Laura kennt die Zukunft

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wiccasaint

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„Bitte sag’s nicht Mama!“ sagt sie zu mir.
Sie ist mir ein Rätsel. Ich versuche schon seit Jahren, sie zu verstehen, doch ich schaffe es nicht. Sie tut seltsame Dinge. Sie verhält sich seltsam. Immer wieder. Und ich komme nicht dahinter, warum. Vielleicht liegt es an mir, daß ich sie nicht verstehe, aber ich glaube, es liegt an ihr. Denn so ist sie. Laura. Laura ist meine Schwester.
„Bitte sag’s nicht Mama!“ sagt sie zu mir.

Ich hatte noch meine Freundin Anne besuchen wollen. Ich wollte nur kurz im Bad meine Haare machen. Sie sind sehr stur und scheinen ihren eigenen Kopf zu haben. Sie tun immer das, was sie wollen, niemals das, was ich will. Eigentlich ist ja der ‘Out-of-Bed-Look’ zur Zeit der letzte Schrei, doch ich will mit dieser Frisur nur herumlaufen, wenn es mich Stunden des Bearbeitens, des Gels hinein schmieren und mit Spray vergiften gekostet hat, und nicht, wenn sich meine Haaren eigensinnig dazu entschlossen haben, unkontrolliert von meinem Kopf abzustehen. Die Badezimmertür war nicht verschlossen und ich öffnete sie. Ich hatte mich gerade mit der Frage beschäftigt, ob meine Haare wirklich ein Eigenleben führen konnten, als ich Laura sah. Wie versteinert stand sie vor dem Spiegel über dem Waschbecken, mit starren Blick glotzte sie ihr eigenes Spiegelbild an. Sie bemerkte nicht einmal, daß ich gekommen war. Sie sah schlecht aus und ich hatte mich gefragt, was sie wohl schon wieder hatte. Ich kenne Laura. Ich war nicht wirklich überrascht. Unterhalb meines Blickwinkels sah ich eine Bewegung. Automatisch wanderte mein Blick dorthin. Erst jetzt hatte ich bemerkt, daß sich unter ihrem linken Arm, der schlaff neben ihrem Körper herab baumelte, eine kleine Pfütze gesammelt hatte. Und es tropfte immerzu etwas von ihrem Arm und machte die Pfütze damit erst zu einer Pfütze. Ich trat einen Schritt auf Laura zu. Nun erkannte ich den roten Farbstoff der Flüssigkeit und ihre etwas dickliche Konsistenz. Dann sah ich auch die Rasierklinge in ihrer rechten Hand, die blutverschmiert und leblos in dem von roten Tropfen übersäten Waschbecken ruhte. Überrascht war ich jedoch immer noch nicht gewesen. Langsam war ich auf sie zugegangen und hatte ihren linken Arm in die Hand genommen. Laura blickte mich plötzlich erschrocken an, als wäre sie erst jetzt in ihren Körper zurückgekehrt. Verschmierte Blutspuren klebten in ihrem Gesicht.
„Jan.“ sagte sie. Sie sprach meinen Namen aus als hätte sie ihn noch niemals zuvor gesagt. Als hätte sie ihn noch nie zuvor gehört. Ich hatte mir ihren Arm angesehen. Sie hatte sich zwei Schnitte zugefügt. Jedoch hatte sie die Klinge nicht am Handgelenk, sondern kurz unterhalb der Armbeuge angesetzt. Verlaufene Spuren ihrer warmen Körperflüssigkeit waren bis zu ihren Fingerspitzen gewandert. Ein langer Weg bis zu ihrem Ziel, dem freien Fall.

