Langer Jammer

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Auf meinen grünen Daumen bin ich stolz. Ich liebe Blumen und atme gern frische Luft. Doch selbst, wenn mich Sonnenblumen mit dem strahlendsten Lächeln der Erde zu betören versuchen, kann ich meinen Hass auf Gartenarbeit immer noch nicht beherrschen.
Meine Eltern bewohnten ein Reihenhaus. Ein landadeliger Gutsbesitzer baute es um 1850 für acht seiner Tagelöhnerfamilien. An jedes Achtel dieses Tagelöhnerhaus schloss sich ein kleiner Hof an, den jeweils hohe, bis auf wenige Astlöcher undurchsichtige Bretterzäune vom Nachbarhof trennten. Auf den Höfen stand je ein Schweinestall, ein Schuppen für Gerätschaften, die zumeist der Gartenarbeit dienten, und ein kleines Holzhäuschen mit ausgesägtem Herz in der Tür. Außerdem gehörte ein Brunnen dazu, aus dem mit einer Schwengelpumpe Wasser für Mensch und Vieh in Eimer und Wasser für Gartenpflanzen in Gießkannen gefüllt wurde.
An den Hof schloss sich pro Reihenhaus-Achtel ein Garten von ca. 1000 Quadratmeter an, von dem einige Quadratmeter mit Maschendraht für Hühner, Enten oder Gänse abgezäunt waren. Zum Glück, sonst wäre der Garten noch größer gewesen.
Es waren keine Gärten mit Rasenflächen, Swimmingpool oder Feuchtbiotop. Nein, sie dienten während des zweiten Weltkrieg und Jahre danach ausschließlich dem Obst- und Gemüseanbau. Und sobald ich alt genug war, Harke, Hacke oder Spaten halten oder eine Gießkanne tragen zu können, half ich meinen Eltern bei der täglich mehrstündigen Arbeit im Garten. Schon damals in einem Alter, in dem ich stolz war, ihnen helfen zu dürfen, besaß ich bereits einen – wenn auch kurzen – grünen Daumen.
In Vorkriegszeiten sahen die Bewohner der umstehenden teuren Mietshäuser abschätzig auf das eingeschössige lange niedrige Tagelöhnerhaus herab, nannten es Langer Jammer und ihre Stimmen klangen dabei äußerst verächtlich. Familien mit bis zu vier Kindern wohnten in einem Hausachtel, das gerade einmal über drei winzige Räume und 36 Quadratmeter verfügte. Als einziges Einzelkind im Langen Jammer hatte ich unterm Spitzdach sogar ein eigenes kleines Kinderzimmer.
In den Nachkriegshungerjahren wurden aus jenen abschätzigen neidische Blicke. Den Gärten sei Dank hatten wir Lange-Jammer-Leute ausreichend zu essen. Die einst hochmütigen Mietshausbewohner boten goldene Ringe, Silberbesteck und Meißener Porzellan gegen einen Korb frischer Erdbeeren und Kirschen oder einen Beutel Kartoffeln, Äpfel oder Birnen. Und einige der einst Ehrenwerten stiegen nachts heimlich über Gartenzäune und bedienten sich.
Willi Wagner, Malermeister, Vater dreier Kinder, baumlang, füllig und mit regelmäßiger Verdauung, konnte sich vor allem auf seine innere Uhr verlassen.
Durch ein Astloch im Holzzaun beobachtete ich ihn genau. Sommers wie winters saß er mittags auf jener hölzernen Brille, die dem Stoffwechsel diente. Die Tür mit dem ausgesägten Herzen stand offen. Nur so konnte er seine langen Beine mit den herabgelassenen Hosen bequem ausstrecken. Täglich Punkt zwölf war es vollbracht. Mit voll tönendem Bass rief er: „Erna, Papier!“ Und schon kam seine Frau mit zu DIN-A-4 zerrissenem Zeitungspapier aus dem Haus getrabt, übergab ihm das bedruckte Klopapier und trabte zurück.
Willi Wagner las zunächst in aller Ruhe, was Journalisten ihm mitzuteilen hatten. Nahm ein Artikel mehrere Papierstücke ein, hielt er Fetzen an Fetzen. Und da er stets mehr von dem wissen wollte, was in der Welt geschah, rief er ein zweites Mal nach Frau und Lesestoff. Erna ging danach in ihren Garten und begann je nach Jahreszeit zu ernten, zu hacken, zu harken oder zu jäten. Willi ließ sich Zeit. Erst, wenn es von der nahen Kirchturmuhr einmal schlug, putzte er seinen haarigen Hintern ab, ging zu Erna und ließ sie achselzuckend wissen, er hätte ja gern im Garten geholfen, aber die Kunden würden schon auf ihn warten.
