Lauf!

3,50 Stern(e) 2 Bewertungen
Vorsichtig laufe ich auf die Kurve zu. Behutsam setze ich Fuß vor Fuß, dabei aber darauf achtend, nicht an Tempo zu verlieren. Vom Regen feuchte Blätter bilden einen schmierigen, weichen Untergrund und verwehren mir den Blick auf Bodenunebenheiten. Jetzt bloß nicht ausrutschen! Nicht hinfallen!

Die Schritte meiner Verfolger klingen lauter in meinen Ohren als noch vor wenigen Minuten. Kommen sie näher? Werden sie mich überholen? Ich riskiere einen hastigen Blick über die Schulter. Sehe drei, vielleicht vier Läufer hinter mir. “Ganz ruhig! Keine Panik jetzt!” sage ich zu mir und richte meinen Blick auf den Waldweg, der sich in sanften Kurven durch den kahlen Laubwald schlängelt.

Mein Mund ist spaltweit geöffnet, kalter Wind füllt meine Lungen wie das Innere einer Kühltruhe. Durch wiederholtes Schlucken versuche ich, den stärker werdenden Hustenreiz zu unterdrücken. Meine Beine trommeln im Stakkato des Laufs. Jetzt, nach der Hälfte der Strecke, schmerzt jede Faser meines Körpers. Wie oft habe ich gehasst, was ich tue? Die Nervosität vor dem Start, die ich niemals loswerde und die mir jedes Mal bis in die Tiefe meiner Eingeweide fährt. Die Hektik zu Beginn, den Kampf um eine gute Position im Getümmel der Läufer. Die Schwierigkeit, in kürzester Zeit von Null auf Hundert kommen zu müssen. Die Euphorie der Anfangsminuten, die zunehmenden Schmerzen in jedem Körperteil weichen wird. Warum tue ich mir das an? Warum betreibe ich diese Sportart, die mir immer wieder Schmerzen bereitet, die aber wie eine Droge auf mich wirkt, von der ich nicht loskommen kann. Warum spiele ich nicht Schach? Meinen Kopf mit den Armen abgestützt, gemütlich am Kamin sitzend, würde ich abwechselnd dem Spiel der Flammen zusehen und meinen Gegner beobachten, dem nicht nur von der Hitze des Kaminofens der Kopf raucht.

“Los, gib alles! Den kriegst Du!”.
Der Ruf eines Zuschauers reißt mich aus meinen Gedanken. Weiter, immer weiter! Vor mir türmt sich die lange Steigung auf, die auf ihren letzten, endlos erscheinenden hundert Metern ihren höchsten Steigungsgrad erreichen wird und vor der ich mich schon am Start beim Studium des Streckenprofils gefürchtet hatte. Augenblicklich wird mir die Schwere meiner Beine bewusst, als ob Beton sie ausfüllen würde. Ich senke den Kopf, sehe auf den vor mir liegenden Weg, auf dem die Blätter der Laubbäume grauem, fest gepresstem Splitt gewichen sind. Jetzt gilt es, der Strecke Meter um Meter abzuringen. Meine Oberschenkel bewegen sich schwerfällig auf und ab wie Kuppelstangen einer immer langsamer werdenden Dampflok. Im quälend langsamen Bergauflauf spüre ich die Kälte des Winters, die meinen Oberkörper wie ein feuchtes, kaltes Tuch umwickelt. Ich widerstehe dem Drang, stehen zu bleiben und das quälende Spiel zu beenden. Quäle mich weiter die Steigung hoch, jetzt schnaufend wie ein Rückepferd am Ende eines langen Arbeitstages. Nur der Wille treibt mich an. Jetzt nicht nachgeben, beißen! Gib noch mal alles! Gleich ist es geschafft.

Ich keuche, spüre, wie mein Herz im Brustkorb pocht. Blicke auf meine Pulsuhr: Einhundertfünfundsiebzig Schläge, jetzt fast einhundertachtzig. Im Vorbeilaufen sehe ich das am Rande der Strecke aufgestellte Schild mit der Kilometerzahl “9”. Ein Kilometer noch. Ein läppischer Kilometer! Gott sei Dank!

Als ich die Ziellinie überquere, gilt mein erster Blick der Stoppuhr: 40:25! Eine Bombenzeit! Achtzehn Sekunden schneller als im Vorjahr! Und das, ohne viel trainiert zu haben. Ich gehe ein paar Schritte, um den Kreislauf zu beruhigen und die Herzfrequenz zu senken. Der Tee, den man mir reicht, läuft heiß die Kehle hinunter und spült das Würgegefühl weg, das sich während des Laufes zunehmend breit gemacht hatte. Die obligatorische, halbe Banane -der Lohn des Läufers- pappt im Mund wie geronnenes Pflanzenfett in einer kalten Friteuse. Ich mache Dehnübungen, laufe ein paar Schritte und schaue den Läufern zu, die mit vor Anstrengung verzerrten Gesichtern die Ziellinie überqueren.

Ich atme die kalte Winterluft ein und bemerke zum ersten Mal an diesem Tag, dass erste Sonnenstrahlen das Grau des Wintertages durchbrochen haben. Wische den nachlaufenden Schweiß mit einem Handtuch ab, ziehe mir meine warme, kuschelweiche Fleecejacke an. Genieße die angenehme Wärme, die meinen Körper durchströmt. Freue mich, die Strecke hinter mich gebracht zu haben.

Auf dem Weg zu meinem Auto höre ich die Worte des Streckensprechers aus dem Lautsprecher hallen: “Schön, dass ihr heute alle gekommen seid. Ich wünsche euch einen guten Rutsch und ein erfolgreiches, neues Laufjahr. Wir sehen uns dann wieder zum Silvesterlauf in genau einem Jahr.”

“Da bin ich wieder dabei, ganz sicher!” murmele ich vor mich hin und muss grinsen.
Schach spielen kann ich immer noch! Später, irgendwann einmal…
 



 
Oben Unten