Larissa ist dreizehn

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caspAr

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Larissa ist dreizehn


Am Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertages habe ich Fernsehen geschaut, eine Reportage über zwei Kinder in den Strassen von Berlin. Ich lag in meinem Wohnzimmer auf dem Sofa und glotzte in diese doofe Fernsehkiste, über Nacht war Schnee auf die Fenster gefallen, so dicht, dass nur mattes blaues Licht in meine kleine Dachwohnung drang und es gegen Nachmittag stockdunkel um mich herum wurde. Der Himmel hatte still einen weißen und kalten Kokon um mich gelegt, und ich ruhte ihn ihm. Jahresendzeitstimmung lag in der Luft, und in letzter Zeit scheute ich immer mehr den Kontakt meiner Mitmenschen. Zwischenmenschlich glitt mir vieles aus den Händen, finanziell war ich am Ende, und den Grossteil meiner weiblichen Bekanntschaften hatte ich auf Eis gelegt. Sex langweilte mich zu Tode, die Peripherie des Fickens war nur noch nervtötend und verlogen, selbst die Pornos hatte ich über; gelegentlich onanierte ich zwar noch, doch auch hier verließ mich immer mehr die Lust. So sehr ich mich auch bemühte, es viel mir nichts Antörnendes mehr ein, in mir fehlte jegliche Regung - ich glaube, ich hatte mich entgültig am Fleisch überfressen. Eigentlich nichts spektakuläres, Randerscheinungen des Überflusses wahrscheinlich, doch die Geburt Christi vor zweitausend Jahren und die damit verbundenen alljährlichen Feierlichkeiten gaben dies allem einen unangenehmen, ja fast asozialen Beigeschmack. Ich versuchte irgendwie cool zu bleiben, mich abzuschotten von all dem und mir nicht allzu viel Gedanken darüber zu machen. Gras hatte ich genug auf Vorrat gekauft, Nahrungsmittel und Getränke waren auch ausreichend und vielfältig vorhanden; wenn alles gut lief, musste ich bis Neujahr keinen Fuß mehr vor die Tür setzen. Die letzten Tage waren anstrengend und verwirrend gewesen.
Den Heiligabend hatte ich mit meiner Schwester und ihrem Freund verbracht; einem farblosen Typen mit Bauchansatz und Diplom in der Tasche. Auf dem Weg zur Kirche versuchte ich, mich angestrengt an seinen Namen zu erinnern, doch es gelang mir nicht. Die Luft war feucht und schneidend, und auf der Straße spiegelten sich die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos. In der kleinen Kapelle, wo vor dem Altar die Dekoration des Krippenspieles zu sehen war, fanden wir in einer der vorderen Reihen Platz. Die untersetzte Pastorin war erkältet und ihre Stimme dadurch stark in Mitleidenschaft gezogen. Während des Gottesdienstes starrte ich lange auf einen liebevoll geschmückten Tannenbaum, der nicht weit von mir entfernt stand. Ich konnte den schweren Geruch seiner dunkelgrünen Nadeln wahrnehmen und versuchte, mich an das Gefühl zu erinnern, welches man als Kind zu Weihnachten empfindet. Ich glaube, ich vermisse es sehr, Dinge zum ersten Mal in meinem Leben kennen zu lernen. Die Stimmen der Leute um mich herum untermalten meine Erinnerungen; leise sang die Gemeinde ?Stille Nacht?, in diesem Moment empfand ich tiefe spirituelle Entgültigkeit und musste mich zusammenreißen, nicht loszuheulen. Nach dem Gottesdienst traten wir gemeinsam hinaus in eine sternenklare und schneidend kalte Nacht, und, während meine Schwester und ihr Freund auf dem Rückweg die Tannenbäume in den Fenstern zählten, hing ich meinen eigenen Gedanken hinterher und summte mir eine bekannte und traurige Melodie.
Zum Abendbrot gab es Wiener Würstchen und kalten Kartoffelsalat. Es herrschte eine unheimliche Stille in der Wohnung, und während wir aßen, sprach niemand von uns ein Wort. Gelegentlich räusperte sich zwar jemand, und meine Schwester füllte die Gläser nach, doch ansonsten herrschte komplette Funkstille. Irgendwann war dieser Teil auch erledigt, und während meine Schwester abräumte und den Abwasch erledigte, verschlug es mich mit einem Bier bewaffnet in das Wohnzimmer, in dem ich die Gelegenheit wahrnahm, mit dem Typen meiner Schwester ein paar Worte zu wechseln. Nach einigem verbalen Schlingern einigten wir uns schließlich auf ein gemeinsames Thema. Das Baby im Bauch meiner Schwester, von ihm da rein gemacht, macht uns beide zu Verwandten. Wir unterhielten uns über Vaterschaftsängste und weiteres Zeug, und man spürte die Erleichterung im Raum, nicht mehr über all zu Intimes reden zu müssen. Ich nehme an, dass eine ehrliche und interessierte Annäherungen für viele Menschen eine unüberwindbare Hürde darstellt, für mich ebenfalls, wenn ich einmal so richtig darüber nachdenke. Ich beneidete den Freund meiner Schwester irgendwann lautstark um das Glück und die Freuden, welche mit einem Kind verbunden sind; im Grunde hatten wir uns nicht viel zu sagen. Man trennt sich früh an diesem Abend.
Nachdem ich mich verabschiedet hatte, lief ich noch lange ziellos und allein durch die mit Eis bestreuten Parks der Stadt, um, gegen morgen, gedankenverloren die Tür des Hauses, in dem ich lebe, aufzusperren. Oben in meiner Wohnung legte ich mich auf das Sofa und knipste den Fernseher an. Eine Reportage flimmerte über die Mattscheibe, eine von Tausenden, eigentlich belanglos, und doch unterschied sie sich. Für eine kurze Zeit kam ich aus der Hüfte und habe mich an den Rechner gesetzt, habe einen Text über das Gesehene geschrieben und mich danach etwas aufgeräumter gefühlt. Larissa ist dreizehn, so habe ich ihn genannt.

