Avenue hinunter und das rote Fähnchen, das am Gepäckträger seines Fahrrads befestigt war, flatterte im Fahrtwind.
Seine Mom hatte ihm einen Dollar gegeben und den wollte er jetzt im Kolosseum gegen Hot-Dogs und Kola umsetzen, doch zuvor musste er noch Patrick finden. Patrick war genauso alt wie Matthias, also sechzehn und sie waren die besten Freunde der Welt. Was immer Matthias auch tat, Patrick war mit von der Partie. Sie waren unzertrennlich.
Es war Mitte August, Spätsommer und die Sonne brannte heiß auf Peoria und seine Einwohner hernieder. Die Rasensprinkler liefen auf Hochtouren und die Schokolade schmolz einem in der Hand, bevor sie den Mund erreichen konnte. Es war die Zeit, in der man bis spät abends noch auf der Veranda sitzen und Eistee trinken konnte und in der so viele Barbecues und Grillabende veranstaltet wurden, wie zu sonst keiner Zeit im Jahr. Die Teenager fuhren, mit ihren von Mommy und Daddy gesponserten, Nobelkarossen an den nahe gelegenen Scarwood Lake, um zu balzen und zu baden und die Luft in der Stadt überschritt an den heißesten Tagen die erlaubten Smog-Spitzenwerte, sodass Sheriff Stapleton ein befristetes Fahrverbot über die Stadt verhängen musste, was Matthias´ Mom jedes Mal mit nicht zu verhehlender Genugtuung zur Kenntnis nahm. Sie sagte dann immer, dass jetzt wohl ein paar Marlboros laufen lernen mussten. Damit meinte sie die Typen, die mit ihren Autos sogar zum nächsten Zigarettenautomat fuhren und wenn nur die Hälfte, der blumigen Ausführungen seiner Mom, über die, mit dem Fortschritt logischerweise einhergehenden Faulheit, der Wahrheit entsprach, dann musste es eine ganze Menge Marlboros auf der Welt geben, dachte Matthias. Möglicherweise einen ganzen Stamm, man konnte ja nie wissen.
Der Eismann kampierte mit seinem fahrbaren Stand im Stadtpark und man konnte sich Eiscreme holen, wann immer wann Lust dazu hatte, vorausgesetzt natürlich, man war flüssig.
Matthias liebte den Sommer. Die Nächte waren kurz und die Luft roch, vor einem Regenschauer, so verheißungsvoll wie ein sehnsüchtiger Seufzer. Am Abend kamen die Glühwürmchen aus ihren Verstecken und segelten durch die Lüfte, wie winzig kleine Laternenträger aus dem Elfenreich.
Die langen Ferien waren natürlich das Beste an Allem. Sechs Wochen lang konnte man die Seele baumeln lassen und überlegen, wie man in Mathe wieder auf einen grünen Zweig kommen konnte, wenn die Schule wieder anfing.
Ferien waren sowieso das Allerbeste, dachte Matthias, doch in den folgenden zweiundvierzig Minuten sollte sich das schlagartig ändern, denn ihm stand ein Erlebnis ins Haus, dass noch viel besser war als Sommerferien und Softeis.
Seine Armbanduhr piepte und zeigte somit die nächste volle Stunde an.
Es war vier Uhr.

+

„Nein, hör mir zu, ich…“
„Ich hör dir überhaupt nicht zu!“
Hannah versuchte nun schon seit einer Woche, ihrem Ex-Freund Alex, aus dem Weg zu gehen, doch heute hatte er sie abgepasst.
Das mit dem „Ex“ hatte sie ihm anscheinend bisher noch nicht deutlich genug gesagt, was aber auch etwas damit zu tun hatte, dass sie ihre Gefühle, die sich in ihrer Brust zu einem schmerzhaften Knoten verwickelt hatten, nicht wirklich verstand.
Sie empfand noch etwas für ihn, doch die letzten Funken Zuneigung verloschen, langsam aber stetig. Außerdem war die Schlafzimmersituation, in Hannahs Augen, bereits eine unausgesprochene Abfuhr gewesen war.
Alex wollte sie in der Seitengasse neben Twinky´s zur Rede stellen. Sie machte sich auf Einiges gefasst, doch sie war für nichts gewappnet. Außerdem wollte sie überhaupt nicht mit Alex reden. Es fehlte gerade noch, dass er versuchen würde, mit einem Spruch wie:“ Es war nicht so, wie´s aussah, Babe,“ Vergebung für seinen Seitensprung zu erheucheln, was ihm sicher schwer fallen würde weiterzuspinnen, schließlich hatte sein Schwanz noch in Rhonda Metcalfs Pussi gesteckt, als Hannah die Beiden in flagranti erwischt hatte.
„Hör mir doch mal zu!“ Alex flehte sie an.
Hannah blieb stehen und sah ihm in die Augen.
Sie konnte sehen, dass Alex nervös war, doch das machte nichts, denn sie war ebenfalls aufgeregt.
Mehr als einmal hatte sie den Moment verflucht, in dem sie das Schlafzimmer betreten und Alex mit dieser Gemeinschaftsmatratze aus Omaha County im Bett erwischt hatte. Wie sehr wünschte sie sich, dass sie das alles aus ihrem Gedächtnis löschen könnte oder besser noch, nie gesehen hätte.
„Was? Willst du dich jetzt rechtfertigen, oder was kommt jetzt?“
Er blickte sie mutlos an, als wäre er zu der Einsicht gelangt, gegen Windmühlen anzukämpfen, obwohl die Schlacht noch nicht einmal begonnen hatte.
„Ich wollte dir nur sagen, dass mir alles, was ich dir angetan habe, furchtbar Leid tut.“ Er schluckte. „Das mit Rhonda…war ein einmaliger Ausrutscher und wird…nie wieder vorkommen, das verspreche ich dir.“ Er wartete einen Augenblick, um ihr die Zeit zu lassen, etwas zu sagen, doch sie schwieg und starrte ihn grimmig an.
„Außerdem hab ich da eine Wohnung an der Hand…in Chadwick…das ist nicht mal ne halbe Autostunde von dir entfernt. Wir könnten uns jeden Tag sehen, nicht bloß am Wochenende. „Wir…“
„Hör auf! Hör damit auf! Du…“ unterbrach sie ihn mit zitternder Stimme. „…es gibt kein wir mehr. Es ist aus zwischen uns.“
„Aber…Hannah…ich liebe dich.“
Sie schnaufte empört auf. „Das nennst du Liebe? Du hast mit einer Anderen geschlafen. In unserem Bett. In meinem Bett!“
Sie bahnte sich einen Weg an ihm vorbei und ließ ihn einfach stehen.
Niedergeschlagen blickte Alex ihr hinterher.
Es war drei Uhr siebenundfünfzig.