Als Halbwüchsiger half ich Erna gern im Garten. Ihr Malermeister verdiente gutes Geld und ich bekam für meine Hilfe von Erna einen Stundenlohn von zwanzig Pfennig. Das war damals viel Geld, das ich sommers in Eis und Bonbons und winters ausschließlich in Bonbons umsetzte, die ich selbst nicht mochte und daher großzügig verteilte. Selbstverständlich war ich deswegen ein begehrter Spielpartner.
Im Garten meiner Eltern zu helfen aber war Ehrenamt, Pflicht und oft Strafarbeit. Kam ich zu spät vom Spielen nach Hause, verurteilten mich meine Eltern zu mindestens einer Stunde Gartenarbeit. Und das stets zu Zeiten, in denen Nachbarskinder am Gartenzaun spielten.
Meine Pubertät brachte naturgemäß die absolute Unlust auf Gartenarbeit mit sich. Doch meine Eltern zwangen mich.
Später als Erwachsener mied ich bei der Wohnungssuche Reihenhäuser mit Gärten. Meine Liebe zu Pflanzen gilt heute eher Topfpflanzen in Zimmern und Wildkräutern in freier Natur. Gartenbesitzern bei der Arbeit zuzusehen, bereitet mir teuflisches Vergnügen, Schrebergärtner verachte ich und Sonnenblumen mag ich nur, wenn sie mich über Zäune aus Gärten anlächeln, die mir nicht gehören. Nach dem Essen auf meiner Toilette – mit Wasserspülung und Gerüche absaugendem Ventilator, versteht sich – aber denke ich oft an Malermeister Willi Wagner, der sich für Weltgeschehen und nicht für Gartenarbeit entschied. Und wenn dann meine Frau mit Hausarbeit (einen Garten haben wir ja nicht) auf mich wartet, beschäftige ich mich Zeitung lesend mit dem, was die Welt bewegt, und – bevor ich mir den Hintern abwische, mit Weisheiten, die auf unserem dreilagigen, mit geflügelten Worten bedruckten Toilettenpapier stehen.
Und gestern entdeckte ich den Spruch: Im Garten Eden, dem Garten der Gärten, war Arbeit unbekannt.
 
Lieber Marius,
danke für die Anfrage. Selbstverständlich kannst du den Text in ein Forum stellen, das dir passender erscheint.
Herzliche Grüße
Karl
 
Auf meinen grünen Daumen bin ich stolz. Ich liebe Blumen und atme gern frische Luft. Doch selbst, wenn mich Sonnenblumen mit dem strahlendsten Lächeln der Erde zu betören versuchen, kann ich meinen Hass auf Gartenarbeit nicht beherrschen.
Meine Eltern bewohnten ein Reihenhaus. Ein landadeliger Gutsbesitzer baute es um 1850 für acht seiner Tagelöhnerfamilien. An jedes Achtel dieses Tagelöhnerhaus schloss sich ein kleiner Hof an, den jeweils hohe, bis auf wenige Astlöcher undurchsichtige Bretterzäune vom Nachbarhof trennten. Auf den Höfen stand je ein Schweinestall, ein Schuppen für Gerätschaften, die zumeist der Gartenarbeit dienten, und ein kleines Holzhäuschen mit ausgesägtem Herz in der Tür. Außerdem gehörte ein Brunnen dazu, aus dem mit einer Schwengelpumpe Wasser für Mensch und Vieh in Eimer und Wasser für Gartenpflanzen in Gießkannen gefüllt wurde.
An den Hof schloss sich pro Reihenhaus-Achtel ein Garten von ca. 1000 Quadratmeter an, von dem einige Quadratmeter mit Maschendraht für Hühner, Enten oder Gänse abgezäunt waren. Zum Glück, sonst wäre der Garten noch größer gewesen.
Es waren keine Gärten mit Rasenflächen, Swimmingpool oder Feuchtbiotop. Nein, sie dienten während des zweiten Weltkrieg und Jahre danach ausschließlich dem Obst- und Gemüseanbau. Und sobald ich alt genug war, Harke, Hacke oder Spaten halten oder eine Gießkanne tragen zu können, half ich meinen Eltern bei der täglich mehrstündigen Arbeit im Garten. Schon damals in einem Alter, in dem ich stolz war, ihnen helfen zu dürfen, besaß ich bereits einen – wenn auch kurzen – grünen Daumen.
