Kurzgeschichten

VERLASSEN

Sie steht vor dem Spiegel und betrachtet ihr Gesicht. Das fahle Neonlicht lässt es wellig und gedunsen aussehen. Ihre Stirn ist breit und weiß, von schattigen Furchen durchzogen. Die Nasenspitze ist gerötet. Wie immer, wenn sie sich zu sehr aufregt. Sie beugt sich ihrem Spiegelbild entgegen, um dem unvorteilhaften Lichtschatten zu entkommen.
Auch nicht besser.
Hinter ihr wird eine Tür geöffnet.
Schnell streckt sie ihren Rücken gerade und greift geschäftig nach dem Seifenspender. Die flachsfarbene Flüssigkeit, die sich widerwillig heraus quält, ist kühl und zäh. Sie hinterlässt eine unansehnliche Schleimspur auf ihrem Handrücken. Nur Wasser kann helfen, um dieses Zeug schleunigst wieder loszuwerden. Ihre Nasenspitze juckt. Sicher wird sie gleich niesen müssen.
Sie beugt sich über das Waschbecken und schaut entgeistert auf die Armatur vor sich. Die Knöpfe des Wasserhahns sind futuristisch. Auf den ersten Blick lässt sich nicht erkennen, wie die Regeltechnik funktioniert. Sie drückt und zerrt an den verchromten Hebeln herum und flucht in Gedanken vor sich hin.
Ob dieser neumodische Schnickschnack denn auch wirklich Wasser gibt?
„Entschuldigung, darf ich Ihnen behilflich sein?“
Erschrocken hält sie im Hantieren inne. Ihr Blick sucht im Spiegel nach der fremden Stimme. Eine junge Frau steht neben ihr. Sie trägt ein nachtblaues Chiffonkleid. Im Ausschnitt glänzen Strasssteine, an den Ohren klimpern silberne Arabesken. Mit einer resoluten Handbewegung greift die Unbekannte über die Waschkonsole hinweg und schwenkt einen der Hebel nach links. Sofort beginnt es, in den Leitungen zu rauschen und zu klopfen, nach wenigen Sekunden ist auch das Wasser da.
„Es ist alles ein bisschen morsch hier, wissen Sie, die Leitungen, das Haus, überhaupt die ganze Einrichtung. Hauptsache der äußere Schein stimmt. Na ja“, aus ihrer Handtasche kramt sie einen Lippenstift hervor, „was will man anderes erwarten.“
Sie sieht, wie sich die Frau dem Spiegel entgegen lehnt und geschäftig ihre Lippen bemalt. Sie trägt ein kräftiges Braun auf, immer und immer wieder, bis eine dicke Schicht Schokolade alle Natürlichkeit ausgemerzt hat. Dann tritt die Unbekannte einen Schritt zurück und betrachtet ihr Spiegelbild.
„Kussecht sollen sie sein, hat man mir gesagt. Hm. Das nächste Mal frage ich nach Trinkfesten. Küssen will mich hier sowieso keiner.“ Die Frau steckt ihren Lippenstift in die Tasche zurück und wendet sich ihrer Nachbarin zu.
„Sind Sie ein Familienmitglied?“
„Nur eine entfernte Bekannte ...“ Sie dreht sich seitwärts, um nach den Papiertüchern zu greifen.
„Ja, ja. Bekannte sind mir auch die liebsten Gäste. Freunde kann man sich nämlich aussuchen, Familie nicht. Ich bin übrigens Margo, die Cousine des Bräutigams.“ Eine schmale Hand schnellt hervor. Der Daumen ist mit einem breiten, goldenen Ring bereift. Zögernd wendet sie sich zu der Fremden um. In ihren Händen knüllt die Serviette.
„Tja, also, ich heiße Semmel, Frieda Semmel.“
Die Andere drückt ihre Hand, das Papiertuch fällt zu Boden. Frieda bückt sich, um es aufzuheben.
„Mein Gott, was für ein Name! Wer hat Ihnen denn den gegeben?“
Frieda richtet sich auf, weiß nicht wohin mit dem Tuch, steckt es in die Jackentasche.
„Tja also, meine Mutter nehme ich an“, sagt sie knapp. Beleidigt ist sie nicht, nur irritiert. Schnell fragt sie:„Und Margo? Woher stammt der? Ist das eine Abkürzung?“
„Ach was“, die, die Margo heißt, winkt ab. „Das ist bloß ein blöder Spitzname. Eigentlich heiße ich Sabine Margolla, wie der Bräutigam. Also Margolla, nicht Uwe. Meine Freunde nennen mich so. Ich habe mich dran gewöhnt. Immerhin klingt es besser wie solche Verniedlichungen wie Biene und Sabbel, finde ich. Oder was meinen Sie?“