Wir sitzen auf dem Badewannenrand und ich verbinde Lauras Arm mit einer Mullbinde. Ich kann es nicht besonders gut und frage mich, ob es nicht auch zwei große Pflaster getan hätten.
Das Blut habe ich vorher schnell vom Kachelboden gewischt, obwohl ich fand, daß sich ein wenig Farbe gut auf dem öden Weiß getan hätte.
„Bitte sag’s nicht Mama!“ sagt sie jetzt zu mir.
„Ich muß es ihr sagen.“
„Wieso?“
„Weil das krank ist.“
Laura schaut mich nicht an. Sie sieht überall hin nur nicht zu mir. Ich bin fertig mit dem Verband. Er sieht recht akzeptabel aus, solange sie nicht ihren Arm bewegt. Sonst verrutscht er wieder. Ich überlege mir, mal einen Erste-Hilfe-Kurs zu machen, mit einer Schwester wie Laura im Haus kann man ihn immer gut gebrauchen. Und für den Führerschein auch.
„Warum tust du soetwas?“ frage ich sie. Ich will es wirklich wissen, denn ich verstehe nicht, weshalb sie immer wieder Dinge tut, die das Leben nur noch komplizierter machen.
„Ich muß es tun.“ sagt sie unsicher. Und dann: „Es ist eine Strafe.“
„Eine Strafe wofür?“
Laura sieht mich immer noch nicht an. Wieso nicht? Sonst hat sie mich auch immer angesehen, doch nun tut sie so, als wäre sie blind. Oder als wäre ich nicht da. Als würde sie mit sich selbst sprechen. Vielleicht wünscht sie sich, mit sich selbst zu sprechen anstatt mit mir.
„Ich habe Träum.“ sagt sie zögerlich.
„Und dafür mußt du dich bestrafen?“
Laura nickt. „Und für meine Gedanken. Sie sind nicht normal. Sie sind schlecht. Vielleicht hört es auf, wenn ich mich bestrafe, wenn ich sie habe.“ Sie klingt so unglücklich. Ihre Augen sind feucht, aber ich mache mir darum keine Gedanken. So ist Laura. Jede Woche eine neue Katastrophe.
„Was sind das für Gedanken und Träume?“
Laura schüttelt den Kopf. Eine dicke Träne läuft über ihre Wange. Wie gebannt starre ich auf sie, bin gespannt, ob sie sich auf dem Weg zum freien Fall verliert oder schließlich vom Kinn hinab tropft wie das Blut von ihrem Arm. Ich werde es nicht mehr erfahren, denn Laura spricht nun doch mit mir.
„Ich bin verliebt.“ sagt sie.
„Das ist doch gut.“ sage ich.
„Ich träume vom Küssen und von Liebe. Machen. Ich denke an Zungen in meinem Mund und an Sex.“
Ich muß etwas grinsen. Typisch für Laura, daß sie das für etwas Schlechtes hält. Sie wird’s schon noch herausfinden.
„Das ist nicht schlimm, Laura. Es ist nicht falsch, du wirst nur...“ Dann unterbricht sie mich.
„Mit dir.“
Ich glaube nicht, was sie sagt. Ich muß mich verhört oder die Zusammenhänge mißverstanden haben. Das kann sie nicht gesagt haben. Das kann sie nicht gemeint haben.
„Gedanken an deine Zunge und deinen Penis.“ fügt sie noch hinzu. Extra für mich, als hätte sie meine Gedanken gehört.
„Hast du nicht.“ kann ich nur sagen. Mehr fällt mir nicht ein. Laura nickt jetzt. Sie sieht mich immer noch nicht an. Sie hat ihre Augen geschlossen und ich bin froh darüber. Sie hat rote Wangen bekommen, und zwischen ihren Wimpern pressen sich neue Tränen heraus. Diesmal warte ich nicht das Erreichen ihres Ziels ab. Ich stehe vom Badewannenrand auf.
„Ich werd’s Mama nicht sagen.“ sage ich zu ihr und verlasse das Badezimmer.

Vor einiger Zeit war Laura ziemlich krank geworden. Sie hatte eine Grippe bekommen, hatte über 39°C Fieber und so starke Gliederschmerzen, daß sie Nachts geweint hat. Nach einer Woche ging es ihr wieder besser, doch da hatte es angefangen. Sie hatte plötzlich eine fürchterliche Angst, durch das hohe Fieber möglicherweise einen Herzschaden bekommen zu haben. Sie kaufte sich ein dickes Ärztebuch. Sie laß sehr viel darin. Ich sah sie nur noch selten ohne diesen tausend Seiten Wälzer im Arm. Laura fing an, deswegen ziemlich durchzudrehen. Sie befürchtete mit einmal, alle möglichen Krankheiten zu haben. Muskelzuckungen könnten die ersten Anzeichen für Epilepsie sein. Ihre Neigung zu Blutergüssen und ihr Zahnfleischbluten könnte ein Hinweis auf Leukämie sein. Ihre ständigen Kopfschmerzen waren ein beängstigendes Zeichen für intrazerebrale Hämorrhagie.
Und so weiter.
Laura konnte ihrer Meinung nach praktisch alles haben. Zwei Wochen später war jedoch alles wieder vergessen. Mama hatte sie zum Arzt geschleppt, obwohl sich Laura aus Angst vor der Diagnose lange dagegen gestreubt hatte. Doch als dieser Arzt Laura dann mitteilte, sie sei kerngesund, traf es sie wie ein Schlag. Damit hatte sie nicht gerechnet. Doch schließlich hatte sie es eingesehen. Ihr Ärztebuch hatte sie danach nicht mal mehr mit dem Arsch angesehen.

