Kontaktimprovisation

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Andi

Mitglied
Kontaktimprovisation

Meine zweite Ehe war zu Ende gegangen, auch diesmal hatte meine Frau das gemeinsame Kind einfach behalten. Ich stand erneut vor dem Nichts. Mir fehlte eine Partnerin, ich sehnte mich nach meinem kleinen Sohn. Die Fünfzig hatte ich bereits überschritten, vor mir lag der Weg ins Alter. Wie sollte ich mit dieser Restgröße umgehen? Die Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten war vorüber. Ich hatte versucht, sie zu nutzen, in vielen verschiedenen Städten im In– und Ausland gelebt, auf unterschiedlichste Weise meinen Lebensunterhalt verdient – aber jetzt?
Es blieb nur eine Chance. Ich musste mich auf mich selbst besinnen, auf meinen inneren Reichtum, meine Erfahrung. Mich wahrnehmen, den eigenen Körper in der Bewegung, den Leib im Atem, die Seele im Traum. Ich wollte endlich mit mir ins Reine kommen, mit meiner Vergangenheit, der Kindheit, den Eltern.
Ich allein war verantwortlich für mein Leben, nicht die autoritären Eltern, nicht die untreuen Partnerinnen. Wenn es mir gelänge, gut für mich zu sorgen, mich mit mir anzufreunden, würden andere (womöglich sogar eine liebe Frau) wieder auf mich zugehen. Wenn ich im eigenen Inneren nach mir suchte, würde mich im Außen schon jemand finden.
Leichter gesagt als getan. Wie sollte ich mich mit jemandem anfreunden, der als Ehemann, Vater und Berufstätiger kläglich versagt hatte? Seufzend betrachtete ich im Spiegel meine Falten und Runzeln, die ergrauenden Haare. Meine Schusseligkeit verfluchend suchte ich Schlüssel und Brieftasche.
Um aus meinem Stimmungstief herauszukommen, wollte ich tanzen gehen. Ich hatte von einer Einrichtung gehört, die sich Freitänzer nannte. Keine wirkliche Disco, einfach eine ehemalige Lagerhalle mit Musik zum Austoben. Das war es, was ich brauchte. Ich wollte meine Verzweiflung aus mir herausschleudern, meine Wut in den Boden stampfen, mich frei tanzen.
Ich verschmähte den Lastenaufzug. Den vierten Stock erklomm ich auf der schmucklosen Stahlbetontreppe. Oben musste ich die Schuhe ausziehen, die Halle durfte nur barfuß betreten werden. Unter den ausgelassen Tanzenden waren zum Glück auch einige Ältere, so war ich wenigstens nicht der einzige Gruftie. Trotz meiner starken Kurzsichtigkeit hatte ich die Brille zu Hause gelassen, damit sie mir beim Tanzen nicht von der Nase rutschte. Das Schummrige der Beleuchtung wurde durch Schwarzlicht, das alles in einen leichten Dunst zu hüllen schien, noch verstärkt.
Um mir Mut zu machen, beschloss ich ein Bier zu trinken. Ich hatte seit Monaten keinen Alkohol getrunken. Das Getränk wirkte augenblicklich. Ich setzte mich auf eine Isomatte an der Wand und bewunderte den Hüftschwung einer tanzenden Schönen. Gelegentlich übten zwei, die sich auf der Tanzfläche begegneten, Kontaktimprovisation. Das war wieder so etwas aus Amerika. Zeitgleich musste man die Bewegungen seines Gegenübers möglichst genau nachahmen, dabei durfte man ihn auch berühren.
Obgleich mir der Computersound nicht in die Beine fuhr, mischte ich mich unter die Tänzer. Eine Weile bewegte ich mich willkürlich im Takt der Musik, bis mich der Beat im Innersten erfasst hatte - dann brauchte ich nur noch loszulassen. Die Halle war nicht sehr breit, schien aber unendlich lang. Immer weiter zog mich mein Tanz in den Raum hinein.
Plötzlich tauchte mir gegenüber ein Mann auf, der die Kontaktimprovisation meisterhaft beherrschte. Mit erstaunlichem Geschick setzte er in der gleichen Weise wie ich die Füße, schwang die Arme, warf den Kopf hin- und her. Belustigt und geschmeichelt lächelte ich dem Unbekannten zu. Im gleichen Augenblick lächelte er zurück. „Was für ein sympathischer, gutaussehender Mann und wie herzlich er dir zulächelt“, dachte ich gerührt. Ich tanzte auf ihn zu, er auf mich. Auf einmal streiften meine Fingerkuppen etwas Kühles, Glattes. Da wurde mir klar: “ Das bist du ja selbst!“
Die Rückwand der Halle war vom Boden bis zur Decke mit einem riesigen Spiegel verkleidet.
 



 
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