Kur-"Schatten"?

karlkarl

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Kur"Schatten"

November

An der Saale hellem Strande....
Der Fluß ist dunkel, fast schwarz, die Ufer eingehüllt in Nebel, der früh gefallen ist. Nur ab und zu ein farbiger Fleck, golden, rot, oder von der Farbe alten Kupfers, je nach der Art des Baumes, der sich von der Last seiner Blätter in der Erwartung des ersten Frostes befreit hat. Die kahlen Kronen der riesigen Bäume verlieren sich in düsterem Grau. Wo tagsüber eine bunte Schar von Wasservögeln den von gutmütigen Passanten gespendeten Brotkrumen nachjagte, zieht ein einsamer Schwan seine Bahn im dunklen Wasser. Lautlos gleitet er dahin, ich schaue ihm nach, bis ihn die graue Wand verschluckt hat.
Was ihn zu dieser Zeit noch umhertreibt, ich weiß es nicht. Stille breitet sich aus, Geräusche aus der Ferne klingen gedämpft, wie durch eine dicke Watteschicht. Der Fluß folgt lautlos seinem begradigten Bett, kaum eine Welle kräuselt die Oberfläche, nur vorbeitreibende tote Blätter lassen seine Bewegung ahnen. Der Kurpark liegt verlassen, nur gelegentlich irrt ein Passant umher, ein Kurgast vielleicht, vergeblich bemüht, die ärztlich verordnete Laufleistung doch noch zu erfüllen. Die Springbrunnen murmeln ihr ewig gleiches, monoton plätscherndes Lied, doch niemand hört zu, bald wird der Frost sie zum Schweigen bringen. Die Stadt ist menschenleer. Die hell erleuchteten Schaufenster zeigen ihre Pracht, vergeblich, da niemand sie bestaunt und sie nicht fähig sind, sich selbst zu bewundern. Rot...blau...grün...rot...blau...,das Farbenspiel im Fenster der Boutique am Markt malt ein geisterhaftes Farbenspiel in die dichter werdenden Schwaden.

Der Tag erwacht. Nur langsam gewinnt das Tageslicht den Kampf gegen das dunkle Grau der Nacht. Die Schwäne und Enten haben sich wieder unter der Brücke auf dem Fluß eingefunden, wohl wissend, daß hier ab und zu ein Brocken Brot zu ergattern ist. Es herrscht eine strenge Ordnung in der bunten Schar. An erster Stelle in der Hierarchie stehen die Schwäne, groß und stark, in hochmütigem Weiß gewandet, beanspruchen sie die besten Brocken und hacken erbarmungslos nach den kleineren Enten. Auch bei diesen haben die größeren Bunten den Vorrang vor den kleineren Graubraunen, und die ganz kleinen Schwarzen gehen meist leer aus. Ich versuche meine Brotstücke den Kleinsten zuzuwerfen, aber im Nu stürzt sich der große Schwarm darauf. Das Wasser brodelt, wenn sich hundert und mehr Vögel auf die wenigen Brocken stürzen, und hat eine der kleinen Enten ein Futterstück geschnappt, wird sie von den anderen gnadenlos gejagt, bis sie das Stück verliert, oder hastig hinunter geschlungen hat