+

Mittlerweile war Matthias an der Pennsylvania Street angekommen.
Patrick wohnte hier, mit seinem Dad und seiner Schwester Melanie. Es war ein Mietshaus in ruhiger Lage, mit netten Nachbarn und einem schicken Vorgarten. Besser, als auf der Strasse zu leben, hatte Patricks Mom mal gesagt, als Matthias dabei gewesen war. Sie hatte sich zwei Monate später von Patricks Dad getrennt und war zu ihrem Lover nach Illinois gezogen. Patricks Dad sagte seitdem immer wieder zu Patrick, dass sie sich entschieden habe und dass man das respektieren müsse, doch für Patrick klang das wie gequirlter Bullshit. Seine Mom war nicht bei ihm, alles Andere war unwichtig für ihn.
Matthias betätigte mehrmals die Klingel, doch es schien niemand zu Hause zu sein. Resigniert schwang er sich auf sein Bike und fuhr in Richtung Stadtzentrum. Er schwitzte und dachte, dass er und Patrick ins Metroplitan Center gehen konnten, um sich ein Softeis zu kaufen und hätten immer noch genug Geld, um sich Hot-Dogs besorgen zu können. Sie könnten dann im Springbrunnen in der Galeria ein Fußbad nehmen, bis der pummelige Aufseher sie verscheuchte und das Leben genießen, weil die Sonne schien und die Welt sich noch drehte oder einfach nur so.
Matthias sprang mit seinem Bike vom Radweg und schoss über die Main Street. Sein Ziel war die Telefonzelle in der Porter Street.
Es war ein herrlicher Tag und nebenbei erwähnt, vier Uhr dreiundzwanzig.

+

Die Situation hatte sich zugespitzt.
Hannah war stehen geblieben und hielt sich die Ohren zu. Alex war ihr nachgegangen und redete ohne Unterlass auf sie ein, doch sie wollte ihm nicht zuhören, nie wieder und da war sie sich auch fast ganz sicher.
„Schluss jetzt“, rief sie ungeduldig und mit einem Zittern in der Stimme. „Du machst mich noch wahnsinnig...Lass mich...“ Sie taumelte ein wenig und stützte sich an der Hauswand ab „…in Ruhe…“, als wäre sie seekrank.
Alex und Hannah standen in der Gasse zwischen Beawer Pharms, der Apotheke von Peoria und Twinky´s, dem Einkaufszentrum und Müllzonnen, die hier herumstanden, stanken nach faulem Fisch und Zigarettenkippen. „Bitte, ich…“ Hannah wollte am Liebsten Allem entfliehen. Die ganze Situation machte sie rasend. „…kann nicht…“
Sie liebte Alex, das stand außer Frage, doch er hatte sie betrogen, sich für eine Andere entschieden und das konnte sie ihm einfach nicht verzeihen. Der schlimmste Fall, den sie sich hätte vorstellen können, war eingetreten, doch jegliche Vorstellungskraft verblasste vor der harten Realität zu Nichts.
In einem Kurs auf dem College, mit dem Namen „Sozialethik: Heute!“, hatte ein Dozent die hypothetische Frage aufgeworfen, ob man im dritten Reich einen Mordbefehl ausgeführt hätte oder stattdessen dazu bereit gewesen wäre, durch Befehlsverweigerung sein eigenes Grab zu schaufeln. Natürlich hatten mehrere Schülerinnen und Schüler eifrig beteuert, dass sie lieber sich selbst, als jemand Anderen getötet hätten, doch genau das war das tückische am Unterschied zwischen Theorie und Praxis: er war verdammt groß.
Auf manche Momente konnte man sich einfach nicht mental vorbereiten. Man wusste erst, wie man reagieren würde, wenn man es tat.
Sollte Hannah die Demütigung vergessen und Alex verzeihen oder sollte sie seinen Seitensprung als schlechtes Omen für ihre weitere Beziehung verstehen und ihn abservieren?
Sie wusste es nicht. Die letzten Tage hatte sie sich still verhalten, hatte sich nicht bei ihm gemeldet und war gramgebeugt in ihr Bettdeckenexil abgetaucht. Hannah hatte sich, besonders in der ersten Zeit, sehr gekränkt gefühlt und das war immer noch so, doch mittlerweile schmerzte sie der Verlust von Alex viel mehr, als die Schmach des Betrogenwerdens, aber das gestand sie sich nicht ein. Hannah war in einem Zwiespalt ihrer Gefühle gefangen, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gab. Alex weinte und flehte sie an, doch sie wollte nichts hören und wusste nichts zu antworten. Schließlich wusste er seine Ahnung, vergebens zu kämpfen, bestätigt und sah ein, dass es keinen Zweck hatte, weiter zu betteln. Mit gesenktem Kopf und gebrochenem Herzen drehte Alex sich um und verließ sie.
Es war vier Uhr neunundzwanzig.