Anne ist da. Wegen Laura mache ich mir keine Sorgen. Ich kenne sie. Vor zwei Wochen hat sie ihren Arm aufgeschnitten. Zwei Wochen sind lang für Laura. Ich wette, sie hat meinen Penis schon wieder vergessen. Ich warte schon darauf, daß sie mir ihr nächstes Problem offenbart. Aber jetzt ist Laura egal, denn Anne ist da. Anne ist sehr hübsch, ich kann stolz darauf sein, sie als Freundin zu haben. Sie sieht so ganz anders aus als Laura. Laura ist auch hübsch. Aber anders. Ich kann auch stolz sein, Laura als Schwester zu haben. Das könnte ich zumindest, wenn Laura nicht so verrückt wäre.
Anne ist groß, Laura ist klein. Anne ist blond, trägt ihre Haare gerne offen. Sie reichen ihr nur bis zu den Schultern. Schade. Ich mag lange Haare. Laura hat lange dunkelbraune Locken, die sie immer mit einer Spange bändigen muß, damit sie sie wenigstens einigermaßen unter Kontrolle halten kann. Anne ist wirklich hübsch, aber was ich an ihr nicht mag, ist, daß sie ihre schönen blauen Augen ständig mit schwarzer Farbe zukleistert und sie so gräßlich verunstaltet. Sie sollte lieber wie Laura ganz auf Schminke verzichten. Denn Lauras dunklen Augen wirken auch ganz ungeschminkt einfach riesig, untermalt mit den ungetuschten, gigantisch langen Wimpern.
Dafür hat Anne schön schmale Hüften. Das gefällt mir. Lauras Hüften sind etwas breit geraten, aber das macht eigentlich nichts. Das paßt zu Laura. Obwohl sie fast so schlank ist wie Anne. Dafür hat Laura Sommersprossen. Überall. Total hübsch. Anne überschminkt sich ihre wenigen, die sie im Gesicht hat. Irgendwie ist Anne manchmal ganz schön dumm.
„Was ist los?“ fragt Anne mich plötzlich und weicht aus meiner Umarmung zurück. Ja, was ist eigentlich mit mir los? Ich vergleiche meine Freundin mit meiner Schwester. Das kann ich ihr ja wohl schlecht sagen.
„Wieso? Was soll los sein?“ tue ich scheinheilig. Vielleicht meint Anne ja etwas ganz anderes.
„Ich habe das Gefühl, du bist mit den Gedanken ganz woanders.“
Ich fühle mich gefangen. Was soll ich darauf sagen? Ich habe mal gelesen, daß Frauen einen Mann niemals danach fragen sollen, was sie denken. Eigentlich blöd, aber warum kann Anne sich nicht daran halten? Es klopft an der Tür. Gerettet, denke ich. Die Tür geht sofort nach dem Klopfen auf und Laura steht da. Na toll. Ich habe nun die Wahl zwischen der Tarantel und der Klapperschlange.
„Jan, ich muß mal mit dir sprechen.“ sagt Laura dominant. Ihre Augen sagen etwas anderes. Ich blicke zu Anne. Die wartet noch auf meine Antwort. Ich gehe mit Laura mit und schließe die Zimmertür wieder hinter uns. Laura und ich stehen im Flur.
„Warum tust du das?“ fragt sie mich
„Was?“
„Du holst die her!“
„Anne ist meine Freundin.“
„Wo du doch genau weißt...!“
Nun bin ich überrascht. Es geht immer noch darum. Laura beweist eine Ausdauer, die sie bisher noch nie gezeigt hat. Aber muß es denn unbedingt bei mir sein?
„Das wird nicht passieren.“ sage ich zu ihr.
„Ich weiß. Ich kenne meine Zukunft.“ Die Dominanz ist nun aus ihrer Stimme verschwunden.
„Du kennst deine Zukunft?“
„Ja.“ antwortet sie nur. Sie scheint plötzlich in völlig fremden Sphären zu schweben.
„Kennst du auch meine?“
„Vielleicht.“
„Und?“
„Es wird besser.“
„Besser... als?“
„Jetzt“