In Vorkriegszeiten sahen die Bewohner der umstehenden teuren Mietshäuser abschätzig auf das eingeschössige lange niedrige Tagelöhnerhaus herab, nannten es Langer Jammer und ihre Stimmen klangen dabei äußerst verächtlich. Familien mit bis zu vier Kindern wohnten in einem Hausachtel, das gerade einmal über drei winzige Räume und 36 Quadratmeter verfügte. Als einziges Einzelkind im Langen Jammer hatte ich unterm Spitzdach sogar ein eigenes kleines Kinderzimmer.
In den Nachkriegshungerjahren wurden aus jenen abschätzigen neidische Blicke. Den Gärten sei Dank hatten wir Lange-Jammer-Leute ausreichend zu essen. Die einst hochmütigen Mietshausbewohner boten goldene Ringe, Silberbesteck und Meißener Porzellan gegen einen Korb frischer Erdbeeren und Kirschen oder einen Beutel Kartoffeln, Äpfel oder Birnen. Und einige der einst Ehrenwerten stiegen nachts heimlich über Gartenzäune und bedienten sich.
Willi Wagner, Malermeister, Vater dreier Kinder, baumlang, füllig und mit regelmäßiger Verdauung, konnte sich vor allem auf seine innere Uhr verlassen.
Durch ein Astloch im Holzzaun beobachtete ich ihn genau. Sommers wie winters saß er mittags auf jener hölzernen Brille, die dem Stoffwechsel diente. Die Tür mit dem ausgesägten Herzen stand offen. Nur so konnte er seine langen Beine mit den herabgelassenen Hosen bequem ausstrecken. Täglich Punkt zwölf war es vollbracht. Mit voll tönendem Bass rief er: „Erna, Papier!“ Und schon kam seine Frau mit zu DIN-A-4 zerrissenem Zeitungspapier aus dem Haus getrabt, übergab ihm das bedruckte Klopapier und trabte zurück.
Willi Wagner las zunächst in aller Ruhe, was Journalisten ihm mitzuteilen hatten. Nahm ein Artikel mehrere Papierstücke ein, hielt er Fetzen an Fetzen. Und da er stets mehr von dem wissen wollte, was in der Welt geschah, rief er ein zweites Mal nach Frau und Lesestoff. Erna ging danach in ihren Garten und begann je nach Jahreszeit zu ernten, zu hacken, zu harken oder zu jäten. Willi ließ sich Zeit. Erst, wenn es von der nahen Kirchturmuhr einmal schlug, putzte er seinen haarigen Hintern ab, ging zu Erna und ließ sie achselzuckend wissen, er hätte ja gern im Garten geholfen, aber die Kunden würden schon auf ihn warten.
Als Halbwüchsiger half ich Erna gern im Garten. Ihr Malermeister verdiente gutes Geld und ich bekam für meine Hilfe von Erna einen Stundenlohn von zwanzig Pfennig. Das war damals viel Geld, das ich sommers in Eis und Bonbons und winters ausschließlich in Bonbons umsetzte, die ich selbst nicht mochte und daher großzügig verteilte. Selbstverständlich war ich deswegen ein begehrter Spielpartner.
Im Garten meiner Eltern zu helfen aber war Ehrenamt, Pflicht und oft Strafarbeit. Kam ich zu spät vom Spielen nach Hause, verurteilten mich meine Eltern zu mindestens einer Stunde Gartenarbeit. Und das stets zu Zeiten, in denen Nachbarskinder am Gartenzaun spielten.
Meine Pubertät brachte naturgemäß die absolute Unlust auf Gartenarbeit mit sich. Doch meine Eltern zwangen mich.
Später als Erwachsener mied ich bei der Wohnungssuche Reihenhäuser mit Gärten. Meine Liebe zu Pflanzen gilt heute eher Topfpflanzen in Zimmern und Wildkräutern in freier Natur. Gartenbesitzern bei der Arbeit zuzusehen, bereitet mir teuflisches Vergnügen, Schrebergärtner verachte ich und Sonnenblumen mag ich nur, wenn sie mich über Zäune aus Gärten anlächeln, die mir nicht gehören. Nach dem Essen auf meiner Toilette – mit Wasserspülung und Gerüche absaugendem Ventilator, versteht sich – aber denke ich oft an Malermeister Willi Wagner, der sich für Weltgeschehen und nicht für Gartenarbeit entschied. Und wenn dann meine Frau mit Hausarbeit (einen Garten haben wir ja nicht) auf mich wartet, beschäftige ich mich Zeitung lesend mit dem, was die Welt bewegt, und – bevor ich mir den Hintern abwische, mit Weisheiten, die auf unserem dreilagigen, mit geflügelten Worten bedruckten Toilettenpapier stehen.
Und gestern entdeckte ich den Spruch: Im Garten Eden, dem Garten der Gärten, war Arbeit unbekannt.
 



 
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