Dass Weinachten vorbei ist, erkennt Luke unter anderem daran, dass die erleuchtenden Tannebäume in den Wohnungen der Häuser verschwunden sind und dass die Leute nicht mehr total durchgedreht durch die Einkaufspassagen jagen, murmelnd und mit den Augen rollend, fast so, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her. Luke hat ein bleiches und pickliges Gesicht, fettige, blonde Haare und eine weiße Alpha über dem schmächtigen Oberkörper. Er zerkaut sich gerade die Unterlippe - Luke wartet seit einer halben Stunde an einem Stromkasten auf dem ?Plakatieren verboten? steht. Er wartet, wie jeden Tag; auf Larissa, mehrmals, meist eine halbe Stunde. Larissa ist dreizehn und die Freundin von Luke. Luke ist in etwa genauso alt, obwohl er jünger aussieht. Luke hieß früher Andreas und Larissa Mandy. Aber diese Namen haben sie abgelegt, nahezu vergessen möchte man meinen, Andreas und Mandy hätten nicht gepasst, nicht hierher - zu schwach wären sie für dies alles gewesen. Der richtige Luke, der aus den Filmen, der sieht spitze aus und ist tapfer und edelmütig. Er ist Yediritter und kämpft gegen die Macht eines fiesen Imperators und so. Er fickt außerdem eine brünette Prinzessin, und hat ein Laserschwert und kann mit Raumschiffen durch die Weiten des Kosmos fliegen. Luke, der von der Straße, früher Andreas genannt, ist vor einem halben Jahr von zu Hause abgehauen und hat alles zurückgelassen. Es gab keinen anderen Ausweg. Die Schläge und Tritte seines Alten taten weh und ließen die Haut aufplatzen, doch den Schmerz am Körper hatte er ertragen. Wenn seinem Alten dem Sinn danach stand, ihn zu vermöbeln, besaß Andreas streckenweise die Gabe sich auszuklinken, sich abzukapseln vom Geschehen. Dann prügelte der Vater einen stummen Körper und schlug die Hände in ein schlafendes Gesicht; Andreas floh sich derweil in Erinnerungen. Er dachte an Schokoladenkuchen und Indianerfilme im Kino, er träumte, auf den Baum im Park zu klettern, dem Baum, der so viele Herzen in der Rinde hat. Sehnsucht nach Märchenwelten, kindliche Natürlichkeit. Ja, dem Schmerz am Körper hatte er standgehalten, lange und geduldig, er kannte nichts anderes, doch so richtig mürbe gemacht, hatte ihn der Kontrast. Die Küsse und Umarmungen, wenn mal Besuch da war, die heuchlerische und gespielte Harmonie; diese gefährliche Ruhe vor dem Sturm. Irgendwann war die Zeit für Andreas entgültig reif, er musste verloren gehen, so schnell wie möglich und für immer. Und von da an ist es Luke, und der blickt bisweilen in den Nächten, durch die Fenster in die Wohnungen der Leute dieser Stadt. Er kann dann dem Kern von allem sehen, dem Wesen, wie es wegdämmert und vom Tag ins Traumlose sinkt. Millionen von Leben auf engem Raum, und jeder ist sich selbst ein Einzelgänger. Er befindet sich mitten unter ihnen, und es gibt keine Hoffnung, zu entkommen.
Heiligabend ist Luke in ein leer stehendes Haus eingebrochen und hat in einem der verlassen Zimmer Kerzen angezündet. Er hat Pappkartons auf dem Boden ausgebreitet und mit zwei Schlafsäcken eine kleine Kuschelecke eingerichtet, er hat zwei zerknitterte Poster von Eminem mit Reiszwecken an die feuchte Wand befestigt und Teelichter in der Mitte des Raumes aufgestellt. Nachdem er Larissa auf der Straße von dem Zimmer in dem Haus erzählte, putze sie sich lange mit einem großen und fleckigen Herrentaschentuch die Nase und wischte sich ein paar kleine Tränen vom Gesicht, dann fiel sie Luke um den Hals und küsste ihn vorsichtig auf den Mund. Luke hat seinen Arm um sie gelegt, und sie sind zu dem Haus gegangen, Luke hat Larissa die Mauer zum ersten Stock hinaufgezogen, da die Türen und Fenster, bis auf wenige Ausnahmen, vermauert waren. Später, in ihrer Weihnachtshöhle, so hatte Larissa den eigens für sie ausstaffierten Raum liebevoll genannt, haben sie sich beide, umringt von Teelichtern, fest und vorsichtig aneinandergeschmiegt. Sie blickten zusammen in das zuckende Licht der Kerzen, und als es allmählich kälter wurde und die Kerzen verloschen, hat Larissa zu Luke gesagt, dass sie ihn heute vermisst hat und dass sie ihn liebt, weil er sie niemals, niemals ficken würde. Und Luke starrte in die Dunkelheit und konnte nichts sagen. Er küsste verlegen ihren Hals, streichelte scheu ihre Wange.
Wenn Larissa minderjährig und auf Abklatsch in die Autos steigt, um sich für zehn Euro Schwänze von kranken Yuppies in den Mund zu stopfen, dann hat Luke Angst um sie, denn dann weiß er, dass er nichts mehr für sie tun kann. Aber jetzt, jetzt, liegt sie neben ihm, und er kann ihren Körper an seinem spüren. Er kann fühlen, wie ihre Brust sich hebt und senkt, er kann hören, wie ihr Atem die Kälte der Nacht vertreibt. Larissa ist dreizehn und geht auf den Strich und ihre Himmel sind schwarz und leer. In den Zeitungen steht, wie man Reste des Festes geschickt verpackt, auch, dass Tiere keinen Waden haben, und ich für meinen Teil finde Dagmar von Kram ziemlich heiß.
 