+

Mit quietschenden Reifen bog Matthias in die Porter Street ein.
Die letzten Meter ließ er sein Rad bergab ausrollen und streckte die Beine vom Körper, sodass sie aussahen, wie zu hoch angebrachte Stützräder.
Aus der Gasse neben Twinky´s kam ein Mann heraus. Matthias beachtete ihn kaum, doch er sah, dass der Mann traurig aussah. Er hatte glasige Augen und einen starren Blick gehabt und hatte Matthias an den Darsteller eines George A. Romero Films erinnert, doch er hatte keinen weiteren Gedanken an den Mann verschwendet, der sofort nach einem Taxi gewunken und damit davon gefahren war. Ein paar Touristen, die in Schaufenster gafften und ein oder zwei Marlboros tummelten sich auf den Gehsteigen in den Einkaufspassagen von Twinky´s. Es herrschte träger Verkehr.
Die Geschäfte schlossen gerade, viel früher als gewöhnlich. Es war irgendein Feiertag, doch Matthias war entfallen, welcher. Er kettete sein Fahrrad vor der Telefonzelle an einem Hydranten fest und betrat sie. Der Münzschlitz fraß einen Quarter und Matthias wartete auf das Freizeichen. Dann wählte er Patricks Handynummer.
Es klingelte.
Hier, in der Telefonzelle, schien es noch heißer zu sein, als draußen. Vermutlich, weil die Sonne den ganzen Tag auf die Kabine herabschien und alles, was sich in ihr befand, briet, wie ein Spiegelei, dachte Matthias. Er öffnete die Tür so weit, wie es die Länge der Telefonschnur zuließ und hielt die Tür mit der Schulter auf, doch nicht die kleinste Brise wehte herein.
„…Hallo?...Wer ist da?“ Patrick war in der Leitung. „Hi, Alter. Was machst du? Ich war gerade bei dir zu Hause, aber…was? Okay, in zehn Minuten am Kolosseum. Alles klar. Bis dann.“
Matthias wollte gerade einhängen, als er innehielt und sich den Telefonapparat genauer ansah. Das war ein neueres Modell. Eins von denen, die sie nach dem großen Sturm, der vor neun oder zehn Jahren die halbe Innenstadt zerstört hatte, anstelle der alten Phon-Kabinen installiert hatten und die Dinger hatten eben ihre Stärken und ihre Schwächen. Dummerweise gab es eine hundertprozentige Garantie dafür, dass der Automat das Restgeld nicht herausgeben würde, denn Matthias hatte einen Quarter bezahlt und der war auf jeden Fall pfutsch. Also drückte Matthias nur kurz auf die Gabel und legte den Hörer auf die Ablage neben dem Automaten, an der das regionale Telefonbuch wie eine viereckige Spinne baumelte.
Jeden Tag eine gute Tat. Matthias war eben ein echter Boyscout.
Er kettete sein Bike los und fuhr in Richtung Kolosseum, wobei er fast mit einer hübschen Schwarzhaarigen kollidierte, die aus der Gasse zwischen Twinky´s und Beawer Pharms herausgestolpert kam. Matthias konnte das Rad gerade noch so fangen, bevor er sich bretterte. Waghalsig beschleunigte er auf dem Weg ins Kolosseum und hatte keine Ahnung, dass ihm der heftigste und schönste Orgasmus seines Lebens unmittelbar bevorstand oder besser gesagt, noch genau acht Minuten Zeit hatte auszubrechen, wie ein Vulkan.
Es war vier Uhr sechsunddreißig.

+

Hatte Hannah das Richtige getan? Hatte sie getan, was ihr Herz ihr gesagt hatte oder hatte sie auf ihren Verstand gehört, der sie davor bewahren wollte, dass man ihr wehtat? Sie wusste es nicht. Hannah wusste gar nichts mehr. Traurig dachte sie an Weihnachten bei Alex´ Eltern und an den Skiurlaub, den sie mit Alex in Graz verbracht hatte. Die kleinen Dinge wurden ihr wieder bewusst. Gefüllte Santa Clause Socken über dem Kamin, Valentinsblumen, Herbstspaziergänge und Handküsse trieben ihr die Tränen in die Augen, doch Hannah wollte nicht weiter darüber nachdenken. Sie fühlte sich unendlich leer.
Mittlerweile war es vier Uhr achtunddreißig.

