Lange Leitung

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Anonym

Gast
Heute, gerade eben, ist es mir bewußt geworden.
Ich weiß noch nicht genau, wie ich es erklären soll.
Da sitze ich am Rechner, genauer gesagt auf einem bequemen Sofa, und habe die kabellose Tastatur auf dem Schoße liegen. Dieses veraltete "auf dem Schoße" soll den Eindruck eines Menschen vermitteln, der ungefähr die Mitte seiner geschätzten Lebenserwartung erreicht hat.
Denn so fühle ich mich und so alt bin ich auch.
Auf der Höhe der Zeit sozusagen.
Und weil ich heute Zeit habe, diskutiere ich mit verschiedenen Leuten in verschiedenen Foren zu gar nicht so verschiedenen Themen.
Jetzt kommt die große Blamage.
Bisher sah ich nämlich die Gesprächspartner immer nur als Namen auf dem Bildschirm. Na klar schaut man ab und an in das Profil, prägt sich Ortsnamen ein - nicht mit Absicht, das passiert halt.
Und heute hatte ich das erste Mal die Erkenntnis, daß all diese Leute auch ganz real vor einer Tastatur sitzen oder liegen, an einem Platz, der ihnen sehr vertraut ist.
Das Umfeld eines Computerstellplatzes ist ja meist sehr persönlich eingerichtet.
Ich bin rein altersmäßig aus der Generation der Verkabelten und um auf den Titel dieser Reflexion zu kommen, muß ich das Kabel jetzt als die Leitung bezeichnen, auf der ich wohl zu lange stand.
So bequem kann man nicht mit Freunden reden, die zu einem real-contact Besuch erscheinen. Da bräuchte man Platz wie ein römischer Patrizier.
Das, was mir als unverständliches Beiwerk einer nicht zu verhindernden Zukunft erschien, entpuppt sich plötzlich als absolut altersgerecht.
Doch so wie immer hat auch diese Bequemlichtkeit ihren Preis, denn sie muß als Floskel ihr Leben fristen.
Sämtliche Form der Verständigung verliert sich in reinen Worten. Mimik, Gestik, die vielen Ticks, die Menschen nunmal haben und die ob ihres Wiedererkennungswertes nicht zu unterschätzen sind, die vielen Kommunikationsmöglichkeiten abseits des geschriebenen Wortes - die fehlen.
Man fängt immer wieder von vorne an, heraus zu finden, wieviel wovon gut tut.
Und ganz zum Schluß - Spontanbesuche waren doch immer die Besten.
 



 
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