Margos grüne Augen blitzen vom einfallenden Licht. Ihr Schokoladenmund lächelt herausfordernd.
„Tja, also, ich weiß nicht ...“
Margos Schokoladenmund schmollt.
„Beginnen Sie eigentlich jeden Satz mit Tja, also ..?“
„ ... ich weiß gar nicht ...“ Das Tja, also kann sie sich gerade so verkneifen. Beginnt sie wirklich jeden Satz damit? Ist ihr noch gar nicht aufgefallen. Vielleicht sollte sie das mal beobachten, es wäre doch wirklich interessant, zu wissen, ob ...
„Sind Sie alleine auf der Party?“
„Ja.“ Frieda dreht sich wieder dem Spiegel zu und versucht, ihr Haar zu ordnen. Ohne Kamm wird das nichts.
Margo lässt nicht locker. „Sie sind nicht verheiratet?“
„Ich war es ...“
Ein knallendes Klatschen lässt sie zusammen zucken.
Margo schlägt die Handflächen aneinander und dreht sich lachend im Kreis. Der nachtblaue Chiffon knistert um ihre schlanken Knie.
„Schon wieder eine Verlassene! Davon scheint es hier nur so zu wimmeln. Ebend hatte ich ein Gespräch mit eine meiner Nichten. Stellen Sie sich nur vor, gerade mal zwei Monate war die Kleine verheiratet, dann hat sich ihr Angetrauter mit ihrer besten Freundin aus dem Staub gemacht. Ich bin auch nicht viel besser dran. Hier,“ sie streckt Frieda wieder ihre Hand entgegen, die, an deren Daumen der dicke Goldreif glänzt. „Ist der Ehering meines Gatten, meines Exgatten, wohl gemerkt.“ Margo winkt rasch ab. „Alles halb so schlimm, Männer sind nun mal so, sie haben einfach Schiss vor der Verantwortung! Am besten, man verlässt sich als Frau nur auf sich selbst.“
Plötzlich legt sie ihren Arm um Friedas Schulter. Frieda macht sich ganz steif. Diese fremde Intimität ist ihr unangenehm. Hilflos erstarrt sie in den Armen ihrer neuen Bekannten. Im Spiegel sieht sie Margos weiche Locken kastanienrot schimmern.
„War’s schlimm?“ fragt diese mit warmer Stimme.
Die Luft ist knapp in der Toilette. Der penetrante Geruch von Desinfektionsmittel und Haarspray erschwert das Atmen. Durch ein vergittertes Fenster knapp drei Meter über dem Fußboden fällt nur dämmeriges Licht. Kein Hauch weht zum geöffneten Flügel hinein.
Sie sieht gebannt auf Margos Spiegelbild.
„Ja, sehr ...“ hört sie sich sagen und weiß nicht: Was tut sie hier? Warum spricht sie mit dieser Frau? Sie kennt sie nicht, hat sie nie vorher gesehen – Margo, wer ist das überhaupt?
Trotzdem sagt sie: „Er ging nur mal eben Zigaretten holen ...“
„Pah!“ Margo ist entgeistert. Frieda fühlt es an der kraftvollen Umklammerung ihrer Schulter. „Was Besseres ist dem nicht eingefallen? Also wenn du mich fragst, sei froh, dass du ihn los bist. Wer so wenig Fantasie besitzt, der hat auch im Bett nicht viel drauf!“
„Nein, nein, er ...“
Margo schiebt Frieda mit beiden Händen von sich weg. Erzürnt zieht sie die Brauen hoch. Sie sind schlank und pechschwarz, gleichförmig gebogen wie Mondsicheln.
„Du willst ihn doch nicht etwa in Schutz nehmen, diesen Grobian? Bei so einer Luftnummer kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie du es jahrelang mit ihm aushalten konntest!“ Plötzlich fällt ihr ein: „Wie lange wart ihr denn verheiratet?“
Frieda windet sich. „Sieben Jahre, aber ...“
„Sieben Jahre“, kreischt Margo und wirft die Arme in die Luft. Endlich ist Frieda frei und sie nutzt die Gelegenheit, sich ein paar Schritte zu entfernen. Nur soweit, wie es die gedrängte Räumlichkeit zulässt. Einfach zu gehen, getraut sie sich nicht. Das wäre unhöflich, denkt sie.
„Das verflixte siebte Jahr! Ich sag’s ja, manche Männer nehmen alles wörtlich, nur nicht das, was der Pfarrer von ihnen verlangt, nämlich zu lieben und zu ehren, bis dass der Tod sie dahin scheiden lässt.“
Frieda wagt einen schwachen Einwurf: „Sagt man so was heute überhaupt noch?“
Ein Rumpeln und Poltern hinter der Klotür lässt die beiden zusammen fahren. Mit keuchendem Lachen stürzt eine blonde Walküre vom Flur herein. Ihr Haarknoten ist aufgelöst, feuchte Locken wirbeln sich in der Stirn. Der Blick ist wirr.
„Wo ist das Klo?“ fragt sie atemlos und verschwindet auf Margos Wink hin behände in die kleine Zelle.
Margo dreht sich zu Frieda um und hebt die Schultern. Das Eindringen der Fremden erhebt das bis dahin eher flüchtige Verhältnis der beiden Frauen schlagartig zu einer gewachsenen Beziehung. Vertraulich flüstert Margo: „Kennst du die?“
Frieda schüttelt den Kopf. Dann holt sie tief Luft und wirft einen letzten Blick in den Spiegel.
„Ich muss jetzt ...“
„Ausgerechnet jetzt?“ prustet Margo los. „Hättest du dir das nicht ein paar Minuten früher überlegen können.“ Dann fällt ihr ein, dass sie Frieda vielleicht davon abgehalten haben könnte, die Toilette zu benutzen. „Ach, was bin ich für ein Luder! Da stehe ich und rede und rede und du musst dringend pinkeln. Warum sagst du denn nichts? Was ist bloß los mit dir? Du scheinst mir so zerstreut.“
Frieda ist ganz durcheinander. Woher will Margo wissen, wann sie, Frieda, zerstreut ist und wann nicht? Außerdem war sie schon pinkeln. Und wer, zum Teufel, ist Margo??
„Nein, nein, ich meine ...“ sagt sie schwach, aber Margo ist schon wieder obenauf und lästert laut: „Hast du es schon mal auf dem Waschtisch getrieben? Ich wette, du hast es mit deinem Ex nie auf einem Waschtisch getan, stimmt’s?“
In der Klozelle wird gekichert.
Frieda sieht direkt in Margos blanke Augen. Deren hellgrüne Iris geht am äußeren Rand in ein tiefes Türkis über. Vielleicht ist es auch Blau, eisblau, so eisig und harsch wie das Meer im erwachenden Frühjahr, wenn die Frostschollen brechen und sich knirschend an den Pollern reiben. Margos Pupillen sind gefrorene schwarze Käfer, gefangen im Eismeer.
„Nein, wir haben es nie auf einem Waschtisch getan“, sagt Frieda leise und denkt plötzlich an das letzte Mal, als sie und Tim in geübter Umarmung einen letzten Liebesakt vollzogen. Ja, sie denkt wirklich vollzogen. In ihrem Geist formuliert sich die Frage: Wie war das gewesen, als wir unseren allerletzten Liebesakt vollzogen?
Margo erzählt derweil was von ihren Abenteuern. Wie sie auf einem Damenklo, gerade so wie dieses hier, auf einer Party ihrer Freundin muss es gewesen sein, die hatte sich so einen Saal gemietet, um ihren Dreißigsten zu feiern, also, wie sie da mit einem Albaner oder Nigerianer, egal, auf jeden Fall was fürchterlich Südländisches, na ja, wie sie da mit ihm so richtig zur Sache kam. Und wie sie gekommen war!
Margo schnalzt mit der Zunge und schweigt für einen Moment in wohliger Erinnerung.
In der Klokabine kichert es wiederholt. Dann geht die Klospülung.
Margo sagt: „Diese Typen haben es echt drauf. Da kannst du jeden deutschen Dödel in die Tonne stecken“, und schwärmt weiter von Josè und Eros und – wie hieß er noch mal – ach, ja: Camillo. „Stell dir vor: Camillo! In Spanien war’s, nein warte mal, ich glaube in Mexico. Ach, ist ja auch egal, jedenfalls war es höllisch heiß und ich dachte, mir platzt der Kopf vor Hitze. Und dann stellte ich mir vor, wie Camillo mitten im Gestrampel plötzlich aufschaut und die ganze gelbe Grütze aus meinen Augen quillt und er vor lauter Entsetzen einen Krampf kriegt und nicht mehr aus mir rauskommt. Und dann muss er laufen mit mir vorm Bauch, durch die ganze Stadt , um zur nächsten Ambulanz zu kommen. Und ich hänge an ihm dran und alles Gehirn und Blut und Schmiere klatscht ihm ins Gesicht, dass er aussieht, wie ein Indianer auf Kriegspfad. Da habe ich so lachen müssen, dass der arme Don Camillo vor lauter Hemmungen nicht mehr konnte.“ Bei Don Camillo fällt es ihr ein: „In Spanien war’s, jetzt weiß ich es wieder.“
