Kutte und der kleine Feigling

Morgens ging er brav zur Arbeit, nicht aus Passion, eher aus Gewohnheit. Manchmal aber vielleicht doch ein wenig lieber als sonst, da es viele nicht mehr taten.
Er stromerte gerne kurvige Wege lang, aber eigentlich hatte es sich nur so ergeben, dass er den Schlenker durch den Humboldthain, einen Park, mitten im Herzen seiner Stadt, nahm.
Wenn Kutte an seiner Bank vorbeikam und er kam vorbei, sah er immer, wie sein Baum leicht die Krone neigte und mit den Blättern raschelte, so, als ob er flüchtig aus der Ferne ein Hallo herüberriefe. Doch Kutte musste sich mächtig sputen. Raus aus dem Park und die Straße gewechselt, denn Fünf vor, stand bei Wolle, einem Kiosk, schon sein kleiner Feigling parat. Ohne groß Worte zu verlieren steckte er ihn weg und ging forsch weiter. Die Schicht wartete nicht.
Zum 2. Frühstück nahm Kutte den kleinen Feigling aus der Arbeitstasche, stellte ihn auf den Tisch. Er war nicht nur sein persönlicher Muntermacher, sondern in gewisser Weise auch seine Betschwester, Leidensgenosse, Müllabladeplatz und sein Guru. Wenn man so will, sein Alter Ego oder auch einfach nur sein schlechteres Über-Ich. Manchmal hatten sie auch Streit, besonders wenn es um schwierige Dinge ging, die nicht konkret, sondern sowohl so, als auch so gesehen werden konnten. Da gab es schon mal Stunk und bestimmte Worte waren schnell gesagt.
Wenn Kutte einen richtigen Brass auf seinen Duzfreund hatte, brauchte er ihn nur einen kleinen Feigling nennen und die Stimmung war auf Null. Da verstand er keinen Spaß, obwohl er sonst sehr ausgelassen sein konnte. Das wäre so, als wenn man einen weißen Schimmel sattelte. So was machte man in ihren Kreisen einfach nicht.
Kutte konnte sich keine Sentimentalitäten mehr leisten, packte resolut zu, stürzte den Inhalt des Flachmannes, den kleinen Feigling, in einem Zug runter, zog sich die BZ näher ran und überflog die reißerischen Schlagzeilen.
Einige Tage danach brach die Sonne in den schönsten Farben das Licht und Wärme brachte seinen Kreislauf ordentlich auf Touren. Doch auf dem Nachhauseweg durch den Humboldthain fühlte sich Kutte irgendwie schlapp und daneben. Er musste sich sofort setzen, und da kam ihm seine Bank gerade recht. Er schmiss seine Tasche achtlos ins Gras und fläzte sich hin und streckte alle Viere weit von sich.
Seit acht Jahren kam er hier vorbei und noch nie hatte er auf dieser Bank gesessen. Sein Körper tastete die Holzlatten ab. Die ganze Schwere seines Lebens brachte sie zum knarren. Kutte spürte wie sein Herz in rhythmisch-pulsierenden Stößen pumpte.
Sein Blick wurde klarer, die Pupillen weiteten sich. Kutte schmiegte sich eng an die Rückenlehne und wagte einen Rundblick. Dann sah er seinen Baum mit der dichten, mächtigen, symmetrischen Krone.
Wie von einem Magneten gezogen, stand er auf, schlug das Gebüsch auseinander und ging mit federnden Schritten, durch das schon feuchte Gras, auf dieses Stück gewaltige Natur zu.
Als er langsam näher kam sah er, dass es nicht ein, sondern vier Bäume waren, die so geschickt gepflanzt waren, dass sie eine gleichmäßige und harmonische Krone bildeten. Kutte trat andachtsvoll unter die vier im Quadrat arrangierten Stämme und richtete seinen Blick nach oben ins Firmament.
Durch das buschige, dunkelgrüne Blätterwerk konnte er das tanzende Blau nur als funkelnde Fata Morgana eines Bildes deuten, dass den Vergleich mit den opulenten Fresken eines Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle nicht zu scheuen brauchte.
 



 
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