Lähmende Schnelligkeit

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katia

Mitglied
Ich sitze im Auto. Hier an der Kreuzung ist enormer Verkehr, weil alle an diesem Samstagnachtmittag noch schnell die letzten Einkäufe für das Wochenende erledigen wollen. Doch diese Hektik prallt an mir ab. Meine Einkaufstüten stehen in meiner Küche und die Recherchefahrt, von der ich gerade komme, war erfolgreich. Einerseits bin ich froh, ausreichende Antworten aus meinem Interviewpartner heraus gelockt zu haben, anderseits habe ich gute Stimmungsbilder einfangen können. Es ist alles im grünen Bereich, außer mein Magen. Mein Kollege und ich fahren jetzt nur noch schnell zur Sparkasse, um unser Essen bezahlen zu können, das wir uns danach genehmigen werden. Dann werfe ich mich daheim vor den Computer, schreibe den Artikel, sende ihn der Redaktion und lege mich anschließend ins Bett. Ich bin zwar fast auskuriert von der schweren Erkältung, die mir seit einer Woche in den Gliedern sitzt, aber das ständige Naseschnauben macht mich fast wahnsinnig.
Schon wieder greife ich zum Taschentuch und schnäuze mit Inbrunst meinen Frust hinein.
Die Ampel wechselt von gelb auf grün und ich fahre an. Achtlos werfe ich das Schnupftuch irgendwo hinter mich in den Innenraum meines Autos und da sehe ich ihn neben mir auf der Strasse. Er ist ein dunkler Typ, die Sorte, auf die ich besonders stehe. Er wirkt sehr gepflegt und ist groß. Gerne hätte ich ihn wenigstens ganz kurz von hinten gesehen, einfach so aus niederen voyeuristischen Gründen. Selbstbewusst steuert er direkt auf mich zu. Ich spüre ein Augenpaar, das mich wie gebannt anstarrt. Ich kann einfach nicht glauben, was mir hier widerfährt und mit einem Mal wächst in mir eine lähmende Unsicherheit. Wie schon oft in der Vergangenheit frage ich mich auch in diesem Moment ungläubig zweifelnd: „Warum ausgerechnet ich?“
Ein wenig unangenehm ist schon, dass mein Kollege neben mir im Auto sitzt, obwohl ich mich mit ihm sehr gut verstehe. In diesem Augenblick wäre ich lieber allein, um ihn nicht zu verletzen. Doch ich bin hilflos ausgeliefert. Mein gesamtes Umfeld gerinnt schlagartig zur Nebensächlichkeit und verschwindet schließlich vollends aus meinem Bewusstsein. Jede Sekunde dehnt sich zu einer schier endlosen Stunde - aus dem einzig wahrscheinlichen Grund, damit wir uns später an all die kleinen, vermeintlich unwichtigen Details erinnern können. Ich höre und sehe nur noch ihn. Wie in Zeitlupe bewegt er sich auf mich zu, während ich mich verrate, indem ich ihm in stoischer Ruhe und erwartungsvoll entgegen schaue.
Ein lauter Krach zerreißt die Stille dieses bedeutungsschweren Augenblicks. Um mich herum tobt schlagartig wieder das laute Leben.
Vom Beifahrersitz ertönt die Stimme meines Kollegen: „Ich fasse es nicht! Der Idiot ist bei rot über die Ampel und voll in uns rein gefahren.“
Und ich höre mich sagen: „Ich konnte nichts machen. Es ging alles so schnell.“
 

knychen

Mitglied
wollte der erste sein

was mir ja auch gelungen ist.
OK, die story kannte ich ja leider schon vom telefon und so hat mich die herausgezögerte wendung nicht allzusehr überrascht. die idee, den unfall in eine liebe-auf-den-ersten-blick-geschichte zu verpacken, find ich klasse. der anfang vielleicht eine spur zu lang, aber noch nicht so, daß es störend wirkt. es geht mir auch meist so, daß ich sage: stop, hier muß ich noch ein wenig weiter ausholen. und dann sage ich das noch mal, und noch mal...
eine frage noch: war der wunsch, IHN von hinten zu sehen, auf den fahrer (ich geh einfach mal davon aus, daß er männlich war) oder den wagen gemünzt.
ebenfalls verschnupfte grüße aus berlin. knychen
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
nun,

es hat ne weile gedauert, um die geschichte zu verdauen. gewöhnlich endet ein derartiger unfall mit totalschaden an material und leben. ich bin froh, dass nichts weiter passiert zu sein scheint. alle personen sind noch reaktionsfähig.
da könnte es ja interessieren, ob sie "ihn" irgendwann wieder gesehen hat.
lg
 



 
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