Andrea

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7 von 10 Punkten

Gut geschrieben, zweifellos, aber dieses Konzept mit der Geschichte in der Geschichte überzeugt mich nicht richtig. Dieser Übergang " Für eine kurze Zeit kam ich aus der Hüfte und habe mich an den Rechner gesetzt, habe einen Text über das Gesehene geschrieben und mich danach etwas aufgeräumter gefühlt." wirkt sehr künstlich, fast plump, und ist so ziemlich das schwächste am ganzen Text, kurz vor dem Schlußsatz. Auch hier, wenn du zurückspringst, kommt das reichlich grob - außerdem stimmt das Tempus nicht mehr; müßte im Perfekt bzw. Präteritum stehen.
Also wenn dein Herz daran liegt, beide Geschichten miteinander verknüpft zu lassen, solltest du an genau diesen Stellen noch einmal ansetzen.

Ansonsten hätte ich vielleicht noch zwei Punkte anzuführen: Hast du mal überlegt, den ersten Teil auch im Präsens zu schreiben? Ich weiß nicht so genau, aber als ich's testweise "im Kopf" im Präsens gelesen habe, kam es auch ganz gut.
Und wenn ich eine Stelle im zweiten Teil etwas ungeschickt finde, dann "Larissa ist dreizehn und die Freundin von Luke. Luke ist in etwa genauso alt, obwohl er jünger aussieht." Du hast vorher so schön die Beschreibung vermittelt, daß es hier zu plakativ wirkt. Gerade weil du es vorher so gut gelöst hast.

Fazit: der Text bereitet mir bei der Bewertung Probleme. Sprachlich sicher 8 oder 9 von 10, inhaltlich der erste Teil etwas schwächer, der zweite um so stärker. Aber sie passen bei mir irgendwie nicht zusammen. Ich einige mich also mit etwas Bauchgrimmen auf 7 Punkte.
 



 
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