Landluft

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claudianne

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„Laaangweilig!“, gähnt Max und blinzelt müde in die Morgensonne.
Seit er vor Kurzem mit seinen Eltern aufs Land gezogen ist, sind die Wochenenden ein Albtraum.
Seine Mutter macht langweilige Dinge wie Vorhänge aufhängen oder Geschirr sortiere und sein Vater schleppt Kisten. Dabei betonen sie ständig, dass es die beste Idee überhaupt war, raus ins Grüne zu ziehen.
„Genau“, mault Max dann,
„Spitzenidee! Habt ihr dabei auch an mich gedacht? Meine Freunde sind in München und nicht im Grünen!“
Jetzt ist also mal wieder Samstag und der Tag verspricht eigentlich nichts außer schönem Wetter.
„Wenn es wenigstens andere Kinder hier gäbe“, denkt sich Max,
„aber hier ist ja weit und breit nur Wiese und nebenan die Alten.“
Max steigt aus seinem Bett und drückt sich die Nase am Fenster platt. Mal sehen, ob sich nebenan was tut.
„Die Alten“ nennt Max die Senioren-WG, die den alten Gutshof nebenan bezogen hat. Ein altes von Efeu umranktes Gebäude über dessen Eingang auf einem Holzschild der Name „Gut Gemeint“ prangt.

Im Garten tanzt eine ältere Dame mit wildem, rot gefärbtem Haar und noch röter geschminkten Lippen laut singend um einen Apfelbaum. Sie trägt ein Gewand, dass Max irgendwie an die Vorhänge erinnert, die seine Mutter gerade aufhängt: bunt mit vielen großen Blumen drauf. Es schwingt bei jedem Schritt um sie herum wie ein Vorhang im Wind.
Für ihr Alter - „sie ist bestimmt schon über 100“, denkt Max – ist sie noch recht gelenkig.
Etwas abseits im Schatten steht ein Rollstuhl, in dem eine weitere alte Dame aus einer großen Tasse genüsslich nippt.
Ums Eck biegt ein kahlköpfiger Mann - natürlich auch uralt - mit einem Wellensittich auf der Schulter. Beide pfeifen.
„Denen geht’s ja gut“, nölt Max beleidigt.
„Max!“, ruft seine Mutter fröhlich von unten,
„Frühstück ist fertig!“
„Ja!“, schreit Max genervt zurück,
„ich komme gleich.“
Eigentlich hat er keine Lust auf seine grinsenden Eltern und erst recht nicht auf den komischen Kräutertee, den er jetzt immer trinken muss.
„Selbst gesammelt“, säuselt die Mama immer beim Einschenken.
„Mir wurscht“, denkt sich Max,
„ich trink lieber Kakao.“
„Und was hast Du heute vor?“, fragt seine Mutter beim Frühstück,
„das Wetter ist so schön, du könntest ja draußen ein bisschen die Gegend erkunden und mir dabei einen schönen Blumenstrauß pflücken“
„Ich bin doch kein Mädchen“, mault Max,
„ich hab außerdem schon was Anderes vor.“
„Aha, was denn?“, fragt seine Mutter.
„Dies und das“, sagt Max.
„Schön, dann bist Du ja beschäftigt. Nächstes Wochenende machen wir dann wieder was zusammen. Versprochen!“, sagt Mama.
„Ja, ja“, seufzt Max und nimmt einen Schluck Kräutertee, „Bäh!“

Danach – Mama und Papa haben zu tun – macht Max sich erst einmal ein Glas Kakao mit kalter Milch und schleicht sich in den Garten. Da hat er schon einen Lieblingsplatz: Hinter dem alten Gartenschuppen steht eingewachsen von Himbeersträuchern eine kleine Bank. Da kann man gemütlich sitzen und nebenbei noch ein paar Himbeeren essen. Und nachdenken.
„Es muss endlich mal was Spannendes passieren“, wünscht sich Max, „aber was?“
Max denkt nach, trinkt einen Schluck Kakao, überlegt immer noch und dann hat er eine Idee.
Er grinst zufrieden.

