Krogmann

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sajo

Mitglied
Krogmann

Dass der Wunsch so stark war überraschte ihn selbst, doch er wollte auf die Dunkelheit warten. Er stellte seinen Rucksack neben sich ab und setzte sich ins Gras, ohne zu überlegen, ob er sich mit Mövenkot beschmutzte. Er schaute nach Norden, dem abfließenden Wasser hinterher, nach draußen, ins Offene. Außer zwei Frachtschiffen, die in großer Distanz rechts von ihm die Flussmündung verließen, aufs Meer hinaus und zu fernen Häfen hin steuerten, war sein Gesichtsfeld frei. Die Möwen störten seinen Blick ganz und gar nicht, sie waren Vertraute und lebten mit Sand, Watt und Wasser, so wie auch die Gänse und er mit dieser Landschaft gelebt hatte. Sie stiegen auf und ließen sich wieder fallen, trippelten über die feuchtglänzende Oberfläche, hackten mit ihren spitzen Schnäbeln nach Wattwürmern und kleinen Krebsen, die sie gleich an Ort und Stelle zerkleinerten und hinunterschlangen oder im Schnabel davontrugen, um ihre gellend nach Nahrung schreiende Brut kurzfristig zu besänftigen. Wie ein einziges schrill übersteuertes Lied klangen die Schreie der Jungvögel aus tausenden von Nestern, die hier auf der Insel, geschützt, im Gras am Boden, gebaut wurden von Vögeln, die er in früheren Jahren beobachtet und katalogisiert hatte. Krogmann holte seine Thermoskanne aus dem Rucksack und goss sich einen Tee ein. Irgendwo ganz weit draußen war Helgoland zu ahnen.
Am Morgen hatte er beim großen Parkplatz hinter dem Deich einen Parkschein für eine Woche gekauft, hinter die Windschutzscheibe gelegt und seinen Wagen in einer der hinteren Reihen abgestellt. Dann hatte er sich auf der Promenade in eines der Cafes gesetzt, die er früher gemieden hatte, inmitten von zeitunglesenden Ehepaaren, die sich nichts mehr zu sagen hatten, Kindern, die nach einem neuen Drachen, einem Eis oder einer Schaufel für den Strand quängelten, und Fußgängern, die mit Kühltaschen und Badezubehör beladen einem neuen Tag im Strandkorb entgegen schlurften. Dabei konnte man hier dreiviertel des Tages noch nicht einmal baden, und selbst in den wenigen Stunden der Flut fand man Wasser, das wenigstens bis zu den Hüften reichte, erst sehr weit draußen. Aber heute hatte er sich das Frühstück „Waterkant“ gegönnt, mit frischen Krabben, Spiegelei und Zwiebeln auf Schwarzbrot – so wie er es sich früher manchmal draußen, auf dem einflammigen Kocher, selber zubereitet hatte. Zuhause, in der Wohnung, wäre ihm das unpassend erschienen.
Krogmann hatte beim Tee gewartet, bis die Karawane der Pferdefuhrwerke mit den Tagestouristen abgefahren war. Die schweren Gäule mit ihren breiten Hufen wussten, was sie zu tun hatten, sie taten es jeden Tag in jeder Saison. Mit ablaufendem Wasser zogen sie den hochrädrigen Wagen mitsamt erwartungsvollen, gespannten Gästen über die Wattstraße hinaus zur Insel, und nach einer Erholungspause für Mensch und Tier ging es, mit nun von der Sonne, der Meeresluft und dem eintönigen Geruckel des Wagens ermüdeten Besuchern, wieder zurück in den heimischen Stall gleich hinter dem Deich. Auch die Schar der enthusiastischen Wattwanderer hatte Krogmann vorausgehen lassen, bis sie sich zwischen den als Wegmarkierung aufgerichteten Rutenbündeln nur noch als kleine Punkte abzeichneten. Dann erst war er aufgebrochen. Schon wenige hundert Meter vom Strand entfernt war er auf der weiten, graubraun schimmernden Fläche allein, hatte Priele gemieden und festen Grund gesucht, auf dem es sich leicht gehen ließ.
Er hatte die kleine Insel erreicht, als sich die ersten Pferdewagen schon wieder auf den Rückweg machten und letzte Tagesgäste aus einem der Restaurants oder vom Spaziergang dem Sammelpunkt der Kutschen zustrebten. Krogmann hatte die wenigen Häuser der Insel in weitem Bogen umgangen. Über grüne Weiden war er zwischen Kühen und Schafen hindurch zum Badehäuschen gelangt, das vor vielen Jahren zuäußerst am Meer, im Vorland, auf einer kleinen Erhöhung gebaut worden war. Weiß, im Bäderstil mit vielen kleinen, von Sprossen eingerahmten Fenstern, stand es merkwürdig quadratisch und einsam in der Fläche des Graslandes. Und wie jedesmal hatte ihn der Anblick dieses einfachen Häuschens gerührt und erinnert an Gefühle, für die er keine Worte hatte. Er war eingetreten, hatte seine Sachen auf den Tisch gelegt und sich auf die Bank am Fenster gesetzt. Auf der anderen Bank hatte manchmal Ingrid gesessen. Sie hatten Teegetrunken und zusammen hinausgeschaut.
Später hatte er vom Badeplatz aus das Einlaufen der Flut beobachtet, stundenlang auf das Sickern, Gluckern, Rauschen und Gurgeln gelauscht und an sie gedacht, wie schon so oft beim Hereinströmen des Meeres. Auch diesmal hatte er ohne alle Hoffnung, dass ihm das Meer Ingrid zurückgeben könnte, gewartet. Und das Meer hatte ihm auch heute nicht erklären können, warum sie ihre Krankheit nicht mit ihm zusammen hatte aushalten wollen, sich von einem Fahrgastschiff nach Helgoland ins Meer gestürzt hatte. In sein Meer, bei seiner Insel.
Als es dunkelte ging er ins Häuschen zurück, spülte seine Thermoskanne aus, nahm seinen alten Parka aus dem Rucksack und setzte sich auf die Bank am Fenster. Schließlich holte er das Buch mit den Eintragungen der Besucher hervor und schrieb hinein: „Ich gehe jetzt Ingrid suchen. Krogmann“ Dann zog er seinen Parka an, verließ das Häuschen und klappte die Tür hinter sich zu. Auch jetzt noch, in der Dunkelheit, war das Schreien der Möwen ohrenbetäubend. Auf seinem Weg zum Strand hinunter wollte er in keines ihrer Nester treten, vorsichtig suchten seine Füße einen Pfad. Als er bis zu den Knien im Wasser stand wählte er an einer Buhne einige große Steine aus und steckte sie in die Taschen seines Parkas. Dann ging er weiter, vor sich weit draußen nur noch Lichter eines Schiffes.
 
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Hallo sajo!

Eine melancholische, traurige Geschichte, einfühlsam erzählt.

Der Vorlauf ist für mein Gefühl etwas zu ausufernd und zu beschreibend; es dauert lange, bis man als Leser zum Kern dieser Selbstmordgeschichte vorgedrungen ist.

Als Nordseeküstenbewohnerin kann ich jedoch jede einzelne Beobachtung über den Touristenrummel aus eigener Erfahrung bestätigen. Du hast sehr genau hingesehen. :)

Gruß, Hyazinthe
 

Wipfel

Mitglied
...ich hätte ja einiges zu diesem Text anzumerken, jedoch sehe ich, dass du nur Werke einstellst, nichts kommentierst. Also auch nicht reagierst. Also brauchst du unsereins nicht.
 



 
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