Kugelsicher - Eine etwas andere Sichtweise

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Woodbrick

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Kugelsicher - Eine etwas andere Sichtweise

Am Anfang war es Blei

Geboren wurde ich in einer schmierigen kleinen Fabrik, in der es nach geschmolzenem Blei, Schmieröl, Pulver und Schimmel roch. Damals bekam ich auch meinen Namen, doch der bedeutete mir nie etwas. Inzwischen habe ich ihn vergessen.
In den Augen der meisten Menschen werde ich immer nur ein Stück Blei sein, das versucht, mit einer hübschen Ummantelung aus Kupfer seine wahre Bestimmung zu verschleiern: Das Töten.
Dafür existiere ich.

Gegossen in dieser schäbigen Halle, irgendwo am Ende der Welt, wusste ich kaum, wie mir geschah, da fiel ich aus meiner Form auf ein Fließband. Am Ende der Förderlinie packte mich eine Hand und stopfte mich in das obere Ende einer mit Schießpulver gefüllten Kupferröhre.
Nun hatte ich mein gesamtes Wachstumsspektrum durchlaufen.
Ich bekam einen Platz in einer kuscheligen Pappschachtel neben 19 meiner Kameraden; und kaum da ich das Licht der Welt erblickt hatte, wurde mir die Aussicht wieder genommen. Um mich herum wurde es dunkel und alle Geräusche erschienen von nun an gedämpft. Mit viel Geruckel wurde meine Schachtel in eine Kiste geschmissen und ich hörte wie man einen Deckel aufnagelte.
Jetzt hing alles vom Zufall ab, was konnte ich schon tun, um meine Zukunft zu beeinflussen? Ich war der Welt hilflos ausgeliefert und konnte nur hoffen, meine Bestimmung erfüllen zu können.


Etwa drei Tage und zwölf Stunden später wurde der Deckel wieder von der Transportkiste gerissen. Das Holz war trocken und knirschte erbärmlich unter den grobschlächtig angesetzten Hebeln der Brechstange meines neuen Besitzers. Ein feiner Lichtstrahl fiel durch den Spalt am Deckel und frische Luft flutete ein. Hier lag der beklemmende Geruch der Fabrikhalle in weiter Ferne, jetzt roch es nach feinem Holz, frischer Erde und Regen.
Man holte die Schachteln aus der Kiste und stellte uns auf eine Werkbank. Der Deckel wurde geöffnet und ich konnte sehen wo ich war - es sah aus wie eine kleine Manufaktur. An den Wänden hingen Flinten und Gewehre, überall standen Arbeitstische, auf denen Werkzeuge verstreut waren und durch ein großes Fenster in der Wand drang der herrliche Sommersonnenschein hinein. Ein großer Baum bescherte uns tanzende Schatten an der Wand, aber mein Glück sollte nur kurz währen:
Die Schachtel wurde wieder verschlossen und in ein Regal gelegt. Eine schwere Tür schloss sich, Panzerstahlriegel schoben sich heraus und ein Schlüssel klapperte. So viel zu meiner gerade neu gewonnenen Freiheit.

Etwa ein Jahr lang lag ich in meinem Gefängnis, in dem ich meine Umwelt nur sehr dumpf wahrnehmen konnte, wie das eben so ist, hinter siebeneinhalb Zentimeter Panzerstahl.
Dennoch bekam ich in dieser Zeit so einiges mit: Ich wusste nun mit absoluter Sicherheit, dass ich bei einem Büchsenmacher gelandet war. So weit so gut. Was mich jedoch, nach etlichen belauschten Gesprächen der Mitarbeiter und den Kunden, zunehmend beunruhigte, war die Tatsache, dass es scheinbar längst nicht alle Kugeln in ein Ziel schafften. Die meisten gingen wohl daneben. Toll, da hatte man schon nur einen einzigen Lebensinhalt, und der würde einem vermutlich verwehrt bleiben. Doch ich dachte weiter an das, was ich wollte. Und nach etlichen Geschichten, die dumpf zu mir gedrungen waren, sah ich vor meinem inneren Auge auch schon, was ich begehrte: Ich wollte einen tödlichen Treffer. Ein kleines Loch in einem Hirsch oder einem anderen kapitalen Tier, und beim Austritt eine feine Wolke roter Blutstropfen, einen tödlichen, Leben aushauchenden Nebel, der in der untergehenden Sonne für Sekundenbruchteile aufflammt. Dann hätte mein Leben einen Sinn. Was danach geschehen sollte? Darüber machte ich mir keine Gedanken.
Es sollte der Tag kommen, da sah ich alle meine Chancen auf meinen Traum vergehen, doch dieser Tag war noch fern. Ich hoffte insgeheim, mehr von der Welt sehen zu können als nur diese Pappschachtel, bevor ich durch einen langen Tunnel hindurch das Ziel meiner Träume sehen konnte. Und es würde sich eine Chance dazu ergeben, da war ich mir ganz sicher.


Neue Aussichten

Ich war nun schon recht lange in meiner Verpackung gefangen und hätte wohl bald den Glauben auf eine Besserung verloren, als eines Tages ein junger Mann in den Laden mit dem Panzerschrank kam, und ein Schachtel Patronen verlangte. Quietschend öffnete sich meine Gefängnistür und ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich leicht durchgeschüttelt wurde. Ich wurde endlich verkauft!
Fünfunddreißig Euro- das war ich mit meinen neunzehn Gefährten wert. Das hieß im Umkehrschluss, dass man mit so wenig Geld zwanzig Mal töten konnte. Ein Angenehmer Schauer lief mir über meine Hülse.
Doch die Hoffnung, die Welt zu sehen, verflog bald wieder.
Frustriert musste ich nach einer kurzen Autofahrt feststellen, dass ich wieder in einem Schrank, der zwar nicht ganz so dick, aber wieder verschlossen war, verschwinden würde.
Meine Laune besserte sich jedoch zusehends, als ich bemerkte, dass der junge Jäger, der meine Schachtel erworben hatte, regelmäßig Patronen aus seinem - und natürlich meinem - Tresor nahm. Meine Vorfreude auf den großen Moment steigerte sich im Laufe der Wochen ins Unermessliche. An den Wänden draußen vor dem Schrank hingen jede Menge Trophäen- Hirsche, Rehe, Vögel, Ziegen, Raubtiere. Ich überlegte mir, welche wohl die schönste war, und entschied mich für den großen Hirschkopf gleich neben dem etwas zerzaust aussehenden Fuchsfells. Mein Jäger, wie ich mir immer dachte, musste ein wahrlich erfolgreicher sein. Entsprechend groß waren meine Hoffnungen, als endlich der Tag gekommen war, an dem ich mit ruhigen Fingern aus meiner Pappe befreit wurde.
Es begann der schönste Tag meines kurzen Lebens zu werden.
In einer undurchsichtigen Plastikbox lag ich jetzt auf dem Beifahrersitz eines Geländewagens. Meine Aufregung stieg.
Schließlich verstummte der Motor des Wagens und die Box wurde nach kurzem Geruckel geöffnet. Neben mir lag eine Waffe, eine schlichte Repetierbüchse. Na ja, es war schließlich ein Werkzeug und es kam mir eh nur auf das Ergebnis an, das mein Besitzer fabrizieren würde, daher konnte ich über die fehlende Eleganz der Konstruktion leicht hinwegsehen. Der Jäger drückte mich ins Magazin. Doch auch noch vier weitere Patronen, die nun auf mir lagen. Das Magazin steckte er wieder in die Waffe. Ich fühlte mich ziemlich eingeengt: Von oben drückte das Gewicht der anderen und von unten eine Feder. Nach einem kurzen Marsch hielten wir an. Oben bewegte sich der zylindrische Verschluss der Repetierbüchse zurück und wieder nach vorn.
Dabei wurde die erste der vier Kugeln, die über mir lagen, in das Patronenlager geführt. Was man bei einem Büchsenmacher nicht so alles lernt, dachte ich mir, als mir klar wurde, wie viel ich über den Aufbau von Waffen wusste, als ein Ohrenbetäubender Knall mir durch Mark und Bein fuhr. Die brachiale Kraft der Pulverladung zu Füßen meines Kollegen hatte ihn durch den Lauf in ein Ziel geführt. Ohh, wie ich ihn beneidete. Doch etwas stimmte nicht. Der Verschluss fuhr nochmal zurück, warf die leere Hülse aus und schob die nächste Patrone ins Lager. Mit leichter Verwunderung lauschte ich dem leichten Kratzen der Mechanik, die schließlich den gespannten Schlagbolzen nochmals freigab und die zweite Ladung zündete.
War der erste Schuss danebengegangen? Jetzt war ich doch ganz froh,
nicht der Erste gewesen zu sein. Der Vorgang wiederholte sich noch zwei Mal- jetzt bekam ich Angst, ich glaubte zu wissen, wo ich war: Auf einem Schießplatz. Einem Ort, an dem Patronen nur zum Spaß abgefeuert wurden. Dort gab es keine majestätischen Tiere, nur kalte Papier- und Metallscheiben. Ich spürte den Druck der Feder unter mir immer heftiger, die mich von unten gegen den Verschluss presste.
Und meine schlimmsten Befürchtungen wurden wahr: Der kalte Metallzylinder schob sich über mir zurück, nur um mich gleich wieder nach vorn zu schieben.
Ich sah Licht - und einen Schießstand.
Ich hatte Angst.
Sollte das meine letzte Ruhestätte werden?
Ein öder Sandhaufen am Ende einer hundert Meter langen Bahn?
Ich würde also nur ein Stück Papier durchbohren. Vielleicht wenigstens das schwarze im Zentrum und nicht das weiße, das meilenweit von der Mitte entfernt lag. Als der Abzug durchgezogen wurde, ergab ich mich meinem Schicksal und schloss die Augen. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Dann traf der Schlagbolzen auf das Zündhütchen.

Neue Chance

„Klick!“
Ich erschrak.
Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.
Das Zündhütchen meiner Hülse war ein Blindgänger!
Innerlich Vollführte ich kurz Freudensprünge. Bis mir bewusst wurde, was das bedeutete: Ich würde nicht nur nie etwas zur Strecke bringen, ich würde auch nie in meinem Leben je abgefeuert werden. Ich versank in tiefer Trauer und stürzte gedanklich in eine bodenlose Schwärze, die meine Sinne benebelte.
Als ich aus ihr wieder erwachte, lag ich irgendwo auf dem Boden, mitten im Schlamm und es begann zu Regnen.
Hier würde ich also enden. Wenigstens würden mir die unbarmherzigen Elemente ein schnelles Ende bereiten, dachte ich mir.
Doch ich hatte Glück. Eine gute Seele von altem Mann nahm mich vom Boden auf und legte mich in einen schwarzen Eimer, mit dem er mich bis zu sich nach Hause brachte. Dort reinigte er mich mit einer Wurzelbürste und steckte mich Kopfüber in das Endstück eines Merkwürdigen Hammers. Auch wenn ich es kaum glauben konnte: Ein Entlaborierhammer! Den kannte ich aus der Büchsenmacherwerkstatt, damit konnte man Patronen in Geschoss und Hülse trennen, um das Geschoss in eine andere Hülse zu pressen. Ich bekam eine zweite Chance. Und so trennte mich ein harter Schlag auf den Tisch des alten Mannes von meiner nichtsnutzigen goldenen Hülse mit dem verreckten Zündhütchen und dem mittlerweile ziemlich durchnässten Pulver. Kaum war ich freigekommen, wurde ich in eine neue Hülse gepresst.
Diese war zuvor mit von Hand abgewogenen Nitropulver befüllt worden und
glänzte in kaltem, spiegelglatten Silber.

Endlich bekam ich das, was ich verdiente. Ich stand noch einige Tage auf der Werkbank des alten Mannes und konnte aus dem Fenster sehen. Große graue Regentropfen prasselten gegen die Scheiben und nur selten wurden die dunklen Gewitterwolken am Himmel von einem einzelnen Lichtstrahl durchbrochen. Schließlich obsiegte die Sonne jedoch und ich wurde abgeholt, zu einer Reise, die ich nie wieder vergessen würde. Der alte Mann steckte mich mit drei anderen Patronen an eine Weste, genau auf seine linke Brusttasche, auf der kleine Laschen befestigt waren, um Patronen zu halten. Diese Weste zog er nun an und ging aus dem Haus. Die Sonne ging gerade auf, als er die Tür hinter sich zuzog und ins Auto stieg. Nach einer kurzen Fahrt vorbei an einigen Häusern veränderte sich das Bild der Landschaft vor dem Fenster. Statt gepflegter Vorgärten sah ich Felder und Wiesen, die vom nächtlichen Regen noch ganz feucht waren und in der tief stehenden Morgensonne wie tausend Diamanten funkelten, gefolgt von dunklen Wälder, deren mächtige Bäume in einer leichten Brise hin und her wogten. Nach etlichen Kilometern verließ der Wagen die asphaltierten Straßen und bog auf einen matschigen Feldweg ab,
der nach wenigen hundert Metern in einen Eichenwald mit gigantischen Bäumen führte.
Der Boden war mit Laub bedeckt und feine Gräser sprossen zwischen mächtigen, knorrigen Wurzeln hervor.
Hier endete die Fahrt und der alte Mann stieg aus dem Auto heraus und erklomm nach kurzem Fußmarsch einen Hochsitz. Dort angekommen zündete er sich eine Pfeife an und nahm gemächlich auf einem Sitzbrett Platz.
Tabakrauch umschmeichelte mich. Er roch nach Vanille und hatte eine so feine Konsistenz wie morgendlicher Bodennebel. Anmutig und doch auf eine merkwürdig leichte Art sehr schwer, so kam er mir vor. Als die Pfeife ausgeglüht war, nahm der Jäger sein Gewehr zur Hand. Ein wunderschönes, handgearbeitetes Stück: Die schwarz brünierte Kipplaufbüchse hatte einen zart gemaserten Walnussschaft und eine Gravur in Form eines majestätischen, alten Hirsches auf der Basküle. In das Patronenlager führte er meine Hülse ein und schloss die Waffe vorsichtig mit einem leichten klicken. Jetzt hieß es warten.
Ich blickte durch den Lauf zur Mündung. Dort würde ich bald hinausfliegen, in die endgültige Freiheit, ins Ziel. Doch sollte dass das Ende bedeuten?
Weiter kam ich nicht- Der Ausschnitt der Welt den ich von hier aus sah, bewegte sich plötzlich.
Und endlich erblickte ich es - mein Ziel.

