Kurzer Spuk

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a.lipschitz

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Kurzer Spuk


Zwischen Warminster und Shrewton in der Grafschaft Wiltshire kam ein Paar, das sich auf der Durchreise nach London befand, an einem späten Januarabend in einem kleinen Dorf an. Und da der Winter für englische Verhältnisse überaus stürmisch und schneereich ausfiel und ihr Wagen schon mehr als einmal beinahe steckengeblieben wäre, schätzten sie sich glücklich, ein kleines Gasthaus gefunden zu haben, in dem zu dieser Stunde noch Licht brannte.
Sie klopften an die Tür und der Hausherr, ein hagerer alter Mann, der die 70 schon überschritten haben musste, öffnete und führte seine Gäste auch gleich in die Stube, in der noch ein kleines Feuer im Kamin brannte und servierte ihnen Tee und Gebäck. Sie sagten ihm, dass es ihnen um eine Unterkunft für die Nacht ginge und sie würden mit so gut wie allem vorlieb nehmen. Der Alte aber zögerte und sagte, er habe nur noch ein Schlafzimmer frei. Da sahen sich die Ehegatten belustigt an und meinten, dass sie auch nur eines bräuchten, weil sie es sich schon seit nunmehr über 3 Jahren fast jede Nacht teilten.
"Das ist es nicht", gab der Alte zurück. "Es ist nur so, dass ich dieses Zimmer eigentlich nicht mehr vermiete, weil darin schon manches Mal schlecht geträumt wurde."
"Das kann doch wohl in jedem Zimmer passieren", meinte darauf der Mann und glaubte, dass der Wirt nur den Preis in die Höhe treiben wolle, weil sie ja offenkundig heute Abend nicht mehr weiterkonnten und auf seine Herberge angewiesen waren.
Nun begann der Wirt zu erzählen, dass es mit diesem Zimmer eine besondere Bewandnis habe und dass man dort zur Geisterstunde "angerührt" werden könne - so drückte er sich aus - und wem dies geschehe, dessen nächster Albtraum wird wahr und was immer ihm dort im Schlaf widerfährt, das soll im Wachen auch nicht mehr lange auf sich warten lassen.
"Vor Jahren", so sprach er weiter, "haben wir in dem besagten Zimmer einmal einem Waisenkind ein kostenloses Obdach gewährt und irgendwann nach Mitternacht lief es dann schreiend durch das Haus und schwor, dass etwas oder jemand bei ihm im Zimmer war und es berührt habe. Außer meiner Frau und mir war jedoch niemand sonst im Hause und wir versuchten das Kind vergeblich damit zu beruhigen, dass es nur schlecht geträumt hatte, aber es ließ sich nicht von der vermeintlichen Wirklichkeit abbringen. Auch in der folgenden Nacht wachte es auf und hatte geträumt, dass es von einer Bestie mit riesigen Zähnen verfolgt worden war.
Es zog dann zwei Tage später aus, weil es in einem Heim in Devon einen Platz gefunden hatte und Sie können sich unser Entsetzen nicht vorstellen, als wir uns bald darauf nach seinem Befinden erkundigten, und man uns mitteilte, dass es noch am Tage seiner Ankunft von einem entlaufenen Metzgerhund, den offenbar die Tollwut gepackt hatte, gehetzt und zu Tode gebissen wurde.
Ein anderer Gast, eine schon in die Jahre gekommene Dame aus Frankreich, beschwerte sich einmal lautstark beim Frühstück über die Unsitten in diesem Haus und dass sich pünktlich zur Geisterstunde jemand in ihr Zimmer geschlichen und sie berührt habe. Als sie aber Licht machte, war da niemand zu sehen. Einer von zwei jungen Burschen, die ebenfalls bei uns gastierten, grinste während ihres Vortrags allerdings so unübersehbar, dass wir eher ihn als ein unsichtbares Phantom im Verdacht hatten, die Ursache der mitternächtlichen Unruhe zu sein. Die Dame reiste dann auch den selbigen Tag weiter und wir haben weder von ihren darauffolgenden Träumen noch ihrem Verbleib jemals wieder etwas gehört.
So ähnlich ging es noch ein paar Mal mit dem einen oder anderen Gast, der in dem Raum gleich unter dem Dach die Nacht verbracht hatte. Die Folgen blieben zwar harmlos, aber vielleicht auch nur deshalb, weil die Albträume der Erwachsenen von subtilerer Art als die der Kinder sind.