Meine Blase drückt. Also bewege ich meinen verschlafen Körper aus meinem Bett und mache mich mißgelaunt auf den Weg ins Bad. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, ich habe darauf verzichtet, das Licht anzumachen und auf eine Uhr zu blicken. Ich will meine Augen schonen und verhindert, daß das grelle Licht mich zu sehr wachrüttelt. Aber ich vermute, daß es etwa zwei Uhr nachts ist. Ich komme an Lauras Zimmer vorbei, es liegt direkt neben Geräusche daraus, doch ich kümmere mich nicht weiter darum. Doch nachdem ich meine Blase erleichtert habe komme ich erneut an ihrem Zimmer vorbei, und die Geräusche sind immer noch zu hören. Diesmal bleibe ich stehen und halte mein Ohr an die Tür. Es klingt darin, als hätte Laura Schnupfen. Leise und ohne anzuklopfen öffne ich ihre Zimmertür. Ich will nur sicher gehen, daß es ihr gut geht. In ihrem Zimmer ist es dunkel. Laura liegt in ihrem Bett und sieht aus, als würde sie schlafen. Doch ich habe unrecht. Ihre Augen sind offen und sie weint. Leise nur, und heimlich, aber ihr Schniefen verrät sie. Sie sieht mich an. Ich sehe sie an. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
„Ich will wieder ans Meer.“ flüstert Laura. Ich kann an ihrer Stimmer hören, daß sie tatsächlich weint. Ihre Stimme klingt verschleimt und ungewöhlich tief. So klingt sie immer, wenn sie geweint hat.
„Ich will endlich wieder zurück ans Meer.“ sagt sie erneut.
Ich schaue mich in ihrem Zimmer um. An zwei ihrer Wände hängen Fotos von der Nordsee, die sie selbst gemacht hat. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals an ihrer Wand gesehen zu haben. Aber ich bin auch schon lange nicht mehr in ihrem Zimmer gewesen.
„Bald.“ sage ich zu ihr. Ohne ein weiteres Wort zu sagen laß ich Laura wieder alleine und kehre in mein warmes Bett zurück. Doch schlafen kann ich nun nicht mehr.

Vor meiner Zimmertür liegt ein Brief. Ich hebe ihn auf und gehe damit in mein Zimmer. Als ich ihn öffne habe ich schon eine gewisse Ahnung. Er ist tatsächlich von Laura. Es ist ein Liebesbrief. Er ist gespickt mit schönen Worten und starken Gefühlen. Er ist voller Sehnsucht und wunderschön. Worte wie „Leidenschaft“, „Verlangen“ und „Herzblut“ stehen darin. Doch er ist nicht an mich gerichtet.
„Lieber Philipp“ steht darin. Ich kenne keinen Philipp. Laura muß den Brief vor meiner Tür verloren haben. Warum sonst sollte ich ihn nun in meinen Händen halten? Aber woher kennt sie einen Philipp? Wann ist das passiert? Ich bin erleichtert, daß sie nicht mehr der Meinung ist, in mich verliebt zu sein, aber ich dem Badezimmer. Ich höre seltsame spüre in diesem Moment, daß sich in mir ein Knoten bildet. Was ist das? Ich denke lieber wieder an Laura. Ich habe nicht mehr mitbekommen, daß sie sich schneidet. Entweder sie macht alles selbst sauber und verbindet die Wunden selbst, oder sie tut es einfach nicht mehr. Wahrscheinlich eher das Letztere. Das würde auch diesen Philipp erklären. Laura redet nicht mehr viel mit mir. Das wundert mich schon etwas, doch ich vermute einfach, daß sie beleidigt ist, weil ich nicht auf ihr Problem eingegangen bin. Das habe ich sonst immer getan. Mama und ich haben immer versucht, Laura davon zu überzeugen, daß alles gut ist, daß sie nur übertreibt oder sich etwas einredet. Im Notfall überzeugen wir sie einfach vom Gegenteil. Aber erst gehen wir immer auf sie ein. Wir wollen nicht riskieren, daß es mal etwas Reales ist und wir es einfach übersehen. Doch was hatte ich in diesem Fall tun sollen? Ihr meinen Penis geben?
Wohl kaum.
Also ignoriere ich sie. Und nun ignoriert sie mich. Mir doch egal. Aber wer ist Philipp? Ich spüre den Knoten immer noch. Er wird größer. Bei dem Namen Philipp wird er größer. Das gleiche Gefühl habe ich auch, wenn Anne von ihrem Ex-Freund erzählt. Ist es etwa Eifersucht? Nein, es ist sicher keine Eifersucht, denke ich. Trotzdem lasse ich den Brief in eine meiner Schubladen verschwinden. Wenn sie so blöd ist, ihn vor meiner Zimmertür zu verlieren, dann muß sie halt einen Neuen schreiben.
An Philipp.