Ein stattlicher Hirsch, fast so schön wie die Gravur auf der Waffe, war vor uns aus dem Unterholz getreten. Sein Geweih war so dunkel wie die Eichen um uns herum, sein Fell so glatt wie Wasser und glänzend wie der Sonnenaufgang. Dunkelbraune Augen blickten sich aufmerksam um. Er trat noch einige Schritte weiter vor und neigte sein mächtiges Haupt nach unten, um zu äsen. Als er es wieder hob, stiegen feuchte Nebelschwaden aus seinen Nüstern in die kalte Morgenluft auf. Ich sah ihn wie gebannt an. Zu meiner rechten knirschte etwas ganz zart. Die Waffe wurde entsichert. Jetzt sah der Hirsch mich direkt an. Ich hielt den Atem an. Noch einen Schritt, mach noch einen Schritt zur Seite, dann stehst du perfekt, genau im rechten Winkel zu uns.


Der Tod

Und der Hirsch tat genau, was ich mir erhofft hatte.
Er stand nun mit seiner Flanke rechtwinklig vor mir. Hinter mir kratzte Metall.
Die nächsten Augenblicke verliefen wie in einer Art Trance, in Zeitlupe. Ich spürte wie die Kraft der Feder den Schlagbolzen nach vorn schnellen ließ, wo er auf das Zündhütchen traf. Und dieses Mal entstand hinter mir ein gewaltiger Druck, heiße Verbrennungsgase expandierten und drückten mich mit unglaublicher Wucht nach vorne in den Lauf hinein. Die Züge und Felder schnitten sich tief in meinen Bleikern ein und verpassten mir eine ordentliche Rotation um mich selbst. Vor meinem inneren Auge huschten Bilder von meinem Leben auf. Ich empfand in diesen Momenten die absolute Euphorie. Schließlich verließ ich den Lauf mit einer Stichflamme und einer kleinen Rauchwolke. Der Moment des Austretens aus dem Lauf - Er fühlt sich an, als ob alle Sorgen und Ängste von dir abfallen, als ob du absolut frei bist.
Der Flug, der sich anschloss, kam mir vor, wie ein ganzes Leben - ich lebte ein freies Leben, niemand konnte mir etwas tun und ich wusste zum Ende hin immer genauer, das ich meine Träume bald erfüllt sehen würde.
Dann ging alles ganz schnell. Der Hirsch kam immer näher und ich pflügte durch sein glänzendes Fell hindurch bis zu Haut. Dort fühlte ich die enorme Kraft mit der ich unterwegs war, es wurde dunkel um mich herum und ich konnte spüren, wie ich immer weiter deformiert und zusammengedrückt wurde. Immer noch war ich sehr schnell und kam auf der anderen Seite des Tieres wieder heraus. Jetzt hatte ich ihn, meinen Blutnebel.
Die Sonne stand noch nicht hoch am Himmel und schimmerte in feinen Strahlen durch das dichte grüne Eichenlaub über mir bis auf den Boden.
Der rote Nebel glitzerte wie hunderte Rubine und ich konnte mich nicht satt sehen an der Ästhetik des Todes. Um mich herum Edelsteine in der Luft, roch es nach frischem Gras, feuchter Erde und Eichenrinde.
Der Hirsch machte noch einen einzigen Schritt und sackte dann in sich zusammen. Einige Meter hinter ihm schlug ich auf dem Boden auf und grub eine Rinne durch Erde und Laub, an deren Ende ich wieder nach oben kam.

Der alte Jäger zog vor dem prächtigen Hirsch den Hut und überreichte ihm einen Tannenzweig als letzten Bissen, bevor er ihn zu seinem Auto zog. Ich sah ihnen nach, bis sie aus meinem Blickfeld verschwanden.
Erst jetzt wurde mir klar, dass ich am Ende meines Lebens stand. Ich hatte erreicht, was ich wollte.

Diese Erlebnisse haben mich gezeichnet, tiefe Narben zieren nun meinen Körper und ich werde nie wieder etwas solches erleben können. Trotz der widrigen Umstände meiner Herkunft und meinem Unglück auf dem Schießplatz hatte ich bekommen, was ich mir gewünscht habe.
Unfähig selbst zu handeln, dachte ich, dass ich keinen Einfluss auf mein Leben nehmen könnte. Doch den Glauben verlor ich nie.
Viele meiner Art haben sich geopfert - auf dem Übungsplatz - damit ich mein Ziel erreichen konnte. Und jetzt liege ich hier im Moos, zwischen frischem Laub, Zweigen und feuchter Erde, unter mächtigen Eichen und lasse mein Leben Revue passieren. Ich, der geschaffen wurde, um zu töten, warte nun auf mein eigenes Ende.
Ich werde wieder Teil des großen Ganzen werden. Ich kehre zurück in die Erde, aus der ich einst geboren wurde. Und während ich just in diesem Moment innerlich eine große Freiheit und Friedlichkeit empfinde, beginnen zarte Regentropfen auf den Boden zu fallen, in die die Sonne am Himmel einen Regenbogen zaubert und ich erkenne, das die Welt aus der ich nun scheide, schöner ist, als ich während meiner Jahre in der Dunkelheit hinter Stahl je zu hoffen gewagt hatte.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Woodbrick, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Du hast eine schöne Geschichte aus einer interessanten Perspektive heraus geschrieben! Noch krasser wäre sie gewesen, wenn die Kugel einen Menschen getötet hätte.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

Woodbrick

Mitglied
Kugelsicher - Eine etwas andere Sichtweise

Am Anfang war es Blei

Geboren wurde ich in einer schmierigen kleinen Fabrik, in der es nach geschmolzenem Blei, Schmieröl, Pulver und Schimmel roch. Damals bekam ich auch meinen Namen, doch der bedeutete mir nie etwas. Inzwischen habe ich ihn vergessen.
In den Augen der meisten Menschen werde ich immer nur ein Stück Blei sein, das versucht, mit einer hübschen Ummantelung aus Kupfer seine wahre Bestimmung zu verschleiern: Das Töten.
Dafür existiere ich.

Gegossen in dieser schäbigen Halle, irgendwo am Ende der Welt, wusste ich kaum, wie mir geschah, da fiel ich aus meiner Form auf ein Fließband. Am Ende der Förderlinie packte mich eine Hand und stopfte mich in das obere Ende einer mit Schießpulver gefüllten Kupferröhre.
Nun hatte ich mein gesamtes Wachstumsspektrum durchlaufen.
Ich bekam einen Platz in einer kuscheligen Pappschachtel neben 19 meiner Kameraden; und kaum da ich das Licht der Welt erblickt hatte, wurde mir die Aussicht wieder genommen. Um mich herum wurde es dunkel und alle Geräusche erschienen von nun an gedämpft. Mit viel Geruckel wurde meine Schachtel in eine Kiste geschmissen und ich hörte wie man einen Deckel aufnagelte.
Jetzt hing alles vom Zufall ab, was konnte ich schon tun, um meine Zukunft zu beeinflussen? Ich war der Welt hilflos ausgeliefert und konnte nur hoffen, meine Bestimmung erfüllen zu können.


Etwa drei Tage und zwölf Stunden später wurde der Deckel wieder von der Transportkiste gerissen. Das Holz war trocken und knirschte erbärmlich unter den grobschlächtig angesetzten Hebeln der Brechstange meines neuen Besitzers. Ein feiner Lichtstrahl fiel durch den Spalt am Deckel und frische Luft flutete ein. Hier lag der beklemmende Geruch der Fabrikhalle in weiter Ferne, jetzt roch es nach feinem Holz, frischer Erde und Regen.
Man holte die Schachteln aus der Kiste und stellte uns auf eine Werkbank. Der Deckel wurde geöffnet und ich konnte sehen wo ich war - es sah aus wie eine kleine Manufaktur. An den Wänden hingen Flinten und Gewehre, überall standen Arbeitstische, auf denen Werkzeuge verstreut waren und durch ein großes Fenster in der Wand drang der herrliche Sommersonnenschein hinein. Ein großer Baum bescherte uns tanzende Schatten an der Wand, aber mein Glück sollte nur kurz währen:
Die Schachtel wurde wieder verschlossen und in ein Regal gelegt. Eine schwere Tür schloss sich, Panzerstahlriegel schoben sich heraus und ein Schlüssel klapperte. So viel zu meiner gerade neu gewonnenen Freiheit.

Etwa ein Jahr lang lag ich in meinem Gefängnis, in dem ich meine Umwelt nur sehr dumpf wahrnehmen konnte, wie das eben so ist, hinter siebeneinhalb Zentimeter Panzerstahl.
Dennoch bekam ich in dieser Zeit so einiges mit: Ich wusste nun mit absoluter Sicherheit, dass ich bei einem Büchsenmacher gelandet war. So weit so gut. Was mich jedoch, nach etlichen belauschten Gesprächen der Mitarbeiter und den Kunden, zunehmend beunruhigte, war die Tatsache, dass es scheinbar längst nicht alle Kugeln in ein Ziel schafften. Die meisten gingen wohl daneben. Toll, da hatte man schon nur einen einzigen Lebensinhalt, und der würde einem vermutlich verwehrt bleiben. Doch ich dachte weiter an das, was ich wollte. Und nach etlichen Geschichten, die dumpf zu mir gedrungen waren, sah ich vor meinem inneren Auge auch schon, was ich begehrte: Ich wollte einen tödlichen Treffer. Ein kleines Loch in einem Hirsch oder einem anderen kapitalen Tier, und beim Austritt eine feine Wolke roter Blutstropfen, einen tödlichen, Leben aushauchenden Nebel, der in der untergehenden Sonne für Sekundenbruchteile aufflammt. Dann hätte mein Leben einen Sinn. Was danach geschehen sollte? Darüber machte ich mir keine Gedanken.
Es sollte der Tag kommen, da sah ich alle meine Chancen auf meinen Traum vergehen, doch dieser Tag war noch fern. Ich hoffte insgeheim, mehr von der Welt sehen zu können als nur diese Pappschachtel, bevor ich durch einen langen Tunnel hindurch das Ziel meiner Träume sehen konnte. Und es würde sich eine Chance dazu ergeben, da war ich mir ganz sicher.


Neue Aussichten

Ich war nun schon recht lange in meiner Verpackung gefangen und hätte wohl bald den Glauben auf eine Besserung verloren, als eines Tages ein junger Mann in den Laden mit dem Panzerschrank kam, und ein Schachtel Patronen verlangte. Quietschend öffnete sich meine Gefängnistür und ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich leicht durchgeschüttelt wurde. Ich wurde endlich verkauft!
Fünfunddreißig Euro- das war ich mit meinen neunzehn Gefährten wert. Das hieß im Umkehrschluss, dass man mit so wenig Geld zwanzig Mal töten konnte. Ein Angenehmer Schauer lief mir über meine Hülse.
Doch die Hoffnung, die Welt zu sehen, verflog bald wieder.
Frustriert musste ich nach einer kurzen Autofahrt feststellen, dass ich wieder in einem Schrank, der zwar nicht ganz so dick, aber wieder verschlossen war, verschwinden würde.
Meine Laune besserte sich jedoch zusehends, als ich bemerkte, dass der junge Jäger, der meine Schachtel erworben hatte, regelmäßig Patronen aus seinem - und natürlich meinem - Tresor nahm. Meine Vorfreude auf den großen Moment steigerte sich im Laufe der Wochen ins Unermessliche. An den Wänden draußen vor dem Schrank hingen jede Menge Trophäen- Hirsche, Rehe, Vögel, Ziegen, Raubtiere. Ich überlegte mir, welche wohl die schönste war, und entschied mich für den großen Hirschkopf gleich neben dem etwas zerzaust aussehenden Fuchsfells. Mein Jäger, wie ich mir immer dachte, musste ein wahrlich erfolgreicher sein. Entsprechend groß waren meine Hoffnungen, als endlich der Tag gekommen war, an dem ich mit ruhigen Fingern aus meiner Pappe befreit wurde.
Es begann der schönste Tag meines kurzen Lebens zu werden.
In einer undurchsichtigen Plastikbox lag ich jetzt auf dem Beifahrersitz eines Geländewagens. Meine Aufregung stieg.
Schließlich verstummte der Motor des Wagens und die Box wurde nach kurzem Geruckel geöffnet. Neben mir lag eine Waffe, eine schlichte Repetierbüchse. Na ja, es war schließlich ein Werkzeug und es kam mir eh nur auf das Ergebnis an, das mein Besitzer fabrizieren würde, daher konnte ich über die fehlende Eleganz der Konstruktion leicht hinwegsehen. Der Jäger drückte mich ins Magazin. Doch auch noch vier weitere Patronen, die nun auf mir lagen. Das Magazin steckte er wieder in die Waffe. Ich fühlte mich ziemlich eingeengt: Von oben drückte das Gewicht der anderen und von unten eine Feder. Nach einem kurzen Marsch hielten wir an. Oben bewegte sich der zylindrische Verschluss der Repetierbüchse zurück und wieder nach vorn.
Dabei wurde die erste der vier Kugeln, die über mir lagen, in das Patronenlager geführt. Was man bei einem Büchsenmacher nicht so alles lernt, dachte ich mir, als mir klar wurde, wie viel ich über den Aufbau von Waffen wusste, als ein Ohrenbetäubender Knall mir durch Mark und Bein fuhr. Die brachiale Kraft der Pulverladung zu Füßen meines Kollegen hatte ihn durch den Lauf in ein Ziel geführt. Ohh, wie ich ihn beneidete. Doch etwas stimmte nicht. Der Verschluss fuhr nochmal zurück, warf die leere Hülse aus und schob die nächste Patrone ins Lager. Mit leichter Verwunderung lauschte ich dem leichten Kratzen der Mechanik, die schließlich den gespannten Schlagbolzen nochmals freigab und die zweite Ladung zündete.
War der erste Schuss danebengegangen? Jetzt war ich doch ganz froh,
nicht der Erste gewesen zu sein. Der Vorgang wiederholte sich noch zwei Mal- jetzt bekam ich Angst, ich glaubte zu wissen, wo ich war: Auf einem Schießplatz. Einem Ort, an dem Patronen nur zum Spaß abgefeuert wurden. Dort gab es keine majestätischen Tiere, nur kalte Papier- und Metallscheiben. Ich spürte den Druck der Feder unter mir immer heftiger, die mich von unten gegen den Verschluss presste.
Und meine schlimmsten Befürchtungen wurden wahr: Der kalte Metallzylinder schob sich über mir zurück, nur um mich gleich wieder nach vorn zu schieben.
Ich sah Licht - und einen Schießstand.
Ich hatte Angst.
Sollte das meine letzte Ruhestätte werden?
Ein öder Sandhaufen am Ende einer hundert Meter langen Bahn?
Ich würde also nur ein Stück Papier durchbohren. Vielleicht wenigstens das schwarze im Zentrum und nicht das weiße, das meilenweit von der Mitte entfernt lag. Als der Abzug durchgezogen wurde, ergab ich mich meinem Schicksal und schloss die Augen. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Dann traf der Schlagbolzen auf das Zündhütchen.

Neue Chance

„Klick!“
Ich erschrak.
Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.
Das Zündhütchen meiner Hülse war ein Blindgänger!
Innerlich Vollführte ich kurz Freudensprünge. Bis mir bewusst wurde, was das bedeutete: Ich würde nicht nur nie etwas zur Strecke bringen, ich würde auch nie in meinem Leben je abgefeuert werden. Ich versank in tiefer Trauer und stürzte gedanklich in eine bodenlose Schwärze, die meine Sinne benebelte.
Als ich aus ihr wieder erwachte, lag ich irgendwo auf dem Boden, mitten im Schlamm und es begann zu Regnen.
Hier würde ich also enden. Wenigstens würden mir die unbarmherzigen Elemente ein schnelles Ende bereiten, dachte ich mir.
Doch ich hatte Glück. Eine gute Seele von altem Mann nahm mich vom Boden auf und legte mich in einen schwarzen Eimer, mit dem er mich bis zu sich nach Hause brachte. Dort reinigte er mich mit einer Wurzelbürste und steckte mich Kopfüber in das Endstück eines Merkwürdigen Hammers. Auch wenn ich es kaum glauben konnte: Ein Entlaborierhammer! Den kannte ich aus der Büchsenmacherwerkstatt, damit konnte man Patronen in Geschoss und Hülse trennen, um das Geschoss in eine andere Hülse zu pressen. Ich bekam eine zweite Chance. Und so trennte mich ein harter Schlag auf den Tisch des alten Mannes von meiner nichtsnutzigen goldenen Hülse mit dem verreckten Zündhütchen und dem mittlerweile ziemlich durchnässten Pulver. Kaum war ich freigekommen, wurde ich in eine neue Hülse gepresst.
Diese war zuvor mit von Hand abgewogenen Nitropulver befüllt worden und
glänzte in kaltem, spiegelglattem Silber.

Endlich bekam ich das, was ich verdiente. Ich stand noch einige Tage auf der Werkbank des alten Mannes und konnte aus dem Fenster sehen. Große graue Regentropfen prasselten gegen die Scheiben und nur selten wurden die dunklen Gewitterwolken am Himmel von einem einzelnen Lichtstrahl durchbrochen. Schließlich obsiegte die Sonne jedoch und ich wurde abgeholt, zu einer Reise, die ich nie wieder vergessen würde. Der alte Mann steckte mich mit drei anderen Patronen an eine Weste, genau auf seine linke Brusttasche, auf der kleine Laschen befestigt waren, um Patronen zu halten. Diese Weste zog er nun an und ging aus dem Haus. Die Sonne ging gerade auf, als er die Tür hinter sich zuzog und ins Auto stieg. Nach einer kurzen Fahrt vorbei an einigen Häusern veränderte sich das Bild der Landschaft vor dem Fenster. Statt gepflegter Vorgärten sah ich Felder und Wiesen, die vom nächtlichen Regen noch ganz feucht waren und in der tief stehenden Morgensonne wie tausend Diamanten funkelten, gefolgt von dunklen Wälder, deren mächtige Bäume in einer leichten Brise hin und her wogten. Nach etlichen Kilometern verließ der Wagen die asphaltierten Straßen und bog auf einen matschigen Feldweg ab,
der nach wenigen hundert Metern in einen Eichenwald mit gigantischen Bäumen führte.
Der Boden war mit Laub bedeckt und feine Gräser sprossen zwischen mächtigen, knorrigen Wurzeln hervor.
Hier endete die Fahrt und der alte Mann stieg aus dem Auto heraus und erklomm nach kurzem Fußmarsch einen Hochsitz. Dort angekommen zündete er sich eine Pfeife an und nahm gemächlich auf einem Sitzbrett Platz.
Tabakrauch umschmeichelte mich. Er roch nach Vanille und hatte eine so feine Konsistenz wie morgendlicher Bodennebel. Anmutig und doch auf eine merkwürdig leichte Art sehr schwer, so kam er mir vor. Als die Pfeife ausgeglüht war, nahm der Jäger sein Gewehr zur Hand. Ein wunderschönes, handgearbeitetes Stück: Die schwarz brünierte Kipplaufbüchse hatte einen zart gemaserten Walnussschaft und eine Gravur in Form eines majestätischen, alten Hirsches auf der Basküle. In das Patronenlager führte er meine Hülse ein und schloss die Waffe vorsichtig mit einem leichten klicken. Jetzt hieß es warten.
Ich blickte durch den Lauf zur Mündung. Dort würde ich bald hinausfliegen, in die endgültige Freiheit, ins Ziel. Doch sollte dass das Ende bedeuten?
Weiter kam ich nicht- Der Ausschnitt der Welt den ich von hier aus sah, bewegte sich plötzlich.
Und endlich erblickte ich es - mein Ziel.

Ein stattlicher Hirsch, fast so schön wie die Gravur auf der Waffe, war vor uns aus dem Unterholz getreten. Sein Geweih war so dunkel wie die Eichen um uns herum, sein Fell so glatt wie Wasser und glänzend wie der Sonnenaufgang. Dunkelbraune Augen blickten sich aufmerksam um. Er trat noch einige Schritte weiter vor und neigte sein mächtiges Haupt nach unten, um zu äsen. Als er es wieder hob, stiegen feuchte Nebelschwaden aus seinen Nüstern in die kalte Morgenluft auf. Ich sah ihn wie gebannt an. Zu meiner rechten knirschte etwas ganz zart. Die Waffe wurde entsichert. Jetzt sah der Hirsch mich direkt an. Ich hielt den Atem an. Noch einen Schritt, mach noch einen Schritt zur Seite, dann stehst du perfekt, genau im rechten Winkel zu uns.


Der Tod

Und der Hirsch tat genau, was ich mir erhofft hatte.
Er stand nun mit seiner Flanke rechtwinklig vor mir. Hinter mir kratzte Metall.
Die nächsten Augenblicke verliefen wie in einer Art Trance, in Zeitlupe. Ich spürte wie die Kraft der Feder den Schlagbolzen nach vorn schnellen ließ, wo er auf das Zündhütchen traf. Und dieses Mal entstand hinter mir ein gewaltiger Druck, heiße Verbrennungsgase expandierten und drückten mich mit unglaublicher Wucht nach vorne in den Lauf hinein. Die Züge und Felder schnitten sich tief in meinen Bleikern ein und verpassten mir eine ordentliche Rotation um mich selbst. Vor meinem inneren Auge huschten Bilder von meinem Leben auf. Ich empfand in diesen Momenten die absolute Euphorie. Schließlich verließ ich den Lauf mit einer Stichflamme und einer kleinen Rauchwolke. Der Moment des Austretens aus dem Lauf - Er fühlt sich an, als ob alle Sorgen und Ängste von dir abfallen, als ob du absolut frei bist.
Der Flug, der sich anschloss, kam mir vor, wie ein ganzes Leben - ich lebte ein freies Leben, niemand konnte mir etwas tun und ich wusste zum Ende hin immer genauer, das ich meine Träume bald erfüllt sehen würde.
Dann ging alles ganz schnell. Der Hirsch kam immer näher und ich pflügte durch sein glänzendes Fell hindurch bis zu Haut. Dort fühlte ich die enorme Kraft, mit der ich unterwegs war, es wurde dunkel um mich herum und ich konnte spüren, wie ich immer weiter deformiert und zusammengedrückt wurde. Immer noch war ich sehr schnell und kam auf der anderen Seite des Tieres wieder heraus. Jetzt hatte ich ihn, meinen Blutnebel.
Die Sonne stand noch nicht hoch am Himmel und schimmerte in feinen Strahlen durch das dichte grüne Eichenlaub über mir bis auf den Boden.
Der rote Nebel glitzerte wie hunderte Rubine und ich konnte mich nicht satt sehen an der Ästhetik des Todes. Um mich herum Edelsteine in der Luft, roch es nach frischem Gras, feuchter Erde und Eichenrinde.
Der Hirsch machte noch einen einzigen Schritt und sackte dann in sich zusammen. Einige Meter hinter ihm schlug ich auf dem Boden auf und grub eine Rinne durch Erde und Laub, an deren Ende ich wieder nach oben kam.

Der alte Jäger zog vor dem prächtigen Hirsch den Hut und überreichte ihm einen Tannenzweig als letzten Bissen, bevor er ihn zu seinem Auto zog. Ich sah ihnen nach, bis sie aus meinem Blickfeld verschwanden.
Erst jetzt wurde mir klar, dass ich am Ende meines Lebens stand. Ich hatte erreicht, was ich wollte.

Diese Erlebnisse haben mich gezeichnet, tiefe Narben zieren nun meinen Körper und ich werde nie wieder etwas solches erleben können. Trotz der widrigen Umstände meiner Herkunft und meinem Unglück auf dem Schießplatz hatte ich bekommen, was ich mir gewünscht habe.
Unfähig selbst zu handeln, dachte ich, dass ich keinen Einfluss auf mein Leben nehmen könnte. Doch den Glauben verlor ich nie.
Viele meiner Art haben sich geopfert - auf dem Übungsplatz - damit ich mein Ziel erreichen konnte. Und jetzt liege ich hier im Moos, zwischen frischem Laub, Zweigen und feuchter Erde, unter mächtigen Eichen und lasse mein Leben Revue passieren. Ich, der geschaffen wurde, um zu töten, warte nun auf mein eigenes Ende.
Ich werde wieder Teil des großen Ganzen werden. Ich kehre zurück in die Erde, aus der ich einst geboren wurde. Und während ich just in diesem Moment innerlich eine große Freiheit und Friedlichkeit empfinde, beginnen zarte Regentropfen auf den Boden zu fallen, in die die Sonne am Himmel einen Regenbogen zaubert und ich erkenne, dass die Welt aus der ich nun scheide, schöner ist, als ich während meiner Jahre in der Dunkelheit hinter Stahl je zu hoffen gewagt hatte.
 

Woodbrick

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Kugelsicher - Eine etwas andere Sichtweise

Am Anfang war es Blei

Geboren wurde ich in einer schmierigen kleinen Fabrik, in der es nach geschmolzenem Blei, Schmieröl, Pulver und Schimmel roch. Damals bekam ich auch meinen Namen, doch der bedeutete mir nie etwas. Inzwischen habe ich ihn vergessen.
In den Augen der meisten Menschen werde ich immer nur ein Stück Blei sein, das versucht, mit einer hübschen Ummantelung aus Kupfer seine wahre Bestimmung zu verschleiern: Das Töten.
Dafür existiere ich.

Gegossen in dieser schäbigen Halle, irgendwo am Ende der Welt, wusste ich kaum, wie mir geschah, da fiel ich aus meiner Form auf ein Fließband. Am Ende der Förderlinie packte mich eine Hand und stopfte mich in das obere Ende einer mit Schießpulver gefüllten Kupferröhre.
Nun hatte ich mein gesamtes Wachstumsspektrum durchlaufen.
Ich bekam einen Platz in einer kuscheligen Pappschachtel neben 19 meiner Kameraden; und kaum da ich das Licht der Welt erblickt hatte, wurde mir die Aussicht wieder genommen. Um mich herum wurde es dunkel und alle Geräusche erschienen von nun an gedämpft. Mit viel Geruckel wurde meine Schachtel in eine Kiste geschmissen und ich hörte wie man einen Deckel aufnagelte.
Jetzt hing alles vom Zufall ab, was konnte ich schon tun, um meine Zukunft zu beeinflussen? Ich war der Welt hilflos ausgeliefert und konnte nur hoffen, meine Bestimmung erfüllen zu können.


Etwa drei Tage und zwölf Stunden später wurde der Deckel wieder von der Transportkiste gerissen. Das Holz war trocken und knirschte erbärmlich unter den grobschlächtig angesetzten Hebeln der Brechstange meines neuen Besitzers. Ein feiner Lichtstrahl fiel durch den Spalt am Deckel und frische Luft flutete ein. Hier lag der beklemmende Geruch der Fabrikhalle in weiter Ferne, jetzt roch es nach feinem Holz, frischer Erde und Regen.
Man holte die Schachteln aus der Kiste und stellte uns auf eine Werkbank. Der Deckel wurde geöffnet und ich konnte sehen wo ich war - es sah aus wie eine kleine Manufaktur. An den Wänden hingen Flinten und Gewehre, überall standen Arbeitstische, auf denen Werkzeuge verstreut waren und durch ein großes Fenster in der Wand drang der herrliche Sommersonnenschein hinein. Ein großer Baum bescherte uns tanzende Schatten an der Wand, aber mein Glück sollte nur kurz währen:
Die Schachtel wurde wieder verschlossen und in ein Regal gelegt. Eine schwere Tür schloss sich, Panzerstahlriegel schoben sich heraus und ein Schlüssel klapperte. So viel zu meiner gerade neu gewonnenen Freiheit.

Etwa ein Jahr lang lag ich in meinem Gefängnis, in dem ich meine Umwelt nur sehr dumpf wahrnehmen konnte, wie das eben so ist, hinter siebeneinhalb Zentimeter Panzerstahl.
Dennoch bekam ich in dieser Zeit so einiges mit: Ich wusste nun mit absoluter Sicherheit, dass ich bei einem Büchsenmacher gelandet war. So weit so gut. Was mich jedoch, nach etlichen belauschten Gesprächen der Mitarbeiter und den Kunden, zunehmend beunruhigte, war die Tatsache, dass es scheinbar längst nicht alle Kugeln in ein Ziel schafften. Die meisten gingen wohl daneben. Toll, da hatte man schon nur einen einzigen Lebensinhalt, und der würde einem vermutlich verwehrt bleiben. Doch ich dachte weiter an das, was ich wollte. Und nach etlichen Geschichten, die dumpf zu mir gedrungen waren, sah ich vor meinem inneren Auge auch schon, was ich begehrte: Ich wollte einen tödlichen Treffer. Ein kleines Loch in einem Hirsch oder einem anderen kapitalen Tier, und beim Austritt eine feine Wolke roter Blutstropfen, einen tödlichen, Leben aushauchenden Nebel, der in der untergehenden Sonne für Sekundenbruchteile aufflammt. Dann hätte mein Leben einen Sinn. Was danach geschehen sollte? Darüber machte ich mir keine Gedanken.
Es sollte der Tag kommen, da sah ich alle meine Chancen auf meinen Traum vergehen, doch dieser Tag war noch fern. Ich hoffte insgeheim, mehr von der Welt sehen zu können als nur diese Pappschachtel, bevor ich durch einen langen Tunnel hindurch das Ziel meiner Träume sehen konnte. Und es würde sich eine Chance dazu ergeben, da war ich mir ganz sicher.


Neue Aussichten

Ich war nun schon recht lange in meiner Verpackung gefangen und hätte wohl bald den Glauben auf eine Besserung verloren, als eines Tages ein junger Mann in den Laden mit dem Panzerschrank kam, und ein Schachtel Patronen verlangte. Quietschend öffnete sich meine Gefängnistür und ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich leicht durchgeschüttelt wurde. Ich wurde endlich verkauft!
Fünfunddreißig Euro- das war ich mit meinen neunzehn Gefährten wert. Das hieß im Umkehrschluss, dass man mit so wenig Geld zwanzig Mal töten konnte. Ein Angenehmer Schauer lief mir über meine Hülse.
Doch die Hoffnung, die Welt zu sehen, verflog bald wieder.
Frustriert musste ich nach einer kurzen Autofahrt feststellen, dass ich wieder in einem Schrank, der zwar nicht ganz so dick, aber wieder verschlossen war, verschwinden würde.
Meine Laune besserte sich jedoch zusehends, als ich bemerkte, dass der junge Jäger, der meine Schachtel erworben hatte, regelmäßig Patronen aus seinem - und natürlich meinem - Tresor nahm. Meine Vorfreude auf den großen Moment steigerte sich im Laufe der Wochen ins Unermessliche. An den Wänden draußen vor dem Schrank hingen jede Menge Trophäen- Hirsche, Rehe, Vögel, Ziegen, Raubtiere. Ich überlegte mir, welche wohl die schönste war, und entschied mich für den großen Hirschkopf gleich neben dem etwas zerzaust aussehenden Fuchsfells. Mein Jäger, wie ich mir immer dachte, musste ein wahrlich erfolgreicher sein. Entsprechend groß waren meine Hoffnungen, als endlich der Tag gekommen war, an dem ich mit ruhigen Fingern aus meiner Pappe befreit wurde.
Es begann der schönste Tag meines kurzen Lebens zu werden.
In einer undurchsichtigen Plastikbox lag ich jetzt auf dem Beifahrersitz eines Geländewagens. Meine Aufregung stieg.
Schließlich verstummte der Motor des Wagens und die Box wurde nach kurzem Geruckel geöffnet. Neben mir lag eine Waffe, eine schlichte Repetierbüchse. Na ja, es war schließlich ein Werkzeug und es kam mir eh nur auf das Ergebnis an, das mein Besitzer fabrizieren würde, daher konnte ich über die fehlende Eleganz der Konstruktion leicht hinwegsehen. Der Jäger drückte mich ins Magazin. Doch auch noch vier weitere Patronen, die nun auf mir lagen. Das Magazin steckte er wieder in die Waffe. Ich fühlte mich ziemlich eingeengt: Von oben drückte das Gewicht der anderen und von unten eine Feder. Nach einem kurzen Marsch hielten wir an. Oben bewegte sich der zylindrische Verschluss der Repetierbüchse zurück und wieder nach vorn.
Dabei wurde die erste der vier Kugeln, die über mir lagen, in das Patronenlager geführt. Was man bei einem Büchsenmacher nicht so alles lernt, dachte ich mir, als mir klar wurde, wie viel ich über den Aufbau von Waffen wusste, als ein Ohrenbetäubender Knall mir durch Mark und Bein fuhr. Die brachiale Kraft der Pulverladung zu Füßen meines Kollegen hatte ihn durch den Lauf in ein Ziel geführt. Ohh, wie ich ihn beneidete. Doch etwas stimmte nicht. Der Verschluss fuhr nochmal zurück, warf die leere Hülse aus und schob die nächste Patrone ins Lager. Mit leichter Verwunderung lauschte ich dem leichten Kratzen der Mechanik, die schließlich den gespannten Schlagbolzen nochmals freigab und die zweite Ladung zündete.
War der erste Schuss danebengegangen? Jetzt war ich doch ganz froh,
nicht der Erste gewesen zu sein. Der Vorgang wiederholte sich noch zwei Mal- jetzt bekam ich Angst, ich glaubte zu wissen, wo ich war: Auf einem Schießplatz. Einem Ort, an dem Patronen nur zum Spaß abgefeuert wurden. Dort gab es keine majestätischen Tiere, nur kalte Papier- und Metallscheiben. Ich spürte den Druck der Feder unter mir immer heftiger, die mich von unten gegen den Verschluss presste.
Und meine schlimmsten Befürchtungen wurden wahr: Der kalte Metallzylinder schob sich über mir zurück, nur um mich gleich wieder nach vorn zu schieben.
Ich sah Licht - und einen Schießstand.
Ich hatte Angst.
Sollte das meine letzte Ruhestätte werden?
Ein öder Sandhaufen am Ende einer hundert Meter langen Bahn?
Ich würde also nur ein Stück Papier durchbohren. Vielleicht wenigstens das schwarze im Zentrum und nicht das weiße, das meilenweit von der Mitte entfernt lag. Als der Abzug durchgezogen wurde, ergab ich mich meinem Schicksal und schloss die Augen. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Dann traf der Schlagbolzen auf das Zündhütchen.

Neue Chance

„Klick!“
Ich erschrak.
Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.
Das Zündhütchen meiner Hülse war ein Blindgänger!
Innerlich Vollführte ich kurz Freudensprünge. Bis mir bewusst wurde, was das bedeutete: Ich würde nicht nur nie etwas zur Strecke bringen, ich würde auch nie in meinem Leben je abgefeuert werden. Ich versank in tiefer Trauer und stürzte gedanklich in eine bodenlose Schwärze, die meine Sinne benebelte.
Als ich aus ihr wieder erwachte, lag ich irgendwo auf dem Boden, mitten im Schlamm und es begann zu Regnen.
Hier würde ich also enden. Wenigstens würden mir die unbarmherzigen Elemente ein schnelles Ende bereiten, dachte ich mir.
Doch ich hatte Glück. Eine gute Seele von altem Mann nahm mich vom Boden auf und legte mich in einen schwarzen Eimer, mit dem er mich bis zu sich nach Hause brachte. Dort reinigte er mich mit einer Wurzelbürste und steckte mich Kopfüber in das Endstück eines Merkwürdigen Hammers. Auch wenn ich es kaum glauben konnte: Ein Entlaborierhammer! Den kannte ich aus der Büchsenmacherwerkstatt, damit konnte man Patronen in Geschoss und Hülse trennen, um das Geschoss in eine andere Hülse zu pressen. Ich bekam eine zweite Chance. Und so trennte mich ein harter Schlag auf den Tisch des alten Mannes von meiner nichtsnutzigen goldenen Hülse mit dem verreckten Zündhütchen und dem mittlerweile ziemlich durchnässten Pulver. Kaum war ich freigekommen, wurde ich in eine neue Hülse gepresst.
Diese war zuvor mit von Hand abgewogenen Nitropulver befüllt worden und
glänzte in kaltem, spiegelglattem Silber.

Endlich bekam ich das, was ich verdiente. Ich stand noch einige Tage auf der Werkbank des alten Mannes und konnte aus dem Fenster sehen. Große graue Regentropfen prasselten gegen die Scheiben und nur selten wurden die dunklen Gewitterwolken am Himmel von einem einzelnen Lichtstrahl durchbrochen. Schließlich obsiegte die Sonne jedoch und ich wurde abgeholt, zu einer Reise, die ich nie wieder vergessen würde. Der alte Mann steckte mich mit drei anderen Patronen an eine Weste, genau auf seine linke Brusttasche, auf der kleine Laschen befestigt waren, um Patronen zu halten. Diese Weste zog er nun an und ging aus dem Haus. Die Sonne ging gerade auf, als er die Tür hinter sich zuzog und ins Auto stieg. Nach einer kurzen Fahrt vorbei an einigen Häusern veränderte sich das Bild der Landschaft vor dem Fenster. Statt gepflegter Vorgärten sah ich Felder und Wiesen, die vom nächtlichen Regen noch ganz feucht waren und in der tief stehenden Morgensonne wie tausend Diamanten funkelten, gefolgt von dunklen Wälder, deren mächtige Bäume in einer leichten Brise hin und her wogten. Nach etlichen Kilometern verließ der Wagen die asphaltierten Straßen und bog auf einen matschigen Feldweg ab,
der nach wenigen hundert Metern in einen Eichenwald mit gigantischen Bäumen führte.
Der Boden war mit Laub bedeckt und feine Gräser sprossen zwischen mächtigen, knorrigen Wurzeln hervor.
Hier endete die Fahrt und der alte Mann stieg aus dem Auto heraus und erklomm nach kurzem Fußmarsch einen Hochsitz. Dort angekommen zündete er sich eine Pfeife an und nahm gemächlich auf einem Sitzbrett Platz.
Tabakrauch umschmeichelte mich. Er roch nach Vanille und hatte eine so feine Konsistenz wie morgendlicher Bodennebel. Anmutig und doch auf eine merkwürdig leichte Art sehr schwer, so kam er mir vor. Als die Pfeife ausgeglüht war, nahm der Jäger sein Gewehr zur Hand. Ein wunderschönes, handgearbeitetes Stück: Die schwarz brünierte Kipplaufbüchse hatte einen zart gemaserten Walnussschaft und eine Gravur in Form eines majestätischen, alten Hirsches auf der Basküle. In das Patronenlager führte er meine Hülse ein und schloss die Waffe vorsichtig mit einem leichten klicken. Jetzt hieß es warten.
Ich blickte durch den Lauf zur Mündung. Dort würde ich bald hinausfliegen, in die endgültige Freiheit, ins Ziel. Doch sollte dass das Ende bedeuten?
Weiter kam ich nicht- Der Ausschnitt der Welt den ich von hier aus sah, bewegte sich plötzlich.
Und endlich erblickte ich es - mein Ziel.

Ein stattlicher Hirsch, fast so schön wie die Gravur auf der Waffe, war vor uns aus dem Unterholz getreten. Sein Geweih war so dunkel wie die Eichen um uns herum, sein Fell so glatt wie Wasser und glänzend wie der Sonnenaufgang. Dunkelbraune Augen blickten sich aufmerksam um. Er trat noch einige Schritte weiter vor und neigte sein mächtiges Haupt nach unten, um zu äsen. Als er es wieder hob, stiegen feuchte Nebelschwaden aus seinen Nüstern in die kalte Morgenluft auf. Ich sah ihn wie gebannt an. Zu meiner rechten knirschte etwas ganz zart. Die Waffe wurde entsichert. Jetzt sah der Hirsch mich direkt an. Ich hielt den Atem an. Noch einen Schritt, mach noch einen Schritt zur Seite, dann stehst du perfekt, genau im rechten Winkel zu uns.


Der Tod

Und der Hirsch tat genau, was ich mir erhofft hatte.
Er stand nun mit seiner Flanke rechtwinklig vor mir. Hinter mir kratzte Metall.
Die nächsten Augenblicke verliefen wie in einer Art Trance, in Zeitlupe. Ich spürte wie die Kraft der Feder den Schlagbolzen nach vorn schnellen ließ, wo er auf das Zündhütchen traf. Und dieses Mal entstand hinter mir ein gewaltiger Druck, heiße Verbrennungsgase expandierten und drückten mich mit unglaublicher Wucht nach vorne in den Lauf hinein. Die Züge und Felder schnitten sich tief in meinen Bleikern ein und verpassten mir eine ordentliche Rotation um mich selbst. Vor meinem inneren Auge huschten Bilder von meinem Leben auf. Ich empfand in diesen Momenten die absolute Euphorie. Schließlich verließ ich den Lauf mit einer Stichflamme und einer kleinen Rauchwolke. Der Moment des Austretens aus dem Lauf - Er fühlt sich an, als ob alle Sorgen und Ängste von dir abfallen, als ob du absolut frei bist.
Der Flug, der sich anschloss, kam mir vor, wie ein ganzes Leben - ich lebte ein freies Leben, niemand konnte mir etwas tun und ich wusste zum Ende hin immer genauer, das ich meine Träume bald erfüllt sehen würde.
Dann ging alles ganz schnell. Der Hirsch kam immer näher und ich pflügte durch sein glänzendes Fell hindurch bis zu Haut. Dort fühlte ich die enorme Kraft, mit der ich unterwegs war, es wurde dunkel um mich herum und ich konnte spüren, wie ich immer weiter deformiert und zusammengedrückt wurde. Immer noch war ich sehr schnell und kam auf der anderen Seite des Tieres wieder heraus. Jetzt hatte ich ihn, meinen Blutnebel.
Die Sonne stand noch nicht hoch am Himmel und schimmerte in feinen Strahlen durch das dichte grüne Eichenlaub über mir bis auf den Boden.
Der rote Nebel glitzerte wie hunderte Rubine und ich konnte mich nicht satt sehen an der Ästhetik des Todes. Um mich herum Edelsteine in der Luft, roch es nach frischem Gras, feuchter Erde und Eichenrinde.
Der Hirsch machte noch einen einzigen Schritt und sackte dann in sich zusammen. Einige Meter hinter ihm schlug ich auf dem Boden auf und grub eine Rinne durch Erde und Laub, an deren Ende ich wieder nach oben kam.

Der alte Jäger zog vor dem prächtigen Hirsch den Hut und überreichte ihm einen Tannenzweig als letzten Bissen, bevor er ihn zu seinem Auto zog. Ich sah ihnen nach, bis sie aus meinem Blickfeld verschwanden.
Erst jetzt wurde mir klar, dass ich am Ende meines Lebens stand. Ich hatte erreicht, was ich wollte.

Diese Erlebnisse haben mich gezeichnet, tiefe Narben zieren nun meinen Körper und ich werde nie wieder etwas solches erleben können. Trotz der widrigen Umstände meiner Herkunft und meinem Unglück auf dem Schießplatz hatte ich bekommen, was ich mir gewünscht habe.
Unfähig selbst zu handeln, dachte ich, dass ich keinen Einfluss auf mein Leben nehmen könnte. Doch den Glauben verlor ich nie.
Viele meiner Art haben sich geopfert - auf dem Übungsplatz - damit ich mein Ziel erreichen konnte. Und jetzt liege ich hier im Moos, zwischen frischem Laub, Zweigen und feuchter Erde, unter mächtigen Eichen und lasse mein Leben Revue passieren. Ich, der geschaffen wurde, um zu töten, warte nun auf mein eigenes Ende.
Ich werde wieder Teil des großen Ganzen werden. Ich kehre zurück in die Erde, aus der ich einst geboren wurde. Und während ich just in diesem Moment innerlich eine große Freiheit und Friedlichkeit empfinde, beginnen zarte Regentropfen auf den Boden zu fallen, in die die Sonne am Himmel einen Regenbogen zaubert und ich erkenne, dass die Welt aus der ich nun scheide, schöner ist, als ich während meiner Jahre in der Dunkelheit hinter Stahl je zu hoffen gewagt hatte.
 



 
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