Das Stadtbild hat sich etwas belebt. Dicht vermummt eilen Menschen durch die Straßen. In den Hallen des Kurhauses wandeln die Gäste mit wichtigem Gesichtsausdruck gemessenen Schrittes umher. Der Pianist hat Platz genommen und streichelt die Tasten, als denke er mit den Fingern nach. Wohl inspiriert durch den Blick durch eines der großen, mit Grünpflanzen verstellten Fenster in den nebelverhangenen Park gleitet sein Spiel immer wieder nach Moll. Auf den langen Reihen weiß lackierter Ruhebänke sitzen vereinzelt Leute, ängstlich bemüht, jeden Kontakt zu vermeiden, jeder verteidigt mit abweisendem Blick seine selbstgewählte Isolation. Auf einer Bank sitzt ein Pärchen, beide etwa Mitte 50. Er hat den Arm um sie gelegt, sie sehen nicht besonders glücklich aus. Sie passen nicht zueinander, wahrscheinlich eine jener Zufallsbegegnungen, die zustande kommen, wenn die Kur sich ihrem Ende zuneigt und der für das Selbstwertgefühl so wichtige Kurschatten sich immer noch nicht eingefunden hat. Das Kurorchester beginnt zu spielen, ein langsames, getragenes Stück, einige Leute stehen auf, verharren stumm.
Ich bin irritiert, dann erkenne, ich das Stück und verstehe.
Es ist die Bayernhymne, traditionsbewußte Bayern erheben sich und nehmen den Hut ab. Ich bleibe sitzen und qualifiziere mich damit entweder als traditionsloser Geselle oder als verdächtiger Ausländer, wobei Ausland hinter der bayrischen Staatsgrenze beginnt. Das Pärchen ist immer noch da, er redet auf sie ein, sie blickt starr geradeaus, die Kurkapelle ist zu heimatlichen Weisen übergegangen. Die Stuhlreihen vor der Bühne haben sich gefüllt mit sprachlosen Menschen, jeder sorgsam darauf achtend, links und rechts einen freien Stuhl zu haben.

Mein abendlicher Gang durch den Kurpark wird von leichtem Nieselregen begleitet. Im Kurcafe nehme ich einen heißen Tee, der macht warm und beruhigt etwas die von der mageren Kost geschundenen Magennerven. Ich bestelle meinen Tee und sehe mich um. Ein rascher Rundblick zeigt mir schon, daß ich etwas deplaziert bin. Die Gäste rings um mich sind festlich gekleidet, ich bin in einen Tanztee geraten. Die Paare betreten die Tanzfläche wie die Akteure eines großen Schauspiels die Bühne. Die Herren korrekt gekleidet in Anzug mit Krawatte, die Damen im paillettenbesetzten schwarzen oder mitternachtsblauen, schulterfreien Abendkleid. Ein huldvoller Blick zum Kapellmeister (und seiner vollelektronischen Kapelle), ein weiterer beifallheischender Blick in die Richtung des (mehr oder weniger) staunenden Publikums und ab geht die Post. Drehung, Wiegeschritt, Passage, Soloteil..., der im Anzug ist nur Staffage, nötig zwar, denn allein sähe es doch seltsam aus, aber ansonsten nur untergeordneter Teil der Show. Nach dem Tanz dezenter Applaus, er geleitet sie zum Tisch, rückt den Stuhl zurecht, nimmt nach ihr Platz und lauscht ergeben ihren sicher geistreichen (weiß ich nicht) und zahlreichen (kann ich verfolgen) Äußerungen. An den meisten Tischen das gleiche Bild. Dazwischen ein paar Singles, aufwendig restaurierte Damen mit Zigarettenspitze und schwarz umrandetem Augenaufschlag, grauhaarige Salonlöwen mit weißem Jakett, schwarzem Hemd und weißer Krawatte, den schweren Siegelring an der Hand und gelangweilte Überlegenheit im Blick. Verlierer unter sich. Und wenn dann die Kapelle die Kurve gekriegt hat vom Quickstep zum Blue Bayou, dann schlägt die Geburtsstunde der Kurschatten, der Beginn jener aus Langeweile und Geltungssucht, aus Torschlußpanik und manchmal echter Einsamkeit angefangener Beziehungskisten, deren Ende mit dem Ende der Kur oft nicht akzeptiert, zu den abenteuerlichsten Verwicklungen führt. Mein Tee ist kalt, die Rituale bleiben stets die gleichen, ich nehme das nasse Pflaster wieder unter die Füße.

Der Fluß zieht mich an. Sein schweigender steter Lauf zieht die Gedanken an sich, hält sie fest, trägt sie fort, spielt mit ihnen, spült sie mal an dieses mal an jenes Ufer. Lautlos fallen die Blätter. Solange sie lebten waren sie gebunden an ihren Baum. Jetzt sind sie tot und frei, der Fluß nimmt sie mit auf die große Reise ohne Wiederkehr. Die Bäume ziehen sich zurück in sich selbst, bereiten sich vor auf den Angriff des Winters und den langen Schlaf. Ich weiß nicht, ob Bäume träumen können, und wenn ja, von was sie träumen. Ob vom vergangenen Sommer oder vom kommenden Frühling, von vergangenen Zeiten, von dem was sie gesehen, gehört und gefühlt. Von dem Wind, der sie gezaust, diesem wilden Gesellen, der ihre Namen nicht kennt, nur mit ihnen spielt, rasch eine Geschichte von fernen Ländern erzählt und dann eilig weiterzieht. Von den Vögeln, denen sie Heimat in ihren Ästen gegeben, die sie mit ihren Früchten genährt, denen sie Schutz und Ruheplatz zugleich waren. Von den Menschen, die in ihrem Schatten ruhten, wenn zur Sommerzeit die Sonne vom Himmel brannte. Vielleicht haben sie ein kollektives Bewußtsein, in dem sie träumend sich vereinigen. Wie gesagt, ich weiß nicht, ob Bäume träumen, aber ich glaube schon.
Einige von ihnen sind tausend und mehr Jahre alt. Welch ungeheure Menge von Erinnerungen und Erfahrungen, obwohl sie sich nie von der Stelle bewegt haben. Die Erinnerungen sind zu ihnen gekommen, der Wind hat sie weitergetragen, sie sind mit dem Regen gekommen und der Fluß hat sie mitgenommen bis zum Meer, von dort zu den Wolken und zurück zu den Bäumen mit dem silbernen Tau des Morgens. Alte Bäume sind weise, sie tragen in sich die Erinnerung eines langen Lebens und das Wissen einer ganzen Art. Ich weiß nicht, ob Bäume denken, aber ich glaube schon.
Die Szenerie ist bedrückend. In der Trinkhalle und der daran anschließenden Wandelhalle bewegen sich etwa 300 Menschen, schweigend, ein Glas in der Hand, gelegentlich trinkend. Das Bedrückendste daran erscheint mir, daß es überwiegend Leute im siebten oder achten Lebensjahrzehnt sind, die trotz der ungeheuren Summe an Lebenserfahrung nicht gelernt haben, miteinander zu reden. Jeder hält sich an seinem Glas mit Gesundbrunnen fest (es schmeckt unbeschreiblich) und beäugt argwöhnisch seine Umgebung, der abweisende Gesichtsausdruck signalisiert 'laß mich bloß in Ruhe'. Jeder für sich, und Gott gegen alle. Dabei sind sie doch alle in irgend einer Weise krank, ihre Gebrechen teils körperlicher aber möglicherweise in weit größerem Umfang seelischer Natur. Gerade die Letzteren brauchen Zuwendung und Zuspruch und sei es nur das Wissen, daß ihnen jemand zuhört und ihnen damit ein Minimum menschlicher Zuwendung zuteil wird. Aber dieser dringende Wunsch nach Zuwendung wird von dem noch dringenderen Wunsch nach Abgrenzung überlagert, ein Konflikt, der kaum lösbar ist. Möglicherweise entspringt dieses Verhaltensmuster dem Urinstinkt der Tiere, die sich, den nahenden Tod fühlend, verkriechen um in Frieden zu sterben.
Bäume sterben leise. Ich meine nicht den Tod eines Baumes unter dem Gekreisch von Motorsägen, deren stählerne Zähne sich in den Stamm fressen und seinen Lebensnerv zerstören. Ich meine auch nicht den jähen Tod durch Entwurzeln im heftigen Wüten eines Sturmes. Ich meine diesen langen, leisen Tod, bei dem die Äste mehr und mehr verdorren, das Grün der Blätter in jedem Frühling weniger wird und der Stamm, rauh und rissig, Wunden nicht mehr verschließen kann. Es ist ein langes Sterben. Man schaut ihn an im Herbst und sagt ihn tot. Und im nächsten Frühling hat er wieder grüne Blätter, weniger als im letzten Jahr, aber er zeigt, daß er immer noch lebt, viele Jahre lang. Und wenn dann nur noch wenige Blätter übrig sind, wenn die Wurzeln die Kraft verloren haben, dann stirbt der Baum, und eines Tages wirft ihn der Wind zu Boden, er vergeht und wird zu dem, was er war. Ich weiß nicht, ob Bäume leiden, aber ich glaube schon.