Seine Eltern wundern sich beim Abendessen, warum Max so fröhlich ist.
„Hast Du was Schönes gemacht?“, fragt seine Mutter.
„Dies und das eben“, sagt Max nur.
Und damit Mama nicht ganz so viel nachfragt, hat er sogar einen Strauss aus lauter Löwenzahnblüten gepflückt. Als Alibi quasi.
Eigentlich hat er sich nämlich heimlich seine Ausrüstung für heute Nacht zusammengesucht: eine Taschenlampe, Proviant und seine Gummistiefel, falls das Wetter umschlagen sollte. Und natürlich einen Schraubenzieher, für alle Fälle.
Heute Nacht soll es losgehen: Max sucht ein Abenteuer.
Nach dem Abendessen gähnt Max ausgiebig: „Ich bin schon so müde, vielleicht gehe ich heute mal früher ins Bett.“
„Ja, die gute Landluft“, strahlt seine Mutter, „macht frisch und müde zugleich!“
„Hä?“, sagt Max, geht schnell Zähne putzen und dann ins Bett. Mit Schlafanzug und Gummistiefeln, falls es nachher schnell gehen muss.

Max fallen schon die Augen zu, „die blöde Landluft“, flucht Max leise und kämpft gegen die Müdigkeit. Gegen zehn gehen endlich seine Eltern ins Bett und auch drüben im Gutshof brennt kein Licht mehr.
Max schleicht sich nach draußen. Die Ausrüstung hat er in seinem Turnbeutel gepackt. Es ist recht dunkel im Garten, nur der Mond leuchtet. Straßenlaternen gibt es keine. Max ist froh über seine Taschenlampe und leuchtet auf den Zaun zum Nachbargarten. Am Nachmittag hat er von seiner Bank aus schon entdeckt, dass ein paar Latten lose sind, sie lassen sich einfach zur Seite schieben, sodass man leicht durchklettern kann. Er fröstelt leicht. Ein wenig unheimlich ist es schon, so alleine in der Nacht, mutig zieht er sich seine lockere Schlafanzughose wieder über den Bauch und stapft Richtung Türe.

Reinkommen sollte kein Problem sein, wenn es stimmt, was seine Mutter sagt: „Am Land braucht man nicht abzusperren, hier hat jeder seine Türe offen, weil alle so nett sind!“
Und sie hat recht, Max ärgert sich fast ein bisschen, weil es so einfach ist, ins Haus zu kommen.
„So und jetzt?“, einen richtigen Plan hat er eigentlich nicht.
Da hört er aus einer der Zimmertüren lautes Schnarchen.
Max drückt langsam die Klinke herunter und leuchtet mit der Taschenlampe hinein: Im Bett liegt die rothaarige Frau. Viel von ihren Haaren sieht man jedoch nicht, sie sind auf riesengroßen Lockenwicklern verstaut.
Auf ihrem Nachttisch steht ein Glas mit Wasser, in dem im Schein der Taschenlampe etwas glänzt. „So was“, denkt sich Max, „wofür sie wohl das Ersatzgebiss braucht? Vielleicht um das Essen klein zu machen, wenn ihr Mund mit Singen oder Schnarchen beschäftigt ist? Mal sehen wie gut die beißen können“.
Max zieht leise den Schraubenzieher aus dem Turnbeutel und fischt damit die Zähne aus dem Glas.
Ein bisschen eklig ist so ein nasses Gebiss schon, erst recht, wenn es nicht das eigene ist. Max schwenkt den Strahl der Taschenlampe durch den Raum und entdeckt einen Kaktus: Schnapp, schon stecken die Zähne drin. Richtig fest. So fest, dass Max sie nicht mehr rausbekommt.
„Macht nichts!“, Max freut sich über seinen ersten Streich und schleicht zurück in den Gang.
Ein bisschen will er sich noch umschauen.

Eine halbe Stunde und ein paar Streiche später fällt sein Blick in die Küche. Und da steht sie: die Groß-Packung Kakao, die Max schon immer haben wollte, die Mama im Supermarkt aber immer ganz schnell wieder aus dem Einkaufswagen räumt, sobald Max sie heimlich hineingeschmuggelt hat.
„Fällt bestimmt nicht auf, wenn ich da noch eine Handvoll probiere!“, denkt sich Max und schiebt beide Hände in die Packung und dann gleich in den Mund. Und weil es so gut ist gleich noch mal. Und dann ab nach Hause. Zufrieden klettert er ins Bett und schläft sofort ein.