+

Matthias hatte das Kolosseum erreicht und wartete auf Patrick, als es geschah. Er lehnte sein Fahrrad gerade gegen die Bank, auf die er sich setzen wollte und dachte an die Hot-Dogs, die auf ihn und Patrick warteten.
Die erste Welle war noch sehr schwach, doch dann durchströmte seinen Körper eine wohlige Flutwelle von Wärme und Geborgenheit, dass ihm die Luft wegblieb und er sich, nach hinten kippend, auf die Parkbank setzte. Er fühlte sich frei und losgelöst und wäre dieser Zustand von einer Droge hervorgerufen worden, so wäre er in diesem Moment zum Junkie geworden. Sein ganzes Blickfeld schien zu wackeln und sich zu wenden, bis die Welt, aus der veränderten Perspektive, die der Junge durch das Ereignis annahm, ein wahrhaftigeres Gesicht bekam, als je zuvor.
Matthias hatte weder davor, noch jemals wieder danach eine Empfindung von vergleichbarer Intensität und während sie ihn durchströmte, war er sich ihrer Flüchtigkeit bewusst und genoss sie in vollen Zügen, so lange sie andauerte.
Das Gefühl war unbezahlbar, doch er hatte nicht mehr dafür tun müssen, als den Hörer nicht aufzulegen.
Es war der schönste Tag in Matthias´ Leben und außerdem vier Uhr zweiundvierzig.

+

Hannah schluchzte. Es war alles so schnell gegangen, dass sie sich kaum bewusst war, was eben gerade geschehen war, doch wenn sie es auf einen Nenner brachte, war es eigentlich ganz simpel: sie hatte Alex aus ihrem Leben verbannt.
Nicht er hatte die Beziehung beendet, sondern sie. Klar, er hatte sie betrogen, doch insgeheim wusste sie, dass Alex sie liebte. Abgesehen davon war es normalerweise nicht seine Art, zu betteln. Er musste sich dazu überwunden haben. Aber…ein Ausrutscher… Gab es so was wie einen „Ausrutscher“ überhaupt?
Hannah wusste es nicht, doch sie wusste, dass derartige Überlegungen zu diesem Zeitpunkt irrelevant geworden waren. Alex war bereits auf dem Weg nach Europa und hatte Chadwick für immer begraben, ihretwegen. Diese Wohnung war sein letzter Trumpf gewesen, doch der Rest seines Blattes hatte nichts getaugt. Er hatte mit ihr reden wollen, um nicht fliegen zu müssen, um nicht fliehen zu müssen, doch sie hatte ihm keine andere Wahl gelassen.
In ungefähr einer Stunde würde Alex in einem Flieger der Peoria Air nach Frankfurt am Main sitzen und das Leben, das er in Staaten gehabt hatte, abgestreift und als unzureichenden Ersatz, ein neues übergestreift haben. Eines, das nach europäischem Essen und dem abgestanden Duft verwelkter Erinnerungen riechen würde.
Sie weinte. Es war endgültig, es sei denn…
…es sei denn, sie überwand ihren Stolz und verzieh Alex, doch dafür war es ja mittlerweile zu spät, oder?
Hannah lief aus der Gasse heraus und suchte den Vorplatz nach Alex ab, doch außer einem kleinen Jungen, der sie beinahe mit seinem Fahrrad über den Haufen fuhr, konnte sie nur ein paar vereinzelte Passanten sehen. Von Alex keine Spur.
Heute Morgen hatte Hannah sich noch gescholten, sich noch kein Handy zugelegt zu haben, obwohl ja jetzt jeder eins zu haben schien und jetzt hätte sie furchtbar gerne eins gehabt, um Alex anrufen zu können.
Die Telefonzelle!
Im Eiltempo überquerte Hannah den Vorplatz von Twinky´s und betrat die Telefonkabine.
Zuerst wunderte sie sich darüber, dass der Hörer nicht aufgelegt war und wollte ihn aus Gewohnheit auf die Gabel drücken, als ihr einfiel, dass sie kein Geld bei sich hatte. Entmutigt schluchzte Hannah auf, doch dann fiel ihr Blick auf das Display des Telefons und sie schöpfte neuen Mut.
Auf dem Display leuchtete ein Endbetrag von zehn Cent auf.
Das würde vielleicht gerade mal genug sein, um die Verbindung herzustellen. Sollte allerdings Alex´ Mailbox den Anruf annehmen, würde das Geld einfach durchrasseln und sie hätte keine Chance mehr, Alex zu sagen, was sie ihm sagen wollte, jetzt, als sie endlich fast davon überzeugt war, ihn für alle Zeiten verloren zu haben.
Hannah wählte die Nummer von Alex´ Handy, die sie glücklicherweise auswendig konnte und bemerkte kaum, dass ihre Finger dabei zitterten.
Das Klicken, das in der Leitung entstand, zerrte an ihren Nerven. Sie weinte.
Es klingelte.
Es klingelte.
Es klingelte.
Es klingelte und es klingelte erneut.
Gerade, als sie die Hoffnung aufgegeben hatte, hörte sie seine Stimme.
Ihr war klar, dass sie nur Sekundenbruchteile von Sekunden Zeit haben würde, um zu sagen, was zu sagen war, doch sie schaffte es gerade noch, bevor die Verbindung zusammenbrach.
„Komm zurück!“
Der Himmel war blau und es war exakt vier Uhr zweiundvierzig.
 