Mama, Laura und ich fahren in Urlaub. Nordsee. Wie jedes Jahr im Sommer seit Papa weg ist. Mama hat damals gemeint, man müsse sich auch mal etwas gönnen, wenn einem schon der Kerl wegrennt, und kaufte ein kleines Ferienhäuschen an der Nordsee. Es steht ganz nah am Meer. Ich kann von meinem Zimmer aus das Wasser sehen. Ich sehe es mir gerne an. Genau wie jetzt. Laura steht am Strand, ich kann sie von hier aus erkennen. Schon seit einer Stunde steht sie dort am Strand und blickt auf das Meer hinaus. Es ist ein kalter und verregneter Sommer. Mal wieder. Ich ziehe mir meine Jacke über, als ich mich auf den Weg zu Laura an den Strand mache. Als ich bei ihr ankomme steht sie noch immer da, unbeweglich wie eine Schaufensterpuppe. Ihre Haare sind so zerzaust von dem starken Wind, der am Wasser herrscht, daß sie mir jetzt schon leid tut, wenn sie später versuchen wird, sie zu kämmen.
Laura hat mich noch nicht bemerkt. Sie erinnert mich an den Tag im Badezimmer, da hat sie auch so abwesend gewirkt. Das ist jetzt fast zwei Monate her. Ich frage mich, was sie wohl diesmal hat, und ob es mich überraschen wird.
„Laura.“ sage ich. Ich muß es fast schreien, das Rauschen des Meeres und der kreischende Wind sind lauter als ich gedacht hatte. Sie versuchen, meine Stimme zu verschlucken. Es gelingt ihnen nicht. Laura schaut mich wieder erschrocken an. Genau wie im Bad, als wäre sie erst jetzt wieder zurück in ihren Körper geschlüpft und vorher wie eine Möwe über das Wasser geflogen.
„Jan.“ sagt sie. Diesmal ist es vertrauter und es erleichtert mich.
„Was siehst du?“ frage ich sie und deute auf das Wasser.
„Ich sehe das Leben.“
Ich verstehe nicht, was sie meint. Ich blicke nun auch auf das Wasser. Große Wellen kommen auf uns zu. Sie werden immer kleiner und die letzten Spuren des salzigen Naß enden erschöpft kurz vor unseren Füßen. Aber das Leben sehe ich nicht.
„Wie meinst du das?“ frage ich sie.
„Das ist das Leben. Von jedem. Von mir, von dir, von Mama. Das ist das Leben.“
Ich schüttele den Kopf, doch Laura sieht es nicht. Sie hat schon längst wieder ihren Blick dem Meer zugewendet. Nach einer Pause, als wolle sie ihre Gedanken sammeln, spricht sie weiter.
„Das Meer ist wie das Leben. Wenn du davor stehst und in den Horizont blickst, dann denkst du, es ist unendlich. Doch das ist es nicht. Und auf deinem Weg zum anderen Ufer wirst du mitgerissen von Ebbe und Flut, von großen und kleinen Wellen. Du kannst absolut nichts dagegen tun, denn du bist nur ein kleiner Tropfen. Ein winziger Tropfen in diesen gigantischen Mengen von Tropfen, die zusammen das Meer bilden. Dein einziges Ziel ist es, in diesen Massen von Tropfen nicht unterzugehen. Du darfst es nicht zulassen, dich in die Tief hinunter reißen zu lassen. Und so sehr du es auch versuchst, manchmal passiert es doch.“
Ich bewundere Laura. Sie macht sich über so viele Dinge Gedanken. Ich wünsche mir, ich würde es auch manchmal tun. Laura wendet ihren Blick vom Wasser ab und sieht mich an. Aber diesen Blick kenne ich von ihr noch nicht.
„Tut mir leid wegen der Sache im Bad. Und danach.“ sagt sie. „Ich war so dumm.“
Ist schon gut, denke ich. Aber wieso denke ich das? Sie hat es diesmal wahrlich übