Ländliche Idylle

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monkey

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Die triste Landstraße auf der Karl sich befand machte die Langeweile fast greifbar. Links und rechts sausten Bäume und Sträucher vorbei und teilten das Rauschen des zurückgeworfenen Schalls in monotone Takte. Fscht, fscht, fscht, fscht. Es war zwar ein warmer sonniger Tag, und die sprießende Natur am Straßenrand schön anzusehen, leider aber immer der gleiche grüne Film im Augenwinkel, wenn man sich auf die Straße konzentrieren musste. Zudem hatte er seit einer Stunde höchstens drei bis vier andere Wagen gesehen, und die fuhren auch noch alle in die Gegenrichtung. Karl konnte sich fast einbilden ganz allein auf der Welt zu sein.
Sein Körper sehnte sich schon eine Weile nach mehr Bewegung, als nur den Schalthebel und das Lenkrad zu bedienen, und er rutschte unruhig auf dem ledernen Sitz herum, begleitet von einem leise knirschenden Geräusch. Die Autofahrt, zu der er heute Mittag gutgelaunt aufgebrochen war entwickelte sich zum quälenden Ärgernis.
Aber so war es jedes Mal, wenn er seine Tante besuchen fuhr. Fünf Stunden fahrt am Stück waren schon die Grenze des Erträglichen, wenn man zuhause meistens mit dem Rad unterwegs war. Außerdem hielt er sich zwar für einen naturliebenden Menschen, wenn er aber hier raus kam wirkte die ländliche Idylle auf ihn eher desorientierend. Vielleicht dramatisierte er es, aber ihm als Großstadtbewohner tat sich eine andere Welt auf, abseits von lärmendem Verkehr und raunenden Menschenmassen, stets umschlossen von tausenden Tonnen Beton, Glas und Metall. Er gestand es sich nicht ganz ein, aber ihm gefiel es so. Es war zwar lächerlich, aber die Großstadt behütete ihn, beschützte ihn, hier draußen fühlte er sich unsicher, er fühlte sich verwundbar. Er schüttelte den Gedanken ab. Er wusste, dass würde sich schon bald legen. So war es auch jedes Mal.
Karl nahm den Blick von der Straße und schaltete das Radio wieder ein, dass er zuvor des Gedudels wegen, das die ansässigen Radiosender spielten, entnervt ausgeschaltet hatte. Jetzt war es ihm lieber, als gar keine Ablenkung. Die grün schimmernde Digital-Uhr etwas unterhalb zeigte 16.12 Uhr. Eine dreiviertelstunde Fahrt müsste ihm noch bevorstehen, nach über vier Stunden Fahrt würde er das auch noch schaffen. Er versuchte sich zu entspannen

Der Passat rollte die verschmutzte Straße an dem ausgebleichten Ortsschild vorbei, das nüchtern den Namen des kleinen Dorfes "Das Alt" verkündete, während gleich dahinter ein ungleich größeres "Herzlich Willkommen" wünschte. Karl wusste, was ihn erwartete, bekam aber dennoch eine Gänsehaut, als ihn die Leute am Straßenrand, wo in dem Dorf wohl jeder jeden kannte, misstrauisch beäugten, als gelte letzterer Wunsch nur, wenn man gleich zur nächsten Stadt durchfuhr. Er versuchte das zu ignorieren.
Wenig später fuhr er schon die gepflasterte Auffahrt des kleinen Hauses rauf, in dem seine Tante lebte, und parkte hinter ihrem Mercedes Kombi, der nun schon gut 20 Jahre alt war. Und das war ihm auch anzusehen.
Seine Tante musste hinter der Seitentür, die auf die Einfahrt führte, auf der Lauer gelegen haben, denn kaum hatte er den Motor abgestellt, stürmte sie schon heraus und fiel ihm um den Hals ehe er ganz das Auto verlassen hatte. "Tante Greta", bekam er noch raus, bevor ihm die Luft für mehr fehlte. Einen Moment hing sie so an seinem Hals, dann löste sie ihre Umklammerung und hielt ihren Neffen kritisch auf Distanz. "Lass dich anschauen, Junge", sagte sie. Das typische großmütterliche, in diesem Fall natürlich: tantliche, Verhalten, erkannte er erheitert. Doch seine Miene verfinsterte sich, als ihm auffiel, wie alt seine Tante doch aussah. Tiefliegende Augen, eingefallene Wangen, fahle faltige Haut. Seit seinem letzten Besuch musste sie um mehr als zehn Jahre gealtert sein. "Du siehst gut aus", setzte sie an. "Wie geht es dir?" "Ganz gut", erwiderte er lapidar. Er überlegte, ob sie vielleicht krank war. "Der Job ist zur Zeit ein bisschen stressig, aber ansonsten..." brach er ab und meinte damit: langweilig und unbefriedigend, was er aber nie ausgesprochen hätte. Sie strahlte, und damit verschwanden die zehn Jahre aus ihrem Gesicht, als wären sie nie da gewesen und damit auch der Druck von seiner Brust. "Da bist du hier genau richtig. Die Abwechslung wird dir gut tun" Er glaubte ihr.

Nachdem er seine Koffer aufs Zimmer gebracht hatte, und seiner Tante erst einmal eine Zusammenfassung des gesamten letzten Jahres zuhause geliefert hatte (er konnte sich nicht erinnern je mit ihr telefoniert zu haben), verstaute er die Klamotten in Kommode und Schrank, und allerlei Utensilien im eigenen Bad. Dann zog er die Schuhe aus und legte sich aufs Bett, die Arme verschränkt unter dem Kopf Die Nachmittagssonne schien durch das Fenster herein wärmend auf seine Füße und er konnte spüren, wie sein Körper sich entspannte. Sein Blick durchstreifte das karg eingerichtete Gästezimmer. Da war das Bett auf dem er lag, daneben ein kleines Nachtschränkchen inklusive Lampe, auf dem ein Roman lag, den er zur Zeit las. Ein großer Wandschrank stand gegenüber dem Bett neben der Tür zum Bad, und sein winziges Aufgebot an Kleidung wirkte ganz Fehl am Platz darin. Schließlich gab es noch eine Kommode, gleich neben der Flurtür, auf dem zwei gerahmte Fotos auf einem niedlichen Deckchen standen. Eins zeigte ihn selbst im Alter von fünf Jahren, das andere Greta, und war erst vor einigen Jahren, auf der Hochzeit eines entfernten Cousins entstanden. Einziges anderes Dekorobjekt war ein Bild, dass neben dem Fenster hing und ein Mädchen mit Sommerhut und Schirm auf einem begrünten Hügel im Frühling zeigte, und im impressionistischen Stil gehalten war. Ein Bild das ihm sehr gefiel.
Karl streckte sich. Er genoss die vertraute Fremde, die ihm das Zimmer vermittelte und gähnte müde. Die Augen wollten ihm schon zufallen. Bevor er schließlich einnickte fiel ihm dann doch noch auf, was ihn die ganze Zeit schon gestört hatte; die ehemals weiße Decke des Zimmers war braun gestrichen.

"... du wach?" Er blinzelte orientierungslos. Wo war er? Schnell kehrte die Erinnerung zurück. Er war bei seiner Tante zu Besuch, und diese hatte eben nach ihm gerufen. "Was?" rief er mit tauber Zunge. Er fühlte sich unglaublich gerädert. Der Mittagsschlaf war auf jeden Fall ein Knieschuss, und hatte mehr geschadet als genutzt. "Bist du wach?", tönte es von unten. Na toll. "Ja. Jetzt schon... Was gibt´s?" "Könntest du für mich ein paar Dinge besorgen?" Karl gähnte gedehnt, sein Kopf klarte aber schon etwas auf. "Mach ich", rief er. "Ich komm runter." Aber zuerst musste er das verendete Tier von seiner Zunge bürsten, wenn er sich nicht übergeben wollte, und marschierte ins Bad.

Greta lächelte ihn an vom Herd aus an, als er in die Küche kam. "Danke, dass du für mich fährst." "Machst du Witze?", erwiderte er. "Das ist ja wohl kein Thema." Sie wischte sich die Hände an dem Geschirrtuch neben der Spüle ab, und kramte dann rasselnd in einer Schublade herum, bis sie ihr Portemonnaie gefunden hatte. Karl war das irgendwie unangenehm. Immerhin wohnte er hier, aß und trank, und das alles kostenlos. "Nein, Greta, das geht auf meine Kappe", sagte er. Sie durchsuchte kurz weiter ihre Geldbörse und schaute ihn dann an. "Das trifft sich gut", erwiderte sie fröhlich. "Ich hab nämlich gar kein Geld hier."

Auf dem Weg nach draußen fiel Karl im Flur zur Hintertür auf, dass eines der zahlreichen Familienbilder, die hier an der Wand befestigt waren, schief hing. Er blieb stehen. Es zeigte seinen schon vor... wie lange war das her?... drei Jahren an Lungenkrebs verstorbenen Onkel. Der Kerl hat zuviel geraucht, dachte Karl beiläufig, und rückte das Bild in die richtige Position. Er nickte zufrieden, dann war er schon zur Tür raus.
Die Sonne stand tief, in dunklem Orange, über dem Horizont, und schien ihm zwischen den Häusern gegenüber hindurch ins Gesicht, blendete aber nicht. Es war noch angenehm warm draußen, so dass Karl in seinem leichten Sweatshirt nicht fror; der Sommer war definitiv angebrochen, und die Vögel in der Umgebung verkündeten dies mit vergnüglichem Zwitschern. Er hielt mitten auf der Einfahrt inne und spürte kurz der sommerlichen Atmosphäre nach. Eine Woche hier zu sein war eigentlich zu kurz, überlegte er. Achselzuckend beugte er sich aber den Vorgaben seines unverlängerbaren Urlaubs, für den er auf der Arbeit schon fast hatte kämpfen müssen, um ihn zu bekommen, und setzte sich wieder in Bewegung.
Als er versuchte den Schlüssel im Türschloss des Passats zu drehen tat sich nichts. Er löste den Druck und versuchte es erneut, löste , drehte, löste, drehte. Vergeblich. Er zog ihn heraus und steckte den Schlüssel wieder rein, vermied dabei sorgfältig den Lack zu zerkratzen, und es tat sich immer noch nichts. Wunderbar, dachte er missmutig.
Nachdem er dann auf der Beifahrerseite aufgeschlossen hatte, und den Knopf Schließmechanismus der Fahrertür, der sich offenbar der Zentralverriegelung widersetzte, manuell betätigte, konnte er schließlich doch noch einsteigen. Er hoffte, dass sich das Problem von alleine wieder legen würde, und verdrängte erst einmal den unangenehmen Gedanken an einen Werkstattbesuch.
Rückwärts setzte er die Einfahrt hinunter und folgte den schwachen Lichtkegeln seiner Scheinwerfer durch das Zwielicht des hereinbrechenden Abends.

Er fand den Laden, der eher ein größerer Kiosk war, wie er einmal in Gegenwart seiner Tante bemerkte, und dafür einen bösen Blick geerntet hatte, problemlos und parkte auf dem kleinen verlassenen Parkplatz davor. Die drei Halbstarken vor dem Eingang bemerkte er schon bevor er ausstieg. Es war ihm nicht ganz wohl dabei an ihnen vorbei zu müssen. Einen dummen Spruch würde er wohl kassieren, vermutete er, als er den Wagen abschloss und bemerkte dabei gar nicht, dass das Türschloss wieder funktionierte. Ein wunderschönes Mädchen erregte seine Aufmerksamkeit. Sie kam den Bürgersteig entlang und mochte vielleicht 20 Jahre alt sein. Sie hatte brünettes, schulterlanges Haar, eine fantastische Figur, an den sich ein kurzgeschnittenes blaues Kleid schmiegte und ein hübsches Gesicht, das er glatt ins schwärmen geraten konnte. Nun wartete er darauf, dass die Kerle sie mit anzüglichen Bemerkungen belästigten, und war überrascht, als sie zielstrebig auf einen von ihnen zusteuerte und ihn dann leidenschaftlich küsste. Erst jetzt bemerkte Karl, das entstellte Äußere des Jungen. Verwachsene Narben, wie eine verheilte Verbrennung, wucherten über sein Gesicht, und Karl bemerkte zu spät, dass er ihn anstarrte, als der Junge ihn herausfordernd ansah. "Was gibt´s zu glotzen?", zischte er. Karl erwiderte nichts, sondern trat gesenkten Blickes in das künstlich beleuchtete Innere des Ladens. Er konnte die Blicke der grinsenden Jugendlichen in seinem Nacken spüren und zog den Kopf ein.
Als er später wieder herauskam, war die Gruppe weg.

Während Karl unterwegs war ging Greta, wie jeden Abend wenn es dunkel wurde, zur Hintertür und schloss sie ab. Als sie sich gerade anschickte zurück in die Küche zu gehen bemerkte sie das zurechtgerückte Bild ihres verstorbenen Ehemannes. Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte es ausdruckslos an. Eine Weile verblieb sie so, dann zuckte sie zusammen, als wäre neben ihrem Ohr eine Pistole abgefeuert worden. Sie hängte das Bild wieder schief, und ging zurück in die Küche, das Abendessen fertig kochen.

Selbiges duftete herrlich, und bestand zum Teil aus Zutaten, die Karl zuvor eingekauft hatte. Leckere Rinderrouladen mit Kartoffeln und Gemüse; für Karl´s verkümmerte, Mikrowellen, Fastfood und erbärmlich Selbstgekochtes, gewohnten Geschmacksnerven ein wahrer Hochgenuss. Was er unter amüsierten Blicken Greta´s damit honorierte, dass er es hungrig in sich hinein schaufelte. Als er alles restlos aufgegessen hatte fragte sie grinsend ob es geschmeckt hätte, und Grinsen seinerseits war wohl Antwort genug.
Sie deckten den Tisch ab und packten Töpfe, Geschirr und Besteck in die Spülmaschine.
Eher weil die dabei anhaltende Stille begann unangenehm zu werden, als aus Neugierde fragte Karl nach der braunen Zimmerdecke im Gästezimmer. "Nein, die war immer schon braun gestrichen", antwortete Greta. Er wischte mit einem nassen Lappen über den Küchentisch. "Bist du sicher? Ich dachte die wäre immer weiß gewesen..." Sie brauchte nicht einmal nachzudenken und schüttelte den Kopf. "Nene, ich weiß noch genau, wie dein Onkel damals die Decke gestrichen hat... und sich den Fuß brach, als er von der Leiter fiel." Sie lachte. Karl war erstaunt. "Hm? Daran kann ich mich gar nicht erinnern." "Eigentlich sollte ich ja vor dir senil werden", scherzte sie. Er legte ein freundlich abschätzendes Gesicht auf, und beließ es dabei. "Na, egal." Er platzierte die Tischdecke zurück auf dem Tisch, fertig. "Auf jeden Fall geh ich jetzt ins Bett. Ich bin hundemüde." Und das stimmte, der unterbrochene Nachmittagsschlaf hatte Spuren hinterlassen. Er sehnte sich nach dem Bett, auch wenn es ungewohnt war auf einem anderen als seinem eigenen zu schlafen. "Schlaf dich aus", sagte Greta. "Werd ich. Gute Nacht.".

Er schaute auf die Uhr, es war erst kurz nach neun, aber er fühlte sich, als hätte er Tage nicht geschlafen. Als er so unter der warmen Bettdecke lag fühlte er sich grenzenlos entspannt; satt und zufrieden. Es war, als würde aller Stress der noch in seinem Körper war zusammen mit seiner gesamten Kraft aus ihm heraus strömen und eine Ausgeglichenheit darunter freilegen von der er gar nicht gewusst hatte, dass es sie gab.
Mit einem Stich in seiner Brust erwachte dann aber erneut die Sorge um seine Tante, als die dunkle Zimmerdecke die Erinnerung an das Gespräch mit seiner Tante vor 20 Minuten weckte, und darüber die Brücke zu seiner Ankunft heute Mittag schlug. Ob sie wirklich krank war? Bei seiner Ankunft hatte sie zuerst schrecklich ausgesehen, aber im Laufe des Tages war davon nichts mehr zu sehen gewesen. Vielleicht wurde sie einfach nur alt, und doch vor ihm senil, dachte er schmunzelnd, denn die Decke war definitiv mal weiß gewesen, dessen war er sich sicher.
Er legte sich auf die Seite, betrachtete die dunkelblaue Finsternis außerhalb des Fensters und schlief kurz darauf ein.

Aus einem verwirrenden Traum, den er schon vergessen hatte, ehe er die Augen aufschlug, wachte er auf. Gequält bettelte sein Körper nach mehr Schlaf, trieb aber rasch und unaufhaltsam weiter auf die Wirklichkeit, und damit auf stechende Schmerzen in seinen Schläfen zu. Was hatte ihn denn jetzt geweckt? Er beleuchtete seine digitale Armbanduhr. 3.43 Uhr. Mitten in der Nacht.
Ein lauter Knall schall auf dem Flur, gefolgt von einem langgezogenen Stöhnen. Sein Herz tat einen Sprung, und sprintete los. Die Unwirklichkeit des vergangenen Traums zerrte noch an seinem Verstand und ein albtraumhaftes Gefühl stellte sich bei ihm ein. Hastig schaltete er die Nachttischlampe ein, und vertrieb damit den größten Teil gleich wieder. Er starrte auf sein Buch auf dem Schränkchen und ordnete seine Gedanken.
Seine Tante. Sofort war er aus dem Bett, und er rechnete nur noch halbherzig mit einem geifernden Dämon als er die Tür zum düsteren Flur aufriss und den Lichtschalter betätigte. Niemand war zu sehen, kein Laut zu vernehmen. Aber das Poltern war von der Treppe gekommen, wenn er sich nicht irrte. Und tatsächlich, dort saß seine Tante zusammengekauert am Kopf der Treppe und klammerte sich mit einer Hand an das Geländer. "Scheiße", zischte Karl durch die zusammengebissenen Zähne. Er berührte sie zaghaft und flüsterte fast ihren Namen. Danach versuchte er es etwas entschlossener, aber sie rührte sich nicht. Er wollte sie nicht unnötig bewegen, ob aus Angst davor, sie damit vielleicht, aufgrund von Brüchen, Schock, was auch immer, zu verletzen oder gar zu töten, oder davor, dass sie vielleicht schon tot war; er hätte es nicht sagen können, aber er nahm seinen ganzen Mut zusammen um ihre Hand vom Geländer zu lösen, und seine Tante auf den mit Teppich überzogenen Boden zu legen. Er konnte jetzt erst ihr Gesicht sehen, und sein rasendes Herz blieb kurz stehen, um gleich darauf platzen zu wollen. Ihre Augen hatte sie weit aufgerissen, und starrte geistesabwesend in die Leere, das wirklich erschreckende war aber, dass sie nicht um zehn, sondern um 50 Jahre gealtert schien. Sie sah aus, wie eine von Krebs aufgezehrte 90 Jährige. "Scheiße, scheiße", jammerte Karl. Er redete auf sie ein, doch sie reagierte nicht, starrte einfach weiter in die Luft. Sie blinzelte nicht einmal. Er fühlte ihren Puls am Handgelenk, war aber nicht sonderlich überrascht, als er nichts spürte, das hatte bei ihm noch nie funktioniert, aber wenn er es jetzt noch nicht war, so geriet er allmählich in Panik. Er hielt ihr eine Hand vor den leicht geöffneten Mund um ihren Atem zu spüren, und ließ sie erfolglos wieder sinken. Plötzlich hellte sich sein Blick auf. Er sprang auf und jagte in sein Zimmer. Kurze Zeit später kehrte er mit einem kleinen Spiegel aus dem Bad zurück, und hielt diesen schließlich vor ihren Mund. Er beschlug leicht. Ein gedehnter Seufzer entrang sich seiner Kehle. Gott sei Dank. Als wäre Greta daran erinnert worden, dass sie noch lebte wehrte sie sich plötzlich und murmelte stöhnend Irgendetwas, das Karl nicht verstand, dann erschlaffte sie wieder. Karl schrie auf und fiel fast die Treppe hinunter. Er sollte besser keine Zeit verlieren. Er überlegte kurz, ob er sie allein hier oben liegen lassen konnte. Aber was blieb ihm schon anderes übrig? Hastig lief er stolpernd die Treppe hinunter. Die Treppenstufen schienen kleiner zu sein als gestern Abend, bemerkte er, jedoch nicht sonderlich interessiert.
Im Erdgeschoss versagten alle Lampen die er betätigte den Dienst, und so kämpfte er sich nahezu blind zum Telefon durch, und stieß dabei wie durch ein Wunder nirgends an. Er hatte aber den Eindruck, als sei die Wohnung skurril entrückt. Die Proportionen des Raumes und der Möbel schienen nicht mehr zu stimmen, ein Phänomen das wohl mit der Dunkelheit zutun haben musste. Seltsam, dass er so etwas früher nie bemerkt hatte. Er tastete nach dem Telefon, ein alter Apparat mit Wählscheibe. Während er den Notruf wählte, und dabei die Wählscheibe bei jeder Zahl quälend langsam zurücksurrte, fiel ihm auf, dass es gar kein Freizeichen gab. Er wartete ab. Am anderen Ende nahm dennoch jemand ab. Die Leitung rauschte stark. "Hallo?", fragte Karl. Er hörte eine Stimme, aber verzerrt durch das starke Rauschen in der Leitung. "Hallo, Notruf?" Rauschen. Er legte auf und versuchte es erneut. Wieder kein Freizeichen, anschließend Rauschen. "Hallo, Notrufzentrale?" Rauschen, dazwischen weit entfernte Sprachfetzen. Er versuchte es ein drittes Mal. Es war zwecklos.
Er musste einen Nachbarn um Hilfe bitten, also ging er zur Haustür, welche ihm unnatürlich groß erschien. Konnte Schlafmangel solche Sinnestäuschungen auslösen? Er glaubte es nicht. Leicht irritiert öffnete er sie.
Im schwachen Schein der wenigen Laternen, die noch brannten, schaute er auf das vermeintliche Werk eines Wahnsinnigen, auf eine obszön entstellte Version der Nachbarschaft, so wie er sie kannte. Er sah die Häuser, die wider allen architektonischen und natürlichen Gesetzen in seltsamen Winkeln errichtet worden waren. In Bürgersteig und Straße klafften Schlaglöcher und sie schlängelten sich durch die Landschaft, verengten und verbreiterten sich dabei willkürlich. Die weißen Linien auf der Straße versuchten gar nicht erst dem obskuren Verlauf zu folgen, sondern verteilten sich kreuz und quer. Die ehemals leicht begrünten Bäume am Straßenrand waren kahl und die bleiche Äste erinnerten ihn an Knochen. Der Boden auf dem sie standen, ehemals Rasen, war eine schwarze teigige Masse, wie nasser Sand, aber Karl vermutete, dass es das sicher nicht war.
Das Schlimme war, dass er nicht daran glaubte zu träumen, oder Halluzinationen zu haben. Zuerst schon, aber jetzt nicht mehr, aus dem einen Grund; es gab zu viele Details. Karl sah den Schmutz auf den Laternen, einzelne Äste, die ihm im Wind zuwinkten, den amerikanischen Briefkasten der Nachbarn nebenan, dessen roter Wimpel aufgestellt war, die beleuchtete Hausnummer am Haus gegenüber. Er vernahm das kaum wahrnehmbare Rauschen des Windes... und das war alles. Um diese Urzeit hörte man für gewöhnlich nicht viele Geräusche, aber dies war anders. Es war als gäbe es nichts, das Geräusche verursachen könnte. Die Unnatürlichkeit in der Luft konnte er riechen. Ein saurer Geruch, wie nach einem Regenguss im Sommer, aber bei diesem wurde ihm schlecht.
Er drehte sich um, und war nicht sonderlich überrascht, dass Greta´s Haus sich nahtlos in die Reihe der Albtraumhäuser einfügte.

Karl hatte nicht an die Fahrertür gedacht, und war froh, als er vergeblich den Türgriff betätigte, dass er Greta wohlweißlich auf den Rücksitz gepackt hatte. Er war überrascht gewesen, dass seine Tante tatsächlich noch aus eigener Kraft gehen konnte. Als er ihr sagte, wohin er sie bringen wolle, stöhnte sie und versuchte tatsächlich aufzustehen. Er griff ihr hastig unter die Arme, und gemeinsam gingen sie zum Auto. Als sie auf dem Rücksitz lag kehrte sie zu ihrem lethargischen Zustand zurück.
Er umrundete das Auto, und stieg auf der Beifahrerseite ein. Er glaubte, hinter den schattigen Fenstern des Hauses gegenüber eine Bewegung zu erkennen. Ob die anderen Anwohner auch in Schwierigkeiten waren. Vielleicht erging es ihnen genauso wie seiner Tante. Vielleicht hatte ihr Zustand mit dieser Situation zu tun, die Menschen starben in ihren Häusern. Aber in seinem Kopf blitzte ein Warnsignal auf, und er beschloss, dass ihn das nicht zu kümmern hatte. Er wollte davon gar nichts wissen, er wollte hier nur weg. Karl startete den Motor, setzte auf die holprige aber befahrbare Straße und fuhr Richtung Ortsausgang.

Seine Tante wohnte nicht weit vom Ortsausgang entfernt. Karl raste mit der möglichen Höchstgeschwindigkeit, knapp 50 Km/h durch die Straßen und wich dabei wild lenkend riesigen Schlaglöchern aus. Er schwitzte. Es versetzte ihn doch mehr in Panik als er gedacht hatte, als er erkannte, dass das ganze Dorf befallen war.
Es dauerte kaum 2 Minuten, da hatten sie "Das Alt" verlassen. Außerorts war der Straßenbelag mit einem Mal wieder in Ordnung, und er beschleunigte. Die verfluchte Stadt im Rücken verspürte Karl so etwas wie Erleichterung. Hier schien alles in Ordnung zu sein. Die tiefschwarze Dunkelheit außerhalb des Wagens wirkte auf ihn nicht bedrohlicher, als sonst auch. Er überlegte, ob vielleicht die nächste Stadt von der... Sache befallen war, glaubte es aber nicht. Sicher war nur "Das Alt" befallen. Alles würde gut werden.
Er erschrak, als er etwas Kaltes auf seinem Arm spürte. Die Hand seiner Tante. Ihr Zustand schien sich zu verbessern. Er drehte sich unwillkürlich um, und schaute nun dem Wahnsinn ins Angesicht. Greta hatte sich in den Raum zwischen den beiden Vordersitzen gebeugt und glotzte ihn geifernd an. Das Alter war zurückgekehrt und entstellte sie ins Groteske, Sabber lief ihr aus dem Mund und tropfte schmierig auf die Handbremse. Aber es war nicht der Mund seiner Tante... dieses schmatzende Ding war nicht seine Tante. Seine Tante war tot, oder verloren in dem Wahnsinn, den Karl in den Augen der Kreatur entdecken konnte, das erkannte er plötzlich. Sich der Wirklichkeit dieses Augenblickes in aller Klarheit bewusst, gefror sein Körper. Bewegungsunfähig starrte er das entstellte Etwas an, während es auf ihn zukroch, mit seinen kalten Totenfingern nach seinem Gesicht grapschte, und der Wagen auf den Grünstreifen am Fahrbahnrand geriet. Der faulige Atem des Monsters brannte in Karls Nase, dass ihm die Augen tränten, als es blubbernd seine Tante nachäffte. "Mein Junge..." Dann explodierte die Welt, als der Passat gegen einen Baum prallte.

Karl wusste nicht wie er dorthin gelangt war, aber er stand bibbernd auf dem Grünstreifen und starrte das Autowrack an. War das im Auto wirklich geschehen? Hatte sich seine Tante in ein grässliches Etwas verwandelt, das ihn fressen wollte? Hatte sich die ganze Stadt in einen Albtraum verwandelt? Oder war er verrückt? Er konnte es nicht sagen. Das Wrack knisterte und zischte in der Dunkelheit. Er überlegte, was er jetzt tun sollte. Sollte er zum Wrack gehen und nach seiner Tante sehn? Vielleicht hatte er heftige Halluzinationen gehabt, oder war schlafgewandelt, und sie lag jetzt eingeklemmt im Wagen... Aber vielleicht lag sie auch nicht in dem Auto, sondern zuhause friedlich schlafend im Bett. Er fror. Sein Blick schweifte über die Finsternis jenseits des Autos, aus der ihm bedrohlich die Bäume ihre Klauen entgegenstreckten. Er hatte Angst.
Ein schürfendes Geräusch ertönte, leise, in der Stille der Nacht aber deutlich zu hören. Es kam aus dem Auto. Jemand bewegte sich darin. Er war sich plötzlich wieder sicher, dass alles keine Einbildung gewesen war, und in dem Wagen bewegte sich nicht seine verletzte Tante. Das Ding wollte heraus und ihn holen. Er rannte los, zurück ins Dorf.

