Kurz vorher

Auf Schwätzer kann ich verzichten. Nicht nur in der Politik. Sie kündigen an und kündigen an und verzichten auf Taten. Konnte ich denn, da ich die Strecke zum ersten Mal fuhr, ahnen, dass der Regionalexpress vor Koblenz nicht mehr hielt?
Fast lüstern lächelnd begrüßte er mich, als ich zu ihm ins Abteil stieg, legte seine Zeitschrift- offenbar gehobene Pornographie - beiseite und zog die Beine so weit an, dass ich mich unmittelbar aufgefordert fühlte, ihm gegenüber am Fenster Platz zu nehmen. Hätte lieber an der Abteiltür gesessen. Er war hager und sah älter aus. Um die sechzig, vielleicht auch gut fünfzig. Es kostete Mühe, ihm in die grau geränderten, leicht vorstehenden Augen zu blicken. Sein Räuspern drohte Geschwätzigkeit und indiskrete Fragen an. Die Hände lagen halb geöffnet auf grau behosten schmalen Oberschenkeln, als wage er nur unter Skrupeln, um eine Spende zu bitten.
„Sie machen einen ehrlichen Eindruck, mein Herr. Krasse Egoisten sind solche, die sich nicht dafür halten. Halten Sie mich..., sagen Sie mir spontan ihren ersten Eindruck, halten Sie mich für einen Egoisten?"
„Aber ich kann doch jetzt noch nicht beurteilen...!“
Allmählich ballt er seine Hände zu Fäusten. Spricht plötzlich abgehackt, leise, leidend. "Wissen Sie, selbst wenn ich jetzt im Sterben läge und nur noch Minuten zu leben hätte, würde ich Sie niemals bitten, bei mir zu bleiben!“
Er zieht sein zerknittertes weißes Oberhemd aus der Hose, streicht es andächtig über dem Bauch glatt. Den Mund halb geöffnet lehnt er sich aufseufzend zurück, starrt mir auf die Knie, die ich mit zusammengepressten Schenkeln zwischen



seinen breitbeinig dargebotenen Knien seinem Blick überlasse. „Sie sind doch ein bescheidener Mensch. Oder ?“
„Ja, schon....“
„Sehn Sie, meistens begegnen sich ähnlich gestrickte Leute. Kontakte mit Andersartigen scheut der Mensch. Obwohl er ziemlich neugierig ist!“
Mein Gegenüber kneift die Augenlider zusammen. „Eigentlich wollte ich nach Koblenz. Diesmal werde ich vorher aussteigen!“
„Sie wohnen in Koblenz?“
„Vor gut zehn Wochen noch, bevor ich in die Klinik musste! Habe noch eine kleine Wohnung in der Mainzer Straße.“ Er schiebt die schmuddelige Hemdsmanschette hoch und sieht auf die Armbanduhr. „In fünf Minuten wären wir da!“
Ruckartig steht er auf, reicht mir die Hand. „Wiedersehen werden wir uns wohl kaum!“
„Hält der Zug noch vor Koblenz?“ will ich fragen. Er schiebt schon die Abteiltür zu. Verschwindet in den Gang des Waggons.

Dem Polizeiaufruf zu folgen, die Leiche eines unbekannten etwa 50-Jährigen zu identifizieren, wäre nicht in seinem Sinn. Kinder fanden sie im Graben an der Eisenbahnstrecke Köln-Koblenz. Den Mann habe bisher niemand als vermisst gemeldet.
 

maerchenhexe

Mitglied
hallo Karl,

dein Text gefällt mir, präzise und ohne überflüssigen Schnickschnack. Welches Fazit könnte man ziehen? Vielleicht: die, die eigentlich schon im Dunkeln sind, erkennen wir nicht, weil sie unauffällig in der alltäglichen Helligkeit neben uns leben. Oder wollen wir sie nicht erkennen, weil es Mühe und sich kümmern bedeutet?

lg
maerchenhexe
 
Liebe märchenhexe,
danke für deine "spontanen Leseeindrücke". Ich denke, es gibt Leute, die sich bereits wie Überflüssige verhalten. Damit machen sie sich unauffällig. Aber es gibt natürlich auf der anderen Seite auch jene, die aus Bequemlichkeit Hilfsbedürftige nicht sehen wollen. Da bestehen oft Wechselwirkungen.
Liebe Grüße
Karl
 



 
Oben Unten