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„Wichtige Entscheidungen zu treffen,
ist die einzige Freiheit im Leben, die man hat.“
Cl. Razak

Matthias trat in die Pedale.
Er fuhr die Downtown Avenue hinunter und das rote Fähnchen, das am Gepäckträger seines Fahrrads befestigt war, flatterte im Fahrtwind.
Seine Mom hatte ihm einen Dollar gegeben und den wollte er jetzt im Kolosseum gegen Hot-Dogs und Kola umsetzen, doch zuvor musste er noch Patrick finden. Patrick war genauso alt wie Matthias, also sechzehn und sie waren die besten Freunde der Welt. Was immer Matthias auch tat, Patrick war mit von der Partie. Sie waren unzertrennlich.
Es war Mitte August, Spätsommer und die Sonne brannte heiß auf Peoria und seine Einwohner hernieder. Die Rasensprinkler liefen auf Hochtouren und die Schokolade schmolz einem in der Hand, bevor sie den Mund erreichen konnte. Es war die Zeit, in der man bis spät abends noch auf der Veranda sitzen und Eistee trinken konnte und in der so viele Barbecues und Grillabende veranstaltet wurden, wie zu sonst keiner Zeit im Jahr. Die Teenager fuhren, mit ihren von Mommy und Daddy gesponserten, Nobelkarossen an den nahe gelegenen Scarwood Lake, um zu balzen und zu baden und die Luft in der Stadt überschritt an den heißesten Tagen die erlaubten Smog-Spitzenwerte, sodass Sheriff Stapleton ein befristetes Fahrverbot über die Stadt verhängen musste, was Matthias´ Mom jedes Mal mit nicht zu verhehlender Genugtuung zur Kenntnis nahm. Sie sagte dann immer, dass jetzt wohl ein paar Marlboros laufen lernen mussten. Damit meinte sie die Typen, die mit ihren Autos sogar zum nächsten Zigarettenautomat fuhren und wenn nur die Hälfte, der blumigen Ausführungen seiner Mom, über die, mit dem Fortschritt logischerweise einhergehenden Faulheit, der Wahrheit entsprach, dann musste es eine ganze Menge Marlboros auf der Welt geben, dachte Matthias. Möglicherweise einen ganzen Stamm, man konnte ja nie wissen.
Der Eismann kampierte mit seinem fahrbaren Stand im Stadtpark und man konnte sich Eiscreme holen, wann immer wann Lust dazu hatte, vorausgesetzt natürlich, man war flüssig.
Matthias liebte den Sommer. Die Nächte waren kurz und die Luft roch, vor einem Regenschauer, so verheißungsvoll wie ein sehnsüchtiger Seufzer. Am Abend kamen die Glühwürmchen aus ihren Verstecken und segelten durch die Lüfte, wie winzig kleine Laternenträger aus dem Elfenreich.
Die langen Ferien waren natürlich das Beste an Allem. Sechs Wochen lang konnte man die Seele baumeln lassen und überlegen, wie man in Mathe wieder auf einen grünen Zweig kommen konnte, wenn die Schule wieder anfing.
Ferien waren sowieso das Allerbeste, dachte Matthias, doch in den folgenden zweiundvierzig Minuten sollte sich das schlagartig ändern, denn ihm stand ein Erlebnis ins Haus, dass noch viel besser war als Sommerferien und Softeis.
Seine Armbanduhr piepte und zeigte somit die nächste volle Stunde an.
Es war vier Uhr.

„Nein, hör mir zu, ich…“
„Ich hör dir überhaupt nicht zu!“
Hannah versuchte nun schon seit einer Woche, ihrem Ex-Freund Alex, aus dem Weg zu gehen, doch heute hatte er sie abgepasst.
Das mit dem „Ex“ hatte sie ihm anscheinend bisher noch nicht deutlich genug gesagt, was aber auch etwas damit zu tun hatte, dass sie ihre Gefühle, die sich in ihrer Brust zu einem schmerzhaften Knoten verwickelt hatten, nicht wirklich verstand.
Sie empfand noch etwas für ihn, doch die letzten Funken Zuneigung verloschen, langsam aber stetig. Außerdem war die Schlafzimmersituation, in Hannahs Augen, bereits eine unausgesprochene Abfuhr gewesen war.
Alex wollte sie in der Seitengasse neben Twinky´s zur Rede stellen. Sie machte sich auf Einiges gefasst, doch sie war für nichts gewappnet. Außerdem wollte sie überhaupt nicht mit Alex reden. Es fehlte gerade noch, dass er versuchen würde, mit einem Spruch wie:“ Es war nicht so, wie´s aussah, Babe,“ Vergebung für seinen Seitensprung zu erheucheln, was ihm sicher schwer fallen würde weiterzuspinnen, schließlich hatte sein Schwanz noch in Rhonda Metcalfs Pussi gesteckt, als Hannah die Beiden in flagranti erwischt hatte.
„Hör mir doch mal zu!“ Alex flehte sie an.
Hannah blieb stehen und sah ihm in die Augen.
Sie konnte sehen, dass Alex nervös war, doch das machte nichts, denn sie war ebenfalls aufgeregt.
Mehr als einmal hatte sie den Moment verflucht, in dem sie das Schlafzimmer betreten und Alex mit dieser Gemeinschaftsmatratze aus Omaha County im Bett erwischt hatte. Wie sehr wünschte sie sich, dass sie das alles aus ihrem Gedächtnis löschen könnte oder besser noch, nie gesehen hätte.
„Was? Willst du dich jetzt rechtfertigen, oder was kommt jetzt?“
Er blickte sie mutlos an, als wäre er zu der Einsicht gelangt, gegen Windmühlen anzukämpfen, obwohl die Schlacht noch nicht einmal begonnen hatte.
„Ich wollte dir nur sagen, dass mir alles, was ich dir angetan habe, furchtbar Leid tut.“ Er schluckte. „Das mit Rhonda…war ein einmaliger Ausrutscher und wird…nie wieder vorkommen, das verspreche ich dir.“ Er wartete einen Augenblick, um ihr die Zeit zu lassen, etwas zu sagen, doch sie schwieg und starrte ihn grimmig an.
„Außerdem hab ich da eine Wohnung an der Hand…in Chadwick…das ist nicht mal ne halbe Autostunde von dir entfernt. Wir könnten uns jeden Tag sehen, nicht bloß am Wochenende. „Wir…“
„Hör auf! Hör damit auf! Du…“ unterbrach sie ihn mit zitternder Stimme. „…es gibt kein wir mehr. Es ist aus zwischen uns.“
„Aber…Hannah…ich liebe dich.“
Sie schnaufte empört auf. „Das nennst du Liebe? Du hast mit einer Anderen geschlafen. In unserem Bett. In meinem Bett!“
Sie bahnte sich einen Weg an ihm vorbei und ließ ihn einfach stehen.
Niedergeschlagen blickte Alex ihr hinterher.
Es war drei Uhr siebenundfünfzig.

Mittlerweile war Matthias an der Pennsylvania Street angekommen.
Patrick wohnte hier, mit seinem Dad und seiner Schwester Melanie. Es war ein Mietshaus in ruhiger Lage, mit netten Nachbarn und einem schicken Vorgarten. Besser, als auf der Strasse zu leben, hatte Patricks Mom mal gesagt, als Matthias dabei gewesen war. Sie hatte sich zwei Monate später von Patricks Dad getrennt und war zu ihrem Lover nach Illinois gezogen. Patricks Dad sagte seitdem immer wieder zu Patrick, dass sie sich entschieden habe und dass man das respektieren müsse, doch für Patrick klang das wie gequirlter Bullshit. Seine Mom war nicht bei ihm, alles Andere war unwichtig für ihn.
Matthias betätigte mehrmals die Klingel, doch es schien niemand zu Hause zu sein. Resigniert schwang er sich auf sein Bike und fuhr in Richtung Stadtzentrum. Er schwitzte und dachte, dass er und Patrick ins Metroplitan Center gehen konnten, um sich ein Softeis zu kaufen und hätten immer noch genug Geld, um sich Hot-Dogs besorgen zu können. Sie könnten dann im Springbrunnen in der Galeria ein Fußbad nehmen, bis der pummelige Aufseher sie verscheuchte und das Leben genießen, weil die Sonne schien und die Welt sich noch drehte oder einfach nur so.
Matthias sprang mit seinem Bike vom Radweg und schoss über die Main Street. Sein Ziel war die Telefonzelle in der Porter Street.
Es war ein herrlicher Tag und nebenbei erwähnt, vier Uhr dreiundzwanzig.

Die Situation hatte sich zugespitzt.
Hannah war stehen geblieben und hielt sich die Ohren zu. Alex war ihr nachgegangen und redete ohne Unterlass auf sie ein, doch sie wollte ihm nicht zuhören, nie wieder und da war sie sich auch fast ganz sicher.
„Schluss jetzt“, rief sie ungeduldig und mit einem Zittern in der Stimme. „Du machst mich noch wahnsinnig...Lass mich...“ Sie taumelte ein wenig und stützte sich an der Hauswand ab „…in Ruhe…“, als wäre sie seekrank.
Alex und Hannah standen in der Gasse zwischen Beawer Pharms, der Apotheke von Peoria und Twinky´s, dem Einkaufszentrum und Müllzonnen, die hier herumstanden, stanken nach faulem Fisch und Zigarettenkippen. „Bitte, ich…“ Hannah wollte am Liebsten Allem entfliehen. Die ganze Situation machte sie rasend. „…kann nicht…“
Sie liebte Alex, das stand außer Frage, doch er hatte sie betrogen, sich für eine Andere entschieden und das konnte sie ihm einfach nicht verzeihen. Der schlimmste Fall, den sie sich hätte vorstellen können, war eingetreten, doch jegliche Vorstellungskraft verblasste vor der harten Realität zu Nichts.
In einem Kurs auf dem College, mit dem Namen „Sozialethik: Heute!“, hatte ein Dozent die hypothetische Frage aufgeworfen, ob man im dritten Reich einen Mordbefehl ausgeführt hätte oder stattdessen dazu bereit gewesen wäre, durch Befehlsverweigerung sein eigenes Grab zu schaufeln. Natürlich hatten mehrere Schülerinnen und Schüler eifrig beteuert, dass sie lieber sich selbst, als jemand Anderen getötet hätten, doch genau das war das tückische am Unterschied zwischen Theorie und Praxis: er war verdammt groß.
Auf manche Momente konnte man sich einfach nicht mental vorbereiten. Man wusste erst, wie man reagieren würde, wenn man es tat.
Sollte Hannah die Demütigung vergessen und Alex verzeihen oder sollte sie seinen Seitensprung als schlechtes Omen für ihre weitere Beziehung verstehen und ihn abservieren?
Sie wusste es nicht. Die letzten Tage hatte sie sich still verhalten, hatte sich nicht bei ihm gemeldet und war gramgebeugt in ihr Bettdeckenexil abgetaucht. Hannah hatte sich, besonders in der ersten Zeit, sehr gekränkt gefühlt und das war immer noch so, doch mittlerweile schmerzte sie der Verlust von Alex viel mehr, als die Schmach des Betrogenwerdens, aber das gestand sie sich nicht ein. Hannah war in einem Zwiespalt ihrer Gefühle gefangen, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gab. Alex weinte und flehte sie an, doch sie wollte nichts hören und wusste nichts zu antworten. Schließlich wusste er seine Ahnung, vergebens zu kämpfen, bestätigt und sah ein, dass es keinen Zweck hatte, weiter zu betteln. Mit gesenktem Kopf und gebrochenem Herzen drehte Alex sich um und verließ sie.
Es war vier Uhr neunundzwanzig.

Mit quietschenden Reifen bog Matthias in die Porter Street ein.
Die letzten Meter ließ er sein Rad bergab ausrollen und streckte die Beine vom Körper, sodass sie aussahen, wie zu hoch angebrachte Stützräder.
Aus der Gasse neben Twinky´s kam ein Mann heraus. Matthias beachtete ihn kaum, doch er sah, dass der Mann traurig aussah. Er hatte glasige Augen und einen starren Blick gehabt und hatte Matthias an den Darsteller eines George A. Romero Films erinnert, doch er hatte keinen weiteren Gedanken an den Mann verschwendet, der sofort nach einem Taxi gewunken und damit davon gefahren war. Ein paar Touristen, die in Schaufenster gafften und ein oder zwei Marlboros tummelten sich auf den Gehsteigen in den Einkaufspassagen von Twinky´s. Es herrschte träger Verkehr.
Die Geschäfte schlossen gerade, viel früher als gewöhnlich. Es war irgendein Feiertag, doch Matthias war entfallen, welcher. Er kettete sein Fahrrad vor der Telefonzelle an einem Hydranten fest und betrat sie. Der Münzschlitz fraß einen Quarter und Matthias wartete auf das Freizeichen. Dann wählte er Patricks Handynummer.
Es klingelte.
Hier, in der Telefonzelle, schien es noch heißer zu sein, als draußen. Vermutlich, weil die Sonne den ganzen Tag auf die Kabine herabschien und alles, was sich in ihr befand, briet, wie ein Spiegelei, dachte Matthias. Er öffnete die Tür so weit, wie es die Länge der Telefonschnur zuließ und hielt die Tür mit der Schulter auf, doch nicht die kleinste Brise wehte herein.
„…Hallo?...Wer ist da?“ Patrick war in der Leitung. „Hi, Alter. Was machst du? Ich war gerade bei dir zu Hause, aber…was? Okay, in zehn Minuten am Kolosseum. Alles klar. Bis dann.“
Matthias wollte gerade einhängen, als er innehielt und sich den Telefonapparat genauer ansah. Das war ein neueres Modell. Eins von denen, die sie nach dem großen Sturm, der vor neun oder zehn Jahren die halbe Innenstadt zerstört hatte, anstelle der alten Phon-Kabinen installiert hatten und die Dinger hatten eben ihre Stärken und ihre Schwächen. Dummerweise gab es eine hundertprozentige Garantie dafür, dass der Automat das Restgeld nicht herausgeben würde, denn Matthias hatte einen Quarter bezahlt und der war auf jeden Fall pfutsch. Also drückte Matthias nur kurz auf die Gabel und legte den Hörer auf die Ablage neben dem Automaten, an der das regionale Telefonbuch wie eine viereckige Spinne baumelte.
Jeden Tag eine gute Tat. Matthias war eben ein echter Boyscout.
Er kettete sein Bike los und fuhr in Richtung Kolosseum, wobei er fast mit einer hübschen Schwarzhaarigen kollidierte, die aus der Gasse zwischen Twinky´s und Beawer Pharms herausgestolpert kam. Matthias konnte das Rad gerade noch so fangen, bevor er sich bretterte. Waghalsig beschleunigte er auf dem Weg ins Kolosseum und hatte keine Ahnung, dass ihm der heftigste und schönste Orgasmus seines Lebens unmittelbar bevorstand oder besser gesagt, noch genau acht Minuten Zeit hatte auszubrechen, wie ein Vulkan.
Es war vier Uhr sechsunddreißig.

Hatte Hannah das Richtige getan? Hatte sie getan, was ihr Herz ihr gesagt hatte oder hatte sie auf ihren Verstand gehört, der sie davor bewahren wollte, dass man ihr wehtat? Sie wusste es nicht. Hannah wusste gar nichts mehr. Traurig dachte sie an Weihnachten bei Alex´ Eltern und an den Skiurlaub, den sie mit Alex in Graz verbracht hatte. Die kleinen Dinge wurden ihr wieder bewusst. Gefüllte Santa Clause Socken über dem Kamin, Valentinsblumen, Herbstspaziergänge und Handküsse trieben ihr die Tränen in die Augen, doch Hannah wollte nicht weiter darüber nachdenken. Sie fühlte sich unendlich leer.
Mittlerweile war es vier Uhr achtunddreißig.

Matthias hatte das Kolosseum erreicht und wartete auf Patrick, als es geschah. Er lehnte sein Fahrrad gerade gegen die Bank, auf die er sich setzen wollte und dachte an die Hot-Dogs, die auf ihn und Patrick warteten.
Die erste Welle war noch sehr schwach, doch dann durchströmte seinen Körper eine wohlige Flutwelle von Wärme und Geborgenheit, dass ihm die Luft wegblieb und er sich, nach hinten kippend, auf die Parkbank setzte. Er fühlte sich frei und losgelöst und wäre dieser Zustand von einer Droge hervorgerufen worden, so wäre er in diesem Moment zum Junkie geworden. Sein ganzes Blickfeld schien zu wackeln und sich zu wenden, bis die Welt, aus der veränderten Perspektive, die der Junge durch das Ereignis annahm, ein wahrhaftigeres Gesicht bekam, als je zuvor.
Matthias hatte weder davor, noch jemals wieder danach eine Empfindung von vergleichbarer Intensität und während sie ihn durchströmte, war er sich ihrer Flüchtigkeit bewusst und genoss sie in vollen Zügen, so lange sie andauerte.
Das Gefühl war unbezahlbar, doch er hatte nicht mehr dafür tun müssen, als den Hörer nicht aufzulegen.
Es war der schönste Tag in Matthias´ Leben und außerdem vier Uhr zweiundvierzig.

Hannah schluchzte. Es war alles so schnell gegangen, dass sie sich kaum bewusst war, was eben gerade geschehen war, doch wenn sie es auf einen Nenner brachte, war es eigentlich ganz simpel: sie hatte Alex aus ihrem Leben verbannt.
Nicht er hatte die Beziehung beendet, sondern sie. Klar, er hatte sie betrogen, doch insgeheim wusste sie, dass Alex sie liebte. Abgesehen davon war es normalerweise nicht seine Art, zu betteln. Er musste sich dazu überwunden haben. Aber…ein Ausrutscher… Gab es so was wie einen „Ausrutscher“ überhaupt?
Hannah wusste es nicht, doch sie wusste, dass derartige Überlegungen zu diesem Zeitpunkt irrelevant geworden waren. Alex war bereits auf dem Weg nach Europa und hatte Chadwick für immer begraben, ihretwegen. Diese Wohnung war sein letzter Trumpf gewesen, doch der Rest seines Blattes hatte nichts getaugt. Er hatte mit ihr reden wollen, um nicht fliegen zu müssen, um nicht fliehen zu müssen, doch sie hatte ihm keine andere Wahl gelassen.
In ungefähr einer Stunde würde Alex in einem Flieger der Peoria Air nach Frankfurt am Main sitzen und das Leben, das er in Staaten gehabt hatte, abgestreift und als unzureichenden Ersatz, ein neues übergestreift haben. Eines, das nach europäischem Essen und dem abgestanden Duft verwelkter Erinnerungen riechen würde.
Sie weinte. Es war endgültig, es sei denn…
…es sei denn, sie überwand ihren Stolz und verzieh Alex, doch dafür war es ja mittlerweile zu spät, oder?
Hannah lief aus der Gasse heraus und suchte den Vorplatz nach Alex ab, doch außer einem kleinen Jungen, der sie beinahe mit seinem Fahrrad über den Haufen fuhr, konnte sie nur ein paar vereinzelte Passanten sehen. Von Alex keine Spur.
Heute Morgen hatte Hannah sich noch gescholten, sich noch kein Handy zugelegt zu haben, obwohl ja jetzt jeder eins zu haben schien und jetzt hätte sie furchtbar gerne eins gehabt, um Alex anrufen zu können.
Die Telefonzelle!
Im Eiltempo überquerte Hannah den Vorplatz von Twinky´s und betrat die Telefonkabine.
Zuerst wunderte sie sich darüber, dass der Hörer nicht aufgelegt war und wollte ihn aus Gewohnheit auf die Gabel drücken, als ihr einfiel, dass sie kein Geld bei sich hatte. Entmutigt schluchzte Hannah auf, doch dann fiel ihr Blick auf das Display des Telefons und sie schöpfte neuen Mut.
Auf dem Display leuchtete ein Endbetrag von zehn Cent auf.
Das würde vielleicht gerade mal genug sein, um die Verbindung herzustellen. Sollte allerdings Alex´ Mailbox den Anruf annehmen, würde das Geld einfach durchrasseln und sie hätte keine Chance mehr, Alex zu sagen, was sie ihm sagen wollte, jetzt, als sie endlich fast davon überzeugt war, ihn für alle Zeiten verloren zu haben.
Hannah wählte die Nummer von Alex´ Handy, die sie glücklicherweise auswendig konnte und bemerkte kaum, dass ihre Finger dabei zitterten.
Das Klicken, das in der Leitung entstand, zerrte an ihren Nerven. Sie weinte.
Es klingelte.
Es klingelte.
Es klingelte.
Es klingelte und es klingelte erneut.
Gerade, als sie die Hoffnung aufgegeben hatte, hörte sie seine Stimme.
Ihr war klar, dass sie nur Sekundenbruchteile von Sekunden Zeit haben würde, um zu sagen, was zu sagen war, doch sie schaffte es gerade noch, bevor die Verbindung zusammenbrach.
„Komm zurück!“
Der Himmel war blau und es war exakt vier Uhr zweiundvierzig.
 



 
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