Land der Berge

ledsgo

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Verlegen blinzelst du hinunter in die Tiefe der Felsen, eine Kerbe, ein Riss in deiner Welt. Zwischen den Felsspalten sprudelt Wasser hervor, klares Quellwasser, das sich zu einem sanften Strome entwickelt und ebenso gemächlich wie urmächtig die Senke deines Tales hinausfließt, wo es sich schließlich in die unendlichen Adern dieser Erde einfügt und jede Grenze, jede Kontur verliert.

Dein verlegener Blick aber ruht nicht auf diesem Fluss. Etwas nervös zieht es ihn immer wieder auf die halbfertige Verlegenheitsbrücke, die sie nie fertiggebaut haben. Sie bröckelt schon ein wenig, die Stahlbetonbrücke, die neben den wenigen grauen Flecken der Felsen - die im wesentlichen vom feuchten Moos eingedeckt vor sich hin schlummern - das einzig Farblose in dieser Gegend ist. Sie stammt noch aus einer Zeit des Überflusses, man hatte sie nie gebraucht, diese Brücke, aber nichtsdestotrotz wollte man sie haben.

Dann kehrst du ihr den Rücken zu, dieser Halbherzigkeit, diesem Allerweltsbauwerk, das plötzlich nicht mehr finanziert hatte werden können. Finanzkrise sagst du dir, kopfschüttelnd und zynisch lachend. Du kehrst ihr also den Rücken zu und schaust den Berg hinauf, schaust in die braune Schneise hinein, die sie aus dem Berg gerissen haben, schaust auf den Haufen kahlrasierter Baumstämme, die am Fuß des Berges liegen wie feucht gewordene Zundhölzer, die niemand mehr braucht. In der Schneise ruht der Schilift, wie in all den anderen unzähligen Schneisen, die sie in den Berg geschlagen haben, auch Schilifte ruhen, Lifte, die keiner mehr benützt, halbfertig manche, andere hoffnungslos veraltet.

Sie haben dir den Berg in den Lift hineingebaut, den Fluss in die Brücke, und du, Fremder, du fragst die zuständigen Männer um dich, ob denn all das not tue, aber ihre Antwort ist dir gleichgültig. Deine Verwunderung ist groß, aber du weißt wohl, dass deine Blicke dir nichts zeigen, das je notwendig gewesen wäre. Gebraucht hat man hier immer erst, nachdem die Gier geweckt war. Notwendigkeit, das war hier seit jeher eine Kategorie des Wollens, was notwendig war, wurde hier, ungleich so vieler Orte, immer noch entschieden.

Du musterst sie also, die biertrinkenden Bauern, die gierigen Mäuler deines Heimatdorfes, die dir so unbekannt sind. Irgendeine Antwort werden sie dir schon entgegen nuscheln, aber du verstehst sie doch nicht mehr, diese Menschen, und sie blicken dich misstrauisch an, wie sie die Anderen immer misstrauisch angeblickt haben, als du noch ein Kind, noch einer von ihnen warst.

Du starrst auf den Boden, das Bier in deiner Hand will dir nicht schmecken. Die Überheblichkeit deiner Ahnherren ist ihnen aus dem Gesicht geschwemmt wie der letzte Glanz aus dem Fluss geschwemmt ist, ihr Maulheldentum hat ein Ende gefunden, weil ihnen, wie sie sagen, keiner mehr kommt.

Niemand kann oder will mehr zu ihnen fahren, wem gefällt schon diese ewige Unfertigkeit, dieses ewige Bauwerk, von dem sie einst glaubten, sie könnten es für immer weiterführen? Expansion dachten sie, mehr mit ihrem Bauch als ihrem Hirn, und verstanden nicht, dass auch die dickste Mauer rissig wird, und auch der dümmste Tourist irgendwann merkt, dass die scheinbare Natur eine Tourismusfabrik ist. Und wie jede Fabrik wird auch diese geschlossen, wenn es kein Geld mehr gibt.

Und jetzt stehen sie da, die Maulhelden deiner Jugend, und trinken ihr Bier wie sie es damals taten, aber es hört ihnen keiner mehr zu. Und du stehst da, verlassen und schockiert, von einer umgekehrten Logik heimgesucht:
Nein, nicht du hast dich verändert in deiner Abwesenheit. Deine Heimat selbst ist dir fremd geworden, man hat sie dir umgebaut und jetzt stehst du vor ihr, der gealterten, der zusammengeflickten und zusammengeschusterten Heimatstadt, der Stadt deiner Eltern und nicht einmal mehr diese, deine Stadt ist noch da. Nicht nur deine Eltern, auch deine Stadt ist vergangen.

Und du alter Mitläufer, du hast geglaubt, du könntest wie sie wieder nachhause gehen, du hast geglaubt, auch dir würde diese Unaufrichtigkeit gelingen, wieder nachhause zu gehen als wäre nichts passiert, als hätte man sie dir nicht genommen, deine Heimat. Und so stehst du da, entsetzt, verloren und einsam - so, wie sie dich ausgespuckt hat, deine lächerliche Ländlichkeit.
 



 
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