Lauf und davon

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Illy

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Ich muss mein rechtes Auge aufmachen. Die Wimpern sind verklebt. Scheiß Wimperntusche. Hingreifen darf ich auch nicht, weil sonst alles verwischt ist. Ok, jetzt sehe ich wieder was. Warum habe ich mich nicht abgeschminkt, bevor ich schlafen gegangen bin? Das war unverantwortlich, da können die Wimpern abbrechen, wie das dann wieder ausschaut! Bin ich überhaupt schlafen gegangen? Warum liege ich auf dem Boden und habe Kopfweh? Und neben mir liegt eine Kokosnuss. Eine ganze. Mich hat doch nicht etwa eine Kokosnuss k.o. geschlagen??? In meinem eigenen Haus! Nun ja, laut Statistik ist es wahrscheinlicher, von einer herunterfallenden Kokosnuss getötet zu werden, als durch einen Haiangriff. Ich dachte immer, Kokosnussunfälle im Haushalt seien davon ausgenommen. Ich sollte meine Kokosnüsse wirklich nicht im oberen Schrank aufbewahren. – OH NEIN! – jetzt erinnere ich mich wieder. Ich erinnere mich an das unerwartete Telefonat, das Zeitlimit, das mir gestellt wurde, die schreckliche Drohung, dass ich zu spät sein werde und was für unaussprechliche Konsequenzen das haben würde. Dass unbeteiligte Personen – möglicherweise ein kleines Kind –… nein, daran darf ich gar nicht denken. Ich muss sofort loslaufen, ich muss zur rechten Zeit dort sein und das Schreckliche verhindern.
Raus aus dem Haus, über die Pflastersteine – da muss man verdammt aufpassen, dass man mit den Stöckelschuhen nicht in den Rillen stecken bleibt. Da wären meine neuen Schuhe aus der diesjährigen Herbstkollektion dahin.
Diese nassen, rutschigen Blätter auf der Straße sind für Motorradfahrer ebenso lebensgefährlich wie für eine Frau, die in Todesangst durch die Gegend rennt.
Auf dem Weg zur U-Bahn kommen mir immer wieder die furchtbaren Bilder ins Gedächtnis: Ein kleines Mädchen sitzt auf dem dunklen Sessel, die Hände unter einer Plane, so dass sie sich nicht wehren kann. Der Raum ist hell beleuchtet … nein … ich muss weiterlaufen … ich darf nicht zu spät kommen! Das würde ich mein Leben lang bereuen.
In der U-Bahn-Station muss ich eine Minute warten – !!!eine Minute!!! Währenddessen könnte sich schon alles entscheiden. Ein Blick auf die Uhr – ich habe noch 5 Minuten Zeit. Das weiß sogar ich in meiner blinden Panik, dass sich das nie ausgehen wird. Aber ich muss es doch noch versuchen, möglicherweise das Letzte, das ich für lange Zeit tun werde.
So, ich bin in der U-Bahn. Jetzt kann ich nichts mehr machen, außer zu beten, dass der Fahrer ordentlich aufs Gas steigt – sofern es so was in der U-Bahn gibt. Weiß ich nicht. Ist mir zurzeit auch ziemlich egal.
Also, wo setze ich mich hin … ah, Moment, mit dem Rock kann ich mich nicht einfach so hinsetzen, da brauche ich eine Vorbereitungszeit, denn sonst sieht man unten rein – oder hinten. Besser ich bleibe stehen. Und ein Bein vor dem anderen, damit mein Knie zur Geltung kommt.
Ich muss mich irgendwo festhalten, sonst fall’ ich um in dieser Pose. Da oben ist noch ein Griff frei. Halt! Habe ich mir gestern die Achseln rasiert? Ich weiß es wirklich nicht mehr. So etwas ist mir noch nie passiert. Es könnte sein, dass ich Stoppeln unter den Armen habe. Soll ich nachschauen? Nein, es sind zu viele Zeugen hier. Dann halte ich mich eben auf der Stange weiter unten an; dort, wo sich alle anhalten und wo sich die Bakterien tummeln wie meine Freundinnen beim Gucci-Ausverkauf – sofern es so was überhaupt gibt. Aber das weiß ich auch nicht. Und außerdem … interessiert es mich nicht in dieser schweren Stunde.
Ich sehe das Mädchen wieder vor mir, mit stummen Augen, während sich die Klingen langsam ihrem Kopf nähern. Sie sieht ihr angsterfülltes Gesicht ein letztes Mal im Spiegel, bevor es dunkel wird.
Du meine Güte, es ist Punkt! Meine Zeit ist um. Ich muss schnell aussteigen und hinauf rennen. Vielleicht haben sie ja noch nicht angefangen, das ist meine allerletzte Hoffnung.
Moment – was hab ich da gesehen? Stopp! Ich muss stehen bleiben und eine ruhige Ecke in dem Getümmel suchen. Oh nein, ich bin erledigt. Mein rechter Zeigefingernagel ist eingerissen! Wie schaut denn das aus??! Was werden die Leute von mir denken? Die schauen eh schon so.
Fast hätte ich mein Problem vergessen. Nun ja, die Katastrophen überschatten einander manchmal. Schnell – die Stufen hinauf (aber in der Mitte der Stufen gehen, damit man mir von unten nicht unter den Rock schauen kann).
Sie glauben, ich bin zu sehr aufs Äußere bedacht? Doch nicht, dass ich eine Tussi bin, nur weil ich in solch einer Situation trotzdem auf mein Aussehen achte? Nun ja, darüber kann man jetzt streiten, aber dafür habe ich leider keine Zeit.
Ich stehe vor meinem Ziel. Das große dunkle Gebäude ist bedrückend still und verheißt unheilvolles. Sei tapfer, das schaffst du schon.
Der Mann im Vorraum ist schwarz gekleidet und nimmt mir den Mantel ab. Durch seine Sonnenbrille kann ich keine Regung in den Augen erkennen. Eine schlimme Vorahnung jagt die andere, ich bin in Angstschweiß gebadet – Gott sei Dank habe ich nicht auf mein Deo vergessen – das wäre logischerweise mein Ende gewesen.
Ich betrete den gleißend hellen Raum und sehe in der Mitte DEN Sessel. Aber … das kann nicht sein! Wie … wie … wie konnte das nur passieren? Der Sessel ist leer, und bevor die Assistentin neben mir auch nur ein Wort sagt, weiß ich: der Sessel ist und war nie für jemanden anderen bestimmt, außer für mich. Ich höre wie aus der Ferne: „Setzen Sie sich“.
Sie, deren Namen ich noch immer nicht weiß, betritt den Raum: „Ich sehe, Sie haben sich schon mit Olga angefreundet, sie wird sich in der nächsten Stunde um Sie kümmern“
Ich sitze also im Sessel und die Strapazen des Tages fallen von mir ab. Mir ist alles gleichgültig, ich bin den Händen von Olga und ihrer Chefin.
Vor mir sehe ich den Spiegel, wie in meiner Vision, nur darin spiegeln sich meine erschöpften Augen und nicht die des Mädchens. Olga nähert sich mit zwei metallenen Klingen und es wird schwarz um mich herum.

Nach einer Stunde verlasse ich das Gebäude. Mit meinen Haaren hätte ich unmöglich weiterleben können – die neue Kurzhaarfrisur steht mir wirklich gut.
 



 
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