Am nächsten Morgen schaut er als Erstes aus dem Fenster: Drüben klettert gerade die Rothaarige noch mit den Lockenwicklern auf einen wackeligen Holzschemel, um an das Eingangsschild heranzukommen. Dort streicht sie mit ihrem roten Lippenstift den letzten Buchstaben durch.
Jetzt steht da nur noch „Gut Gemein“.
Dann schaut sie zu Max hinüber und schüttelt langsam den Kopf.
Max duckt sich schnell unters Fensterbrett.
„Hui, die fand meine Streiche wohl nicht so lustig, aber sie kann ja gar nicht wissen, dass ich es war“, denkt Max erleichtert.
Da klingelt es unten an der Tür.
Seine Mutter macht auf.
„Hallo Herr Nachbar“, hört Max sie fröhlich rufen und bekommt einen Kloß im Hals.
„Was will der bloß hier?“, flüstert Max und krabbelt zurück ins Bett.
Einfach schlafend stellen hilft immer.
„Ich wollte fragen, ob uns ihr Sohn heute bei ein paar Arbeiten unterstützen kann?“, hört Max den Nachbarn fragen, „wir könnten ein bisschen Hilfe gebrauchen.“
„Aber gerne!“, flötet Mama,
„Max, kommst Du mal, Du hast Besuch! Maaax?“
Max stellt sich weiter schlafend.
„Komisch“, sagt Mama unten,
„er muss oben in seinem Zimmer sein. Ich schick ihn gleich rüber.“
„Na, der junge Mann schläft wohl noch. Er hat sicher eine aufregende Nacht hinter sich“, verabschiedet sich der Nachbar.
„Ach was“, sagt Mama, „das ist bloß die gute Landluft.“
Dann hört Max sie auf der Treppe.
„Maaax, aufwachen!“, ruft Mama, „du darfst drüben bei den Nachbarn helfen!“
„Toll“, grunzt Max, „ich kann aber nicht, mir ist schlecht.“
„Ach was,“, sagt Mama und reißt die Bettdecke weg, „an der frischen Luft geht’s dir gleich wieder gut!“

Einen Kräutertee später schleicht Max in den Nachbargarten, wo es sich die Alten mittlerweile am Tisch unter dem Apfelbaum gemütlich gemacht haben.
„Hallo“, sagt er kaum hörbar, „ich soll mich hier zur Arbeit melden?“
„Soso, mein Junge“, sagt die Rothaarige, die sich als Rosa vorstellt,
„Jetzt erzähl uns doch erst einmal, was das heute Nacht sollte.“
„Was denn?“, fragt Max unschuldig.
„Also wir sind zwar alt aber nicht blöd“, sagt Rosa,
„Du hast eine ganz schöne Sauerei bei uns in der Küche hinterlassen. Der ganze Boden ist voll Kakaopulver. Darin sind wunderschöne Fußabdrücke zu sehen. Kleine Füße mit einem lachenden Clown im Profil. Hier in der Nachbarschaft kennen wir nur ein Kind und das bist du.“
„Ja eben!“, jammert Max,
„das ist ja das Problem, ich hab niemanden zum Spielen! Darum habe ich mir halt selbst ein paar Abenteuer ausgedacht. Was Lustiges eben.“
„Naja“, sagt Rosa,
„ich fand gar nicht lustig, dass ich heute früh erst mit der Pinzette die Stacheln aus den Zahnzwischenräumen zupfen musste, bevor ich mein Gebiss einsetzen konnte.“
„Und Else“, fährt Rosa fort und deutet auf die Frau im Rollstuhl,
“konnte nicht den Sonnenaufgang beobachten, es hat ihr nämlich heute Nacht jemand die Luft aus ihrem Rollstuhl gelassen. Da musste erst Ludwig die Pumpe aus dem Keller holen.“
„Ja, schade“, seufzt Else,
„mein Kakao schmeckt mir draußen am Besten, wenn die ersten Sonnenstrahlen meine Nase kitzeln“.

„Und Hansi“, sagt Ludwig und deutet in den Apfelbaum, wo Max erst jetzt den Wellensittich entdeckt, „hat heute Nacht Freigang erhalten, da hat doch jemand einfach die Tür zu seinem Käfig aufgemacht. Jetzt sitzt er da oben und kennt sich nicht mehr aus. Und ich kann mit meinem wackeligen Knien nicht auf die Leiter.“
„So, junger Mann“, sagt Rosa im Befehlston und blinzelt den anderen dabei zu,
„und hier kommst Du ins Spiel. Du rettest Hansi und danach können wir darüber reden, wie wir ein bisschen Schwung in deine faden Tage bringen!“
Max schleppt mit Ludwig die schwere Leiter aus dem Keller und kraxelt in den Baum hinauf. Vorsichtig packt er Hansi und bringt ihn sicher wieder auf die Schulter von Ludwig herunter. Glücklich pfeifen beide.