Die Straßen waren verlassen, und "Das Alt" immer noch ein Horrorszenario. Er rannte zurück zum Haus seiner Tante, das einzig Vernünftige das ihm einfiel. Er brauchte ihr Auto um hier wegzukommen. Alles was er dabei an Vorsicht aufbrachte war, dass er sich im Schatten der Häuser bewegte, und um uneinsehbare Winkel einen großen Bogen machte. Er rannte so schnell er konnte.
Endlich stand er nach Luft ringend vor dem unheimlichen Haus, das ihn mit einem klaffenden Loch im Türrahmen einzuladen schien hereinzukommen. Keine Einladung, die Karl gerne annehmen wollte. Aber der Autoschlüssel war irgendwo in dem Haus. Wenn er sich nicht irrte hatte er den Schlüsselbund gestern Nachmittag gesehen, als seine Tante in der Küchenschublade nach ihrem Portemonnaie kramte. Er musste daran denken, wie einfach die Leute im Film Autos kurzschlossen, eine Fähigkeit, die er sich sehnlichst herbeiwünschte. Unentschlossen schaute er sich um, besonders die Fenster der Nachbarhäuser inspizierte er. Niemand zu sehen, obwohl das bei der Dunkelheit auch kein großes Wunder war. Es nutzte nichts. Er trat ein.
Innen war es duster. Er kämpfte stark mit dem Drang panisch wieder rauszurennen. Jeder Schatten schien lauernde Gestalten zu beherbergen, die nur darauf warteten, dass er ihnen den rücken zukehrte. Aber er brauchte den Schlüssel, der Strohhalm, an den er sich nun klammerte. Zwei Schubladen standen in der Küche zur Auswahl, da er sich nicht genau erinnern konnte, in welcher seine Tante am Nachmittag gekramt hatte. Er zog die erste auf. Blind tastete er darin herum. Papiere, Stifte, Tesafilm... keine Schlüssel. Etwas polterte im ersten Stock. Er verkrampfte sich, jemand... etwas war im Haus. Oh Gott. Er zog die zweite Schublade auf. Er hörte die Schritte die dumpf durch das alte Holz des Hauses übertragen wurde, wie sie sich der Treppe näherten. Er kramte. In dieser Schublade war viel Kleinzeug. Es rasselte und klimperte, als er mit seinen Fingern darin wühlte, deja vù. Schritte auf der Treppe. Sein Herz wollte aus seiner Brust springen, er bekam kaum Luft, und er fand den Schlüssel nicht. War er das? ... Nein. Was, wenn der Schlüssel gar nicht in der Lade war? Der Besucher verließ die Treppe und war nun im Flur. Nein, nein, er musste in der Lade sein. Er musste. Karl´s Finger wurden taub. Er fühlte kaum noch etwas, hätte er den Schlüssel in der Hand gehabt, hätte er ihn wahrscheinlich nicht erkannt. Die Schritte im Flur waren nah, und die Flurtür stand weit offen. Er wollte nicht sehen was da kam, und flüchtete. Es klingelte in seinem Kopf. Er sah den schwarzen Umriss des Schlüsselbretts an der Wand. Ein Schlüsselbund hing daran. Er schnappte ihn und rannte hinaus.
Für einen kurzen Augenblick war er sich sicher, dass der Autoschlüssel nicht an dem Schlüsselbund hing, sondern noch irgendwo im Haus lag, aber er fand ihn doch. Gegenüber wurde eine Haustür geöffnet. Karl achtete nicht darauf. Das Auto war wichtig, das Auto bot Sicherheit, alles andere war unwichtig. Er spürte schon den eisigen Griff von Klauen in seinem Nacken, als er endlich im Auto saß, mit der einen Hand den Knopf runterdrückte, mit der anderen versuchte das Zündschloss zu treffen. Geschafft. Der Wagen startete sofort, was für Karl an ein Wunder grenzte. Er drehte sich im Sitz, und sah die Gestalt die auf den Wagen zutaumelte, das Antlitz gnädigerweise im Schatten verborgen, und er überfuhr sie beim Zurücksetzen. Sie klatschte knallend auf die Karosserie und verschwand dann unter dem Auto. Er konnte spüren, wie der Körper unter dem Gewicht zerquetscht wurde.
Etwas, eine weitere Monströsität, klatschte gegen die Fahrertür. Er schrie auf. Er legte den ersten Gang ein und trat aufs Gas. Die Reifen drehten quietschend durch, die Gestalt kratzte an der Scheibe und Karl glaubte er werde wahnsinnig, als das Ding anfing zu kreischen. Das Auto machte einen Satz und beschleunigte. Karl merkte nicht, dass er ebenfalls kreischte wie ein kleines Mädchen. Im Rückspiegel starrte er die Gestalt an, die ungelenk auf den Asphalt fiel. Er hatte sie erkannt. Das war sein Onkel gewesen.

Er verminderte die Geschwindigkeit nicht, als er an der Unfallstelle vorbei kam, kam aber nicht drumherum hinzuschauen. Er konnte das helle Holz des beschädigten Baumes erkennen, das aus dem Dunkel der Rinde herausragte. Sonst verkündete aber nichts von dem Unfall. Er konnte das Autowrack im Wald nicht sehen. Fast rechnete er damit, wie das entstellte Greta Ding auf die Straße stürzte, aber das geschah nicht.
Immer wieder vergewisserte er sich mit einem Blick, dass niemand auf der Rückbank des Wagens lauerte, und er hatte sich schon eingebildet, das hoffte er zumindest, Geräusche aus dem Kofferraum zu hören. Das Radio hatte er noch nicht eingeschaltet, denn er fürchtete sich davor, was er hören könnte.
Er betete, dass in der nächsten Stadt alles normal war, und wenn schon da nicht, dann doch in der nächsten Stadt, oder in der nächsten. Er schaute auf die Tankanzeige. Aber am meisten hoffte er, dass er es soweit schaffen würde.

ENDE
 

monkey

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ich werd mir meine story nochmal zu gemüte führen, sobald ich die arbeiten an meiner neuesten ("tür") abgeschlossen habe. mal schauen ob ich mit der distanz genauso empfinde.

Monkey
 



 
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