Das war es also, was man sagte, dass passiert sei", schloss der Alte seinen Bericht ab, "und ich weiß nicht, wie viel daran wahr, erdacht oder nur geträumt ist, denn ich selbst habe mein Zimmer hier unten im Erdgeschoss und so wird es auch bleiben, bis ich mein letztes Zimmer noch ein Geschoss tiefer beziehe. Aber ich fühle mich verpflichtet, sie über alle Umstände im vorhinein aufzuklären und wenn sie das Zimmer jetzt trotzdem haben wollen, so können Sie es für den Preis von 5 Pfund bis morgen bekommen."
Der Preis war günstig und da keiner so recht an Geister glauben wollte, war es denn beschlossene Sache, denn im Schnee und in der unbekannten Dunkelheit nach einer anderen Herberge zu suchen, konnten sie auch nicht, und sie bezogen das kleine Zimmer im ersten Stock, das direkt unter dem Dach lag. Es war mit nicht viel mehr als zwei Betten ausgestattet, die an je einer Wand des Zimmers so weit auseinander standen, dass jede Interaktion zwischen den darin Schlafenden unmöglich war.
Und weil das so war und sie auch schon seit dem Morgen gefahren waren, begaben sie sich ohne weitere Umschweife jeder auf seiner Seite zur Ruhe und löschten das kleine Licht auf dem Fenstersims, das das einzige im Zimmer war.
Als aber die Uhr am Kirchturm um Mitternacht auch noch den zwölften Schlag getan hatte, da war doch plötzlich wieder Leben und Unruhe in ihnen und beide konnten kein Auge zu tun, die Frau nicht, weil es sie nun doch vor jenem unsäglichen Etwas graute und der Mann auch nicht, weil sie beide, um sich von der Finsternis im Zimmer und den unerwünschten Gedanken abzulenken, noch lange von Sagen und Geschichten redeten und wie diese sich wie eine Krankheit fortpflanzen und einer das seine und der nächste wieder etwas anderes dazu tut und so die wunderlichsten Dinge zusammenkommen, an denen hinterher keiner die Schuld tragen will. Aber weil jeder Schrecken einmal seine Kraft verliert und alle Dinge, auch die schlimmsten, irgendwann vorüber sind, schlug auch bald die Turmuhr wieder, und diesmal eins, und die Geisterstunde war vorüber, so schleichend wie sie gekommen war.
Da drückten sich beide fest in ihre Kissen, ebenso fest entschlossen, nun endlich den verdienten Schlaf zuzulassen, egal ob er nun gute oder böse Träume mit sich bringen möge, denn Träume bleiben Träume und morgen sei ein neuer Tag.
Und bevor sie ganz einschliefen sagte sie ihm noch, wie gut es war, ihn in ihrer Nähe zu wissen und dass er ihre Hand gehalten habe, denn damit war es ihr gleich viel leichter geworden. Er aber drehte sich um und setzte sich im Bett aufrecht.
"Aber was sagst du denn da?" fragte er erschrocken. "Ich liege doch die ganze Zeit hier in meinem Bett. Und deine Hand habe ich ganz sicher nicht gehalten."
 
Nettes Betthupferl, Herr Lipschitz,

und ein sehr schöner Satz:

"...noch lange von Sagen und Geschichten redeten und wie diese sich wie eine Krankheit fortpflanzen und einer das seine und der nächste wieder etwas anderes dazu tut und so die wunderlichsten Dinge zusammenkommen, an denen hinterher keiner die Schuld tragen will."

Aber das ist man ja mittlerweile schon gewohnt.
Erinnert mich auch ein bisschen an die Berührungsszene aus the haunting. Aber ich will da gar nicht weiter drin rumwühlen. Für eine Gruselsagensammlung bestens geeignet.

Grüsse
 

Mäuschen

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Mir fällt zu dieser Geschichte der Klassiker aus Kindertagen ein. "Auch Mörder können Hände lecken." ^^
Gut geschrieben, mir ist allerdings die Szene etwas zu lang bzw genau, in der der Wirt von den verschiedenen Personen und ihren Träumen erzählt. Da hängt für mich der lineare Spannungsfaden ein wenig durch - aber natürlich alles subjektiv.

Schlusspointe ist spitze.

Liebe Grüße,
Mauserl =)
 



 
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