„Uns ist nie langweilig“, sagt dann gerade Else, die, wie Max dachte, es in ihrem Rollstuhl besonders langweilig hat,
„Rosa war Opernsängerin, sie singt uns gerne vor oder wir hören ihre alten Platten, ich war internationale Kunstturnerin. Davon merkt man zwar nichts mehr, aber ich erzähle gerne Geschichten von meinen Reisen und schwelge in Erinnerungen, natürlich immer mit einer Tasse Kakao. Und ich lieeeebe Scrabble!
Na und Ludwig ist Hauptkommissar A.D. Und Hobbydetektiv. Er ist immer etwas oder jemandem auf der Spur – so wie dir.“
„Komm doch einfach rüber wenn dir fad ist“, sagt Rosa,
„wir beißen nicht“, sie grinst und zeigt dabei ihre wieder einsatzbereiten Zähne.
„Aber keine Streiche mehr, sonst kriegst du nichts von meinem Kakao“, ergänzt Else.
„Mich kannst Du eh nicht an der Nase herumführen“, sagt Ludwig und packt Max bei der Hand, um ihm seine Werkstatt zu zeigen.
Der Tag vergeht wie im Flug und beim Abendessen fallen Max schon die Augen zu.
„Hast Du was Tolles gemacht?“, fragt Mama. „Nein, das ist nur die gute Landluft“, antwortet Max, seine neuen Freunde bleiben erst einmal ein Geheimnis.
 

claudianne

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Landluft

„Laaangweilig!“, gähnt Max und blinzelt müde in die Morgensonne.
Seit er vor Kurzem mit seinen Eltern aufs Land gezogen ist, sind die Wochenenden ein Albtraum.
Seine Mutter macht langweilige Dinge wie Vorhänge aufhängen oder Geschirr sortiere und sein Vater schleppt Kisten. Dabei betonen sie ständig, dass es die beste Idee überhaupt war, raus ins Grüne zu ziehen.
„Genau“, mault Max dann, „Spitzenidee! Habt ihr dabei auch an mich gedacht? Meine Freunde sind in München und nicht im Grünen!“
Jetzt ist also mal wieder Samstag und der Tag verspricht eigentlich nichts außer schönem Wetter.
„Wenn es wenigstens andere Kinder hier gäbe“, denkt sich Max, „aber hier ist ja weit und breit nur Wiese und nebenan die Alten.“
Max steigt aus seinem Bett und drückt sich die Nase am Fenster platt. Mal sehen, ob sich nebenan was tut.
„Die Alten“ nennt Max die Senioren-WG, die den alten Gutshof nebenan bezogen hat. Ein altes von Efeu umranktes Gebäude über dessen Eingang auf einem Holzschild der Name „Gut Gemeint“ prangt.

Im Garten tanzt eine ältere Dame mit wildem, rot gefärbtem Haar und noch röter geschminkten Lippen laut singend um einen Apfelbaum. Sie trägt ein Gewand, dass Max irgendwie an die Vorhänge erinnert, die seine Mutter gerade aufhängt: bunt mit vielen großen Blumen drauf. Es schwingt bei jedem Schritt um sie herum wie ein Vorhang im Wind.
Für ihr Alter - „sie ist bestimmt schon über 100“, denkt Max – ist sie noch recht gelenkig.
Etwas abseits im Schatten steht ein Rollstuhl, in dem eine weitere alte Dame aus einer großen Tasse genüsslich nippt.
Ums Eck biegt ein kahlköpfiger Mann - natürlich auch uralt - mit einem Wellensittich auf der Schulter. Beide pfeifen.
„Denen geht’s ja gut“, nölt Max beleidigt.
„Max!“, ruft seine Mutter fröhlich von unten, „Frühstück ist fertig!“
„Ja!“, schreit Max genervt zurück, „ich komme gleich.“
Eigentlich hat er keine Lust auf seine grinsenden Eltern und erst recht nicht auf den komischen Kräutertee, den er jetzt immer trinken muss.
„Selbst gesammelt“, säuselt die Mama immer beim Einschenken.
„Mir wurscht“, denkt sich Max, „ich trink lieber Kakao.“
„Und was hast du heute vor?“, fragt seine Mutter beim Frühstück, „das Wetter ist so schön, du könntest ja draußen ein bisschen die Gegend erkunden und mir dabei einen schönen Blumenstrauß pflücken“
„Ich bin doch kein Mädchen“, mault Max, „ich hab außerdem schon was Anderes vor.“
„Aha, was denn?“, fragt seine Mutter.
„Dies und das“, sagt Max.
„Schön, dann bist du ja beschäftigt. Nächstes Wochenende machen wir dann wieder was zusammen. Versprochen!“, sagt Mama.
„Ja, ja“, seufzt Max und nimmt einen Schluck Kräutertee, „Bäh!“

Danach – Mama und Papa haben zu tun – macht Max sich erst einmal ein Glas Kakao mit kalter Milch und schleicht sich in den Garten. Da hat er schon einen Lieblingsplatz: Hinter dem alten Gartenschuppen steht eingewachsen von Himbeersträuchern eine kleine Bank. Da kann man gemütlich sitzen und nebenbei noch ein paar Himbeeren essen. Und nachdenken.
„Es muss endlich mal was Spannendes passieren“, wünscht sich Max, „aber was?“
Max denkt nach, trinkt einen Schluck Kakao, überlegt immer noch und dann hat er eine Idee.
Er grinst zufrieden.

Seine Eltern wundern sich beim Abendessen, warum Max so fröhlich ist.
„Hast du was Schönes gemacht?“, fragt seine Mutter.
„Dies und das eben“, sagt Max nur.
Und damit Mama nicht ganz so viel nachfragt, hat er sogar einen Strauss aus lauter Löwenzahnblüten gepflückt. Als Alibi quasi.
Eigentlich hat er sich nämlich heimlich seine Ausrüstung für heute Nacht zusammengesucht: eine Taschenlampe, Proviant und seine Gummistiefel, falls das Wetter umschlagen sollte. Und natürlich einen Schraubenzieher, für alle Fälle.
Heute Nacht soll es losgehen: Max sucht ein Abenteuer.
Nach dem Abendessen gähnt Max ausgiebig: „Ich bin schon so müde, vielleicht gehe ich heute mal früher ins Bett.“
„Ja, die gute Landluft“, strahlt seine Mutter, „macht frisch und müde zugleich!“
„Hä?“, sagt Max, geht schnell Zähne putzen und dann ins Bett. Mit Schlafanzug und Gummistiefeln, falls es nachher schnell gehen muss.

Max fallen schon die Augen zu, „die blöde Landluft“, flucht Max leise und kämpft gegen die Müdigkeit. Gegen zehn gehen endlich seine Eltern ins Bett und auch drüben im Gutshof brennt kein Licht mehr.
Max schleicht sich nach draußen. Die Ausrüstung hat er in seinem Turnbeutel gepackt. Es ist recht dunkel im Garten, nur der Mond leuchtet. Straßenlaternen gibt es keine. Max ist froh über seine Taschenlampe und leuchtet auf den Zaun zum Nachbargarten. Am Nachmittag hat er von seiner Bank aus schon entdeckt, dass ein paar Latten lose sind, sie lassen sich einfach zur Seite schieben, sodass man leicht durchklettern kann. Er fröstelt leicht. Ein wenig unheimlich ist es schon, so alleine in der Nacht, mutig zieht er sich seine lockere Schlafanzughose wieder über den Bauch und stapft Richtung Türe.

Reinkommen sollte kein Problem sein, wenn es stimmt, was seine Mutter sagt: „Am Land braucht man nicht abzusperren, hier hat jeder seine Türe offen, weil alle so nett sind!“
Und sie hat recht, Max ärgert sich fast ein bisschen, weil es so einfach ist, ins Haus zu kommen.
„So und jetzt?“, einen richtigen Plan hat er eigentlich nicht.
Da hört er aus einer der Zimmertüren lautes Schnarchen.
Max drückt langsam die Klinke herunter und leuchtet mit der Taschenlampe hinein: Im Bett liegt die rothaarige Frau. Viel von ihren Haaren sieht man jedoch nicht, sie sind auf riesengroßen Lockenwicklern verstaut.
Auf ihrem Nachttisch steht ein Glas mit Wasser, in dem im Schein der Taschenlampe etwas glänzt. „So was“, denkt sich Max, „wofür sie wohl das Ersatzgebiss braucht? Vielleicht um das Essen klein zu machen, wenn ihr Mund mit Singen oder Schnarchen beschäftigt ist? Mal sehen wie gut die beißen können“.
Max zieht leise den Schraubenzieher aus dem Turnbeutel und fischt damit die Zähne aus dem Glas.
Ein bisschen eklig ist so ein nasses Gebiss schon, erst recht, wenn es nicht das eigene ist. Max schwenkt den Strahl der Taschenlampe durch den Raum und entdeckt einen Kaktus: Schnapp, schon stecken die Zähne drin. Richtig fest. So fest, dass Max sie nicht mehr rausbekommt.
„Macht nichts!“, Max freut sich über seinen ersten Streich und schleicht zurück in den Gang.
Ein bisschen will er sich noch umschauen.

Eine halbe Stunde und ein paar Streiche später fällt sein Blick in die Küche. Und da steht sie: die Groß-Packung Kakao, die Max schon immer haben wollte, die Mama im Supermarkt aber immer ganz schnell wieder aus dem Einkaufswagen räumt, sobald Max sie heimlich hineingeschmuggelt hat.
„Fällt bestimmt nicht auf, wenn ich da noch eine Handvoll probiere!“, denkt sich Max und schiebt beide Hände in die Packung und dann gleich in den Mund. Und weil es so gut ist gleich noch mal. Und dann ab nach Hause. Zufrieden klettert er ins Bett und schläft sofort ein.

Am nächsten Morgen schaut er als Erstes aus dem Fenster: Drüben klettert gerade die Rothaarige noch mit den Lockenwicklern auf einen wackeligen Holzschemel, um an das Eingangsschild heranzukommen. Dort streicht sie mit ihrem roten Lippenstift den letzten Buchstaben durch.
Jetzt steht da nur noch „Gut Gemein“.
Dann schaut sie zu Max hinüber und schüttelt langsam den Kopf.
Max duckt sich schnell unters Fensterbrett.
„Hui, die fand meine Streiche wohl nicht so lustig, aber sie kann ja gar nicht wissen, dass ich es war“, denkt Max erleichtert.
Da klingelt es unten an der Tür.
Seine Mutter macht auf.
„Hallo Herr Nachbar“, hört Max sie fröhlich rufen und bekommt einen Kloß im Hals.
„Was will der bloß hier?“, flüstert Max und krabbelt zurück ins Bett.
Einfach schlafend stellen hilft immer.
„Ich wollte fragen, ob uns ihr Sohn heute bei ein paar Arbeiten unterstützen kann?“, hört Max den Nachbarn fragen, „wir könnten ein bisschen Hilfe gebrauchen.“
„Aber gerne!“, flötet Mama, „Max, kommst du mal, du hast Besuch! Maaax?“
Max stellt sich weiter schlafend.
„Komisch“, sagt Mama unten, „er muss oben in seinem Zimmer sein. Ich schick ihn gleich rüber.“
„Na, der junge Mann schläft wohl noch. Er hat sicher eine aufregende Nacht hinter sich“, verabschiedet sich der Nachbar.
„Ach was“, sagt Mama, „das ist bloß die gute Landluft.“
Dann hört Max sie auf der Treppe.
„Maaax, aufwachen!“, ruft Mama, „du darfst drüben bei den Nachbarn helfen!“
„Toll“, grunzt Max, „ich kann aber nicht, mir ist schlecht.“
„Papperlapapp“, sagt Mama und reißt die Bettdecke weg, „an der frischen Luft geht’s dir gleich wieder gut!“

