Kurzprosa

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Mondviole

Mitglied
Nachgedacht

Ich stehe am Fenster und denke nach – über Geld. Es ist Thema einer Gesprächsrunde, zu der ich eingeladen bin, ich muss also. Was bedeutet mir Geld? Der Spruch meines Vaters fällt mir ein: Lieber reich und gesund als arm und krank. Oder noch ein paar Redewendungen: Geld ist nicht alles, doch ohne Geld ist alles nichts. Und außerdem kann man Geld nicht essen. Solche Sprüche sind für Menschen mit chronischem Geldmangel keine Hilfe. Und die Reichen dieser Welt? Wie viel Geld braucht ein Mensch? Wie viel ich und wofür? Ich grüble und starre aus dem Fenster.
In diesem Moment kommt ein Vogel geflogen und lässt sich wenige Meter von meinem Fensterplatz entfernt auf einem der dünnen Äste des Jasminstrauches nieder. Ich rühre mich nicht. Er ist zu schön, wie er da auf dem Ast sitzt und sich sein Gefieder richtet. Leuchtend rot die Federn am Bauch, der Rücken in elegantem Grau und die Flügel schwarz und weiß. Auf dem Kopf trägt er eine schwarze Federkappe unter der ein kurzer, kräftiger Schnabel sitzt. Er bleibt nie lange hier. Nur schnell ein paar Körner aus dem Vogelhaus gepickt, ein paar Mal im Strauch auf und ab gehüpft und schon ist er weg. Heute sitzt er ungewöhnlich still und ich kann ihn in Ruhe ansehen, den Gimpel, meinen Lieblingsvogel. Doch eigentlich sollte ich über Geld nachdenken und – dann spiele ich ein Spiel mit ihm, gut, dass er es nie verstehen wird.
Was ist es mir Wert, diesen schönen Vogel zu sehen und würde ich für Geld darauf verzichten – ihn verkaufen und nie wiedersehen? Ich beginne:

Einhundert Euro – ohne nach zu denken, nein.
Eintausend Euro - kurze Denkpause, nein.

Der Gimpel wendet seinen Kopf in meine Richtung und sein roter Bauch leuchtet zwischen den ersten zarten grünen Spitzen des Jasminstrauches. Er dreht den Kopf von links nach rechts und streckt kurz sein Bein aus. Ahnt er, dass ich gerade ein böses Spiel mit ihm spiele?

Zehntausend Euro – das ist sehr viel Geld. Ein Gimpel! Ich habe doch noch die Meisen, Grünfinken und Spatzen. Brauche ich zehntausend Euro? Ganz dringend? Ich könnte Kinder und Enkel unterstützen, eine neue Dusche vielleicht oder eine kleine Reise zu zweit, Schuhe... Zwei Wimpernschläge und ich habe das Geld ausgegeben.
Der Rotbauchvogel wippt heute außergewöhnlich lange auf seinem dünnen Zweig. Kann er mich durch die Fensterscheibe sehen? Ich atme tief durch und entscheide schnell - für ihn und möchte nicht mehr weiterspielen, doch ich kneife nicht:

Einhunderttausend Euro – Ich mache eine hastige Bewegung und mein Gimpel fliegt weg. Nur ein Spiel, wäre es Wirklichkeit käme mein Gimpel jetzt nie mehr wieder. Ich habe den Rest des Tages sehr schlechte Laune und die Dollarzeichen in meinen Augen erlöschen nur langsam.

Am nächsten Tag ist es vorbei. Mein Gimpel hüpft im Strauch und er hat sogar sein Weibchen mitgebracht. Ich stehe wieder am Fenster und alles ist gut.
Und das „Was wäre wenn“ im Kopf? Es schläft!
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Hallo Mondviole, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Franka

Redakteur in diesem Forum
 



 
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