Kontrolle

Eve

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Kontrolle

An einem Mittwoch hatte sie damit begonnen, alles aufzuschreiben. An einem Mittwoch vor sechs Jahren. Sie wusste das deshalb so genau, weil sie mühelos in ihrer eigenen Vergangenheit zurückwandern konnte, wie sie wollte. Sie konnte den Film in ihrem Kopf zurückdrehen wie die Spule eines alten Super-8-Projektors und rückwärts verfolgen, was wann geschehen war. Und wenn sie kurz zurückblickte, konnte sie heute sagen, dass der Tag ihrer neuen Ordnung vor sechs Jahren gewesen war. Zufrieden blickte sie auf die Mappe vor sich auf dem Schreibtisch, in der sie all ihre Zettel und Notizen aufbewahrte. Ihren Kontostand hatte sie heute schon überprüft und mit den Zahlen auf ihrer Liste verglichen. Es hatte alles gestimmt. Aber das war keine Überraschung. Sie hatte auch die Liste mit den Dingen, für die sie sparte, angepasst. Für jede Anschaffung gab es eine Viertelfläche auf dem quadratischen Zettel; vier Posten auf der Vorderseite und zwei größere auf der Rückseite. Zahlenkolonnen machten es einfach, zu verfolgen, wann welche Summe hinzuaddiert worden war. Immer, wenn für ihr Empfinden zu viel Durcheinander auf dem Zettel herrschte, tauschte sie ihn aus und schrieb alle Zahlen zu einer neuen Summe addiert säuberlich auf einen neuen Zettel. Sie mochte Rechnungen, die aufgingen. Es vermittelte ihr ein gutes Gefühl. Sie mochte es auch, wenn am Monatsende etwas auf ihrem Konto übrig blieb – eine weitere Zahl, die sie ihren Zetteln hinzufügen konnte!

Aber es gab auch Listen ohne Zahlen – DIN-A-4-Seiten, auf denen sie aufgeschrieben hatte, was sie zu erledigen hatte, was sie in dieser Woche einkaufen musste und was sie vielleicht sonst noch brauchen könnte. Es gab eine Liste mit Büchern ihrer Lieblingsschriftsteller, auf der sie abstrich, welche Bücher sie schon gekauft hatte. Und es gab eine Liste, auf der sie die Tage eintrug, an denen es ihr gut gegangen war.

Manchmal hielt sie kurz inne und fragte sich, ob sie mit all ihren Zetteln nicht übertrieb, ob sie nicht längst zu einem dieser Menschen geworden war, die sich Hunderte Male am Tag die Hände waschen mussten oder die das Haus nicht verlassen konnte, ohne noch zehn Mal zu prüfen, ob der Herd auch ausgeschaltet war. Aber was konnte an einfachen Zetteln falsch sein? Beruhigt ließ sie solche Gedanken schnell wieder ziehen. Wenn ihre Zettel denn eine Wirkung hatten, dann eine gute. Durch die Worte und Zahlen auf ihren verschiedenen Blättern schaffte sie eine Verbindung, sie wurde zu einem Teil der Dinge, die sie notiert hatte. Sie schrieb sich in ihr eigenes Leben fest. Und sie mochte die Übersicht – denn das bedeutete, dass SIE den Überblick hatte, dass SIE der Chef war!

Es war dringend notwendig, dass sie der Chef war und die Oberhand behielt. Denn an die Zeiten, in denen sie das nicht gewesen war, mochte sie sich nicht zurück erinnern. Nicht zu wissen, was der Tag bringen würde und stattdessen darauf angewiesen sein, jede Information, jedes Wissen, jede Erlaubnis von anderen zu erbetteln, abhängig zu sein – das alles gehörte zu einer Zeit, die sie weit von sich geschoben hatte.

Am folgenden Morgen nahm sie nicht die Bahn, um zur Arbeit zu kommen. Sie mochte die Enge in dem oft stickigen Waggon nicht, die Nähe zu anderen Menschen. Obwohl sie zu ihrem Schutz immer ein Buch dabei hatte, in das sie sich versenken und so den anderen entfliehen konnte, war ihr deren Nähe dennoch unangenehm bewusst. An diesem Morgen fuhr sie mit dem Auto, ließ sich von der Musik ihrer aktuellen Lieblings-CD in den Tag tragen. Das Lied, das spielte, hatte einen traurigen Text. Er übertrug sich auf sie, breitete sich in ihr aus und machte sie ebenfalls traurig – trotzdem drückte sie immer wieder den Knopf, der das Lied von Neuem beginnen ließ. Wie die Spule in ihrem Kopf. Immer wieder stoppte diese an einer bestimmten Stelle, brachte Bilder zum Stehen, die so großen Kummer in ihr auslösten, dass sie glaubte, daran zu ersticken. Hier im Auto gab es keine Buchstaben, an denen sie sich festhalten konnte. Es gab auch keinen Stift, den sie akribisch über weiße Seiten schicken konnte, um immer neue Ziele aufzuschreiben, die sie pedantisch verfolgen konnte. Hier gab es nur ihr schweres Herz, das übervoll zwischen ihren Rippen drückte. Sie schluckte trocken. So oft schon, wenn sie in einem Auto saß, hatte sie sich gewünscht, nicht anhalten zu müssen. Einfach weiterfahren zu können und niemals irgendwo ankommen zu müssen.

Loszulassen.

Bisher hatte die Vernunft gesiegt, bisher hatte sie sich am Ablauf ihres berechneten Tages festgehalten. Bisher hatte sie immer angehalten, war aus dem Auto ausgestiegen und hatte ihre Aufgaben erfüllt. Und fast jeden Tag waren neue Punkte auf ihren Zetteln hinzugekommen; Punkte, die sie pflegen konnte und die am nächsten Morgen auf sie warteten.

Die Stimme aus dem Lautsprecher sang irgendetwas von "loslassen, um anzukommen". Vielleicht, dachte sie, waren ihre ganzen Listen nur der Versuch, Anker zu werfen und ankommen zu können in einer anderen Zeit. Und indem sie versuchte, sich über ihre ganzen Schreibereien mit ihrem Jetzt zu verbinden, kettete sie das Alte unweigerlich genauso fest an sich – immer wieder und wieder.

Als sich an diesem Morgen die Autobahnausfahrt näherte, die sie zu ihrem Arbeitsplatz führte, zögerte sie. Das Lied war wieder angelaufen und drängte sich mit säuselnder Melodie in ihre Gedanken. Die Stimme der Sängerin war leise aber eindringlich, vermischte sich mit dem grünen Band der verwischten Bäume und Sträucher am Straßenrand. Mit gedrosselter Geschwindigkeit fuhr sie schließlich unsicher an der Abfahrt vorbei.

Sie würde nachdenken müssen.
 



 
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