Einen Kräutertee später schleicht Max in den Nachbargarten, wo es sich die Alten mittlerweile am Tisch unter dem Apfelbaum gemütlich gemacht haben.
„Hallo“, sagt er kaum hörbar, „ich soll mich hier zur Arbeit melden?“
„Soso, mein Junge“, sagt die Rothaarige, die sich als Rosa vorstellt,
„Jetzt erzähl uns doch erst einmal, was das heute Nacht sollte.“
„Was denn?“, fragt Max unschuldig.
„Also wir sind zwar alt aber nicht blöd“, sagt Rosa, „du hast eine ganz schöne Sauerei bei uns in der Küche hinterlassen. Der ganze Boden ist voll Kakaopulver. Darin sind wunderschöne Fußabdrücke zu sehen. Kleine Füße mit einem lachenden Clown im Profil. Hier in der Nachbarschaft kennen wir nur ein Kind und das bist du.“
„Ja eben!“, jammert Max, „das ist ja das Problem, ich hab niemanden zum Spielen! Darum habe ich mir halt selbst ein paar Abenteuer ausgedacht. Was Lustiges eben.“
„Naja“, sagt Rosa, „ich fand gar nicht lustig, dass ich heute früh erst mit der Pinzette die Stacheln aus den Zahnzwischenräumen zupfen musste, bevor ich mein Gebiss einsetzen konnte.“
„Und Else“, fährt Rosa fort und deutet auf die Frau im Rollstuhl, “konnte nicht den Sonnenaufgang beobachten, es hat ihr nämlich heute Nacht jemand die Luft aus ihrem Rollstuhl gelassen. Da musste erst Ludwig die Pumpe aus dem Keller holen.“
„Ja, schade“, seufzt Else, „mein Kakao schmeckt mir draußen am Besten, wenn die ersten Sonnenstrahlen meine Nase kitzeln“.

„Und Hansi“, sagt Ludwig und deutet in den Apfelbaum, wo Max erst jetzt den Wellensittich entdeckt, „hat heute Nacht Freigang erhalten, da hat doch jemand einfach die Tür zu seinem Käfig aufgemacht. Jetzt sitzt er da oben und kennt sich nicht mehr aus. Und ich kann mit meinem wackeligen Knien nicht auf die Leiter.“
„So, junger Mann“, sagt Rosa im Befehlston und blinzelt den anderen dabei zu, „und hier kommst du ins Spiel. Du rettest Hansi und danach können wir darüber reden, wie wir ein bisschen Schwung in deine faden Tage bringen!“
Max schleppt mit Ludwig die schwere Leiter aus dem Keller und kraxelt in den Baum hinauf. Vorsichtig packt er Hansi und bringt ihn sicher wieder auf die Schulter von Ludwig herunter. Glücklich pfeifen beide.

„Uns ist nie langweilig“, sagt dann gerade Else, die, wie Max dachte, es in ihrem Rollstuhl besonders langweilig hat, „Rosa war Opernsängerin, sie singt uns gerne vor oder wir hören ihre alten Platten, ich war internationale Kunstturnerin. Davon merkt man zwar nichts mehr, aber ich erzähle gerne Geschichten von meinen Reisen und schwelge in Erinnerungen, natürlich immer mit einer Tasse Kakao. Und ich lieeeebe Scrabble!
Na und Ludwig ist Hauptkommissar A.D. Und Hobbydetektiv. Er ist immer etwas oder jemandem auf der Spur – so wie dir.“
„Komm doch einfach rüber wenn dir fad ist“, sagt Rosa, „wir beißen nicht“, sie grinst und zeigt dabei ihre wieder einsatzbereiten Zähne.
„Aber keine Streiche mehr, sonst kriegst du nichts von meinem Kakao“, ergänzt Else.
„Mich kannst du eh nicht an der Nase herumführen“, sagt Ludwig und packt Max bei der Hand, um ihm seine Werkstatt zu zeigen.
Der Tag vergeht wie im Flug und beim Abendessen fallen Max schon die Augen zu.
„Hast du was Tolles gemacht?“, fragt Mama. „Nein, das ist nur die gute Landluft“, antwortet Max, seine neuen Freunde bleiben erst einmal ein Geheimnis.
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Bin begeistert

Hallo claudianne,

Ein herzliches Willkommen auf der Leselupe.

Ist eine hübsche Geschichte, die Du da als Einstand abgeliefert hast. Leicht, luftig und verständlich geschrieben, mit teilweise witziger und teilweise nachdenklich stimmender Handlung und vor allem mit Pointe – genau so, wie sich der Leser das wünscht.

Passt in Kindergeschichten, obwohl es in anderen Foren ebenso gut aufgehoben wäre.

Ich hoffe, dass Du weiterhin deine Ideen so großartig und strukturiert zu Papier bringst. Mir hat die Geschichte gefallen.

Gruß … Ironbiber
 

claudianne

Mitglied
Hallo Ironbiber,

danke für dein positives Feedback und den Willkommensgruß.
Diese Geschichte hatte ich einmal für einen Wettbewerb zum Thema "gut gemeint" geschrieben.

Viele Grüße,
Claudia
 



 
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