Frieda hört gar nicht hin. Sie denkt an Tim und an die letzte Nacht. Sie sieht die blonde Walküre nicht, die einen lüsternen Blick auf Margo wirft, bevor sie zur Tür hinaus rauscht.
„Mein Gott, Leute gibt’s!“ sagt Margo kopfschüttelnd und kramt in ihrer Handtasche herum.
Frieda schaut in den Spiegel. Ihre braunen Augen kleben wie Knöpfe in ihrem Gesicht. Den feinen Kranz kurzer Wimpern hat sie kräftig mit Mascara getuscht. Mit Lidschatten ist sie sparsamer. Wo sollte sie den auch großartig verteilen? Ihre Schlupflider würden jeden Aufwand zunichte machen. Sie rümpft die Nase, deren Spitze immer noch rot glänzt - aller Puder ist längst verflogen – presst die Lippen zu einem schmalen Strich. Eingehend betrachtet sie die winzigen Härchen, die rechts und links über den Mundwinkeln sprießen. Sie denkt an Tim, sieht, wie er sich im schummrigen Licht der Nachttischlampe zu ihr hinunter beugt, hört, wie er in ihr Ohr flüstert: „Na, Robby, schon die Flossen geputzt?“, vielleicht, weil ihn ihre Gesichtshaare an einen Robbenbart erinnern oder ihr glatter Körper im Dämmerlicht silbrig schimmert. „Lass uns durch die Betten toben!“
Sie lächelt matt, wünscht sich an seine vertraute Brust.
Margo reißt sie aus ihrer Betäubung.
„Habt ihr Kinder?“
Die Antwort kommt rasch: „Wir wollten keine.“ Frieda streicht sich über das Haar. Eine Locke kringelt widerspenstig hinter dem Ohr hervor, sie lässt sich nicht bändigen. Mit der Zungenspitze benetzt Frieda ihre Fingerspitzen, reibt sie aneinander, als würde sie Geld zählen. Sie blickt in den Spiegel, spürt, dass Margo auf eine Erklärung wartet, aber sie schweigt, ordnet ihr Haar. Warum sollte sie Margo davon erzählen, von den endlosen Diskussionen, die sie und Tim zu diesem Thema geführt hatten, all die Ja und Nein und Mal sehen und vielleicht und später.
Später! Wann später?
Margo lässt mit einem Seufzer ihr Feuerzeug aufschnappen und zündet sich eine Zigarette an. „Weißt du“, sagt sie, nachdem sie den ersten Lungenzug getan hat, „ist wahrscheinlich auch besser so. Die Kinder leiden immer am meisten darunter.“ Weiße Rauchfetzen begleiten ihre Worte.
Frieda zieht sich mit den Fingern die Augenbrauen nach.
„Mag schon sein“, sagt sie und denkt: „Und was ist mit mir? ICH leide auch. ICH! ICH!“ Dann stützt sie sich mit beiden Armen auf die Waschkonsole und lässt den Kopf sinken. Die Erinnerungen sind frisch.
Margo knufft ihr betulich in die Seite. „Kopf hoch, Mädchen. Männer sind Schweine!“
Frieda kichert hysterisch: „Er wollte nur Zigaretten holen...“ Sie lacht auf, und es klingt wie das heisere Meckern einer Ziege. Sie dreht sich um und sieht in Margos Augen, deren blaues Grün sie anzieht, wie die unergründliche Tiefe eines Waldsees.
„Ja, er wollte nur Zigaretten holen und kam nicht wieder -“
„Weil ihn nämlich ein gottverdammter Bus einfach unter seiner Hinterachse zerquetschte“, brüllt Frieda gegen Margos mitfühlenden Blick an und lacht wieder ihr wahnsinniges Ziegenlachen. „Und er hatte nicht einmal eine letzte Zigarette geraucht ...“
 

lara_star

Mitglied
Hallo Katrin,

ich hab schon ein paar andere Geschichten von Dir gelesen und so wollt ich auch mal was dazu sagen, nachem sie mir alle sehr gut gefallen.
Du schreibst mit sehr viel Liebe für die kleinen Details, die die Situationen so lebendig machen.
Was mir an dieser Geschichte so gefiel war vor allem der Schluß, eine überaschende Wendung, der diese super distanzlose Person, wäre die Geschichte weitergegangen, sicher zum Schweigen gebracht hätte. ;-)
Ich hoffe noch viel von Dir zu lesen.

Lieben Gruß,
Lara
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
auch

mir gefällt die geschichte gut, wenn ich auch bei zwei details ziemlich verständnislos dreinblickte. den schluß ahnte ich schon, aber das macht nichts. lg
 



 
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