Ich habe mich selbst ertappt bei dem beschriebenen Verhaltensmuster der Revierabgrenzung. Im gutbesetzten Cafehaus sitze ich an einem -freien!- Tisch, trinke meinen Tee und schreibe ein paar Zeilen. Nach einer Weile setzen sich zwei alte Damen zu mir. Ich bin irritiert, zahle und gehe. Möglicherweise entsprechen die beiden nicht meinem Idealbild alter Damen, weißhaarig, gütig und weise, vielmehr sahen sie etwas zänkisch aus. Ich habe nicht versucht, diesen Eindruck zu bestätigen oder zu widerlegen, ich bin einfach gegangen. Sie haben nicht mit mir gesprochen, ihre bloße Anwesenheit hat mich gestört. Ich glaube, ich unterliege wie alle anderen dem Phänomen der Sprachlosigkeit. Dieses Phänomen ist in vielen Bereichen anzutreffen, wie ich vermute sogar bei vielen Leuten die miteinander reden, zumindest nach außen hin, in Wahrheit sagt jeder seinen Text auf, ohne dem anderen zuzuhören oder gar auf das, was er sagt, einzugehen. Die Fähigkeit zum Gespräch in des Wortes ureigenster Bedeutung, zum echten Austausch von Gedanken, zur Analyse des vom Gegenüber gesprochenen Wortes, ist nicht vorhanden oder wird durch egozentrische Mechanismen verdrängt. Unterhaltungen verkommen immer mehr zu Monologen mit einem Gegenüber als Staffage. Damit tritt zweifellos auch eine Stagnation in der kulturellen Entwicklung ein, da Gedanken des Individuums nicht mehr aufgenommen und zum Nutzen eines kollektiven Bewußtseins weiterentwickelt werden. Einige wenige denken vor und hämmern ihre Sicht der Dinge mit Hilfe der modernen Kommunikationsmedien in die Hirne der sprachlosen und weitgehend kritikunfähigen (im Sinne konstruktiver Kritik) Mehrheit. Was aber ist, wenn die Vordenker nicht recht haben? Was ist, wenn die Vordenker ihren furchtbaren Irrtum zu spät erkennen, wenn der blaue Planet kein Leben mehr trägt? Kein Leben? Ich verfalle dem gewohnten Denken der Menschen, Leben automatisch mit dem Leben der Spezies Homo Sapiens gleichzusetzen. Leben wird auf dem blauen Planeten weiter existieren, in anderen Formen, die in der Lage sind, den atomaren Holocoust zu überstehen, Flechten, Moose, Insekten, vielleicht ein paar Bäume. Sie werden weiterleben und die Information des Geschehens in sich tragen, sie von Generation zu Generation weitergeben. Es wird keine Kriege mehr geben, Bäume sind friedlich. Und wenn sich die Staubwolken nach jenem finalen Geschehen gelegt haben, werden sich die Schößlinge aus der Asche erheben, werden zu Bäumen heranwachsen und in einer friedlichen Revolution diesen Planeten in Besitz nehmen. Die Stürme des atomaren Feuers werden sich legen und wieder zu Winden werden, zu jenen unsteten Gesellen, die Länder und Meere überqueren, den Bäumen die Kronen zerzausen, ihnen schnell ihre unglaublichen Geschichten erzählen und dann weitereilen. Neue Quellen werden entspringen und die vertrockneten und verdampften Flußbetten füllen und ihren Weg suchen zum Meer. Wolken werden wieder ziehen und Regen spenden für das verbrannte und geschundene Land, damit die neuen Herren der Erde trinken und wachsen können, unbehelligt von Vordenkern und einer allzu gläubigen Mehrheit. Sicher wird es noch Spuren der Menschheit geben, Spuren von ihren Bauwerken, die für die Ewigkeit gebaut waren, Spuren der Vernichtung von Natur und Umwelt. Aber die neuen Bewohner werden die Spuren zudecken, über sie hinwegwachsen und nur das Wissen in sich behalten. Ich weiß nicht, ob Bäume vergessen, aber ich glaube nicht.

Die Natur ist alt, sehr alt. Sie kann warten und sie kennt ihre Chance: das Programm in unserem Kopf, das zur Selbstzerstörung unserer Art angelegt ist, läuft bereits auf vollen Touren, durch nichts mehr aufzuhalten. Die Natur wird überleben, und wenn der letzte Mensch von seinesgleichen erschossen, erschlagen, vergiftet, verbrannt ist, wird sie daran gehen, die schweren Wunden, die ihr der Mensch geschlagen hat, zu heilen. In buchstäblich letzter Sekunde der Geschichte unseres Planeten ist der Mensch auf der Bühne erschienen. Aber anstatt die ihm von einem leichtfertigen Schöpfer verliehene Intelligenz zum Wohl und Nutzen aller Kreatur einzusetzen ist er dem Wahn verfallen, Krone der Schöpfung zu sein, sich die Erde und die Natur untertan machen zu müssen, sie auszubeuten und sie zu zerstören. Der furchtbare Begriff des Holocoust ist besetzt, bezeichnet die versuchte Ausrottung einer Rasse, ein Geschehen, das mit menschlicher Vernunft nicht zu erfassen ist. Wie aber soll man das nennen, was augenblicklich auf der Erde abläuft, die Ausrottung vieler Arten, inclusive der des Menschen? Selbstmord ist eigentlich nicht das richtige Wort, da viele Menschen begriffen haben, wo der Weg hinführt, sie haben nur nicht die Macht, diesen Irrsinn aufzuhalten. Mord ist wohl die adäquate Bezeichnung, da jene, die die Macht haben sie nicht nutzen, um die Menschheit zur Umkehr zu bewegen. Sie werden zu Mördern vieler Arten und letztendlich zu den Managern eines finalen Super-Holocoust. Aber auch hierin steckt ein Denkfehler, bedingt durch die zwangsläufig subjektiv-menschliche Betrachtungsweise des Problems. Das, was für die menschliche Spezies der finale Holocoust ist, stellt für die Natur nur eine unbedeutende Episode in ihrer Geschichte und im Kommen und Gehen der Arten dar. Unzählige hat sie kommen und gehen sehen, allerdings hat ihr bislang keine so schwere Wunden zugefügt wie der Mensch. Sie wird uns nicht vermissen, im Gegenteil, es wird lange dauern, bis die Wunden, die wir ihr geschlagen haben, verheilt sind. Aber Zeit ist nur wichtig von der lächerlich kurzen Lebensspanne eines Menschenlebens aus betrachtet, die Erde lebt in anderen Zeiträumen. Die Natur hat vorgesorgt, sie hat das Programm zur Selbstzerstörung unauslöschlich in unseren Köpfen eingeprägt, und jetzt hat sie es zu ihrem eigenen Schutz aktiviert. Der Countdown läuft, niemand wird ihn aufhalten. Gut für die Erde.

Das gewohnte Ritual nimmt seinen Lauf. Die Wandelhallen füllen sich, der Pianist hat Platz genommen und spielt Gershwin. Die Bänke sind im gewohnten Abstand besetzt, die Ausgabe der Trinkgläser beginnt, jedes mit eigener Nummer, damit ja keine Verwechslungen vorkommen. Abgrenzung auch hier. Grüppchen, die etwas lauter reden oder gar lachen werden mißbilligend beäugt, sie gefährden offenbar den Kurerfolg. Lautes Lachen in diesen ehrwürdigen Hallen käme schon fast einem Sakrileg gleich. Ich bitte eine der Damen an der Wasserausgabe, mir die Trinksitten etwas näher zu erläutern, sie blickt mich mürrisch an und dreht mir dann den Rücken zu, offensichtlich fühlt sie sich auf den Arm genommen. Ich war ehrlich interessiert. Ich nehme mir einen der Plastikbecher für zwei Groschen und hole mir Wasser an einem anderen Brunnen. Es schmeckt noch abartiger als das von gestern. Ich leere den Rest in einen der zahlreich herumstehenden Blumenkübel und hoffe, daß die Blumen keinen Schaden nehmen.
Aus einem grauverhangenen Himmel fällt der Regen, nicht heftig, aber gleichmäßig. Durch große, prachtvoll bemalte Fenster kann man in den Park sehen. Der Wind bewegt die nun schon fast kahlen Äste, fegt die letzten Blätter vom Baum, wirbelt sie spielerisch herum, bevor sie am Boden zur Ruhe kommen oder vom Fluß fortgetragen werden. Die Räume des Badehauses gleichen hohen Kirchenschiffen, mit Säulen und Rundbögen, großen Spiegeln und prachtvoll verzierten Fenstern. Im Warteraum stehen mit Schnitzereien verzierte Ohrensessel, beeindruckend, auch wenn der Plüschbezug schon etwas verschlissen ist. Auch die Fenster verraten bei näherem Hinsehen, daß sie schon bessere Tage gesehen haben. Da wo eigentlich ein Kronleuchter angenehmes Licht spenden sollte sind ein paar häßliche Neonleuchten angebracht. Trotz des verblaßten Interieurs mit diversen Stilbrüchen fällt es mir nicht schwer, mir die Szenerie mit all ihrer Pracht zu den Zeiten vorzustellen, als hier anstelle der LVA-Patienten noch Kaiser und Könige wandelten und auf Kosten ihrer Untertanen die Folgen ihrer unmäßigen Lebensweise zu kurieren versuchten, weitab von dem Volk, das so war wie sie es liebten, arbeitsam, schweigsam, gefügig, Eigenschaften, die auch heute noch den Mächtigen in aller Herren Länder den Erhalt ihrer Macht sichern.


Eine Amsel sitzt in den Zweigen eines Baumes mit grünen Nadeln und roten Beeren, ich glaube es ist Wacholder. Sie läßt sich wiegen von dem Wind, der immer wieder durch die Äste fährt, ab und zu pickt sie eine der roten Beeren, sie scheint satt zu sein und sich wohl zu fühlen. Ihr Freund, der Baum schützt sie, nährt sie, wiegt sie. Sie weiß nicht, daß der Baum ihr Freund ist, sie ist in ihren Instinkten programmiert, diesen Baum aufzusuchen. Der Mensch sollte eigentlich wissen, daß die Bäume auch seine Freunde sind. Sie geben ihm Nahrung, Wohnung, spenden lebenserhaltenden Sauerstoff, geben Schatten und schützen vor Lärm und Staub. Doch wie schäbig gehen wir mit ihnen um, wir fällen sie, um Straßen zu bauen für unsere Autos, deren Abgase unsere Freunde langsam aber sicher töten. Wir belasten sie mit Staub und Ruß und giftigen Abgasen aus Kraftwerken und Flugzeugen, wir sägen sie um, damit neue Skipisten gebaut werden können, wir brennen sie nieder, um neuen Raum für landwirtschaftliche Nutz-flächen zu erhalten, die nur dazu da sind, die bestehende Überproduktion noch mehr zu erhöhen. Wir gehen sehr schlecht um mit unseren Freunden. Ich weiß nicht, ob die Bäume uns noch lieben, ich hoffe es, aber ich glaube es nicht.


Es zieht mich wieder zum Fluß. Durch den unaufhörlichen Regen gespeist ist er schneller geworden. Seine Blätterfracht, die gestern noch gemächlich am Ufer entlangtrieb wird jetzt in die Mitte gerissen und ist schnell hinter der nächsten Biegung verschwunden. Nur vereinzelt sind Enten zu sehen, bei diesem Wetter ist niemand da, der sie füttert. Die Weiden am Ufer lassen ihre langen, vom Regen schweren Äste fast bis auf die Wasseroberfläche hängen, der Wind bemüht sich vergeblich, sie zu bewegen. In wenigen Tagen wird es Schnee geben, er wird die letzten Farbtupfer am Ufer zudecken, und mit dem ersten Frost beginnt die harte Zeit für die Tiere am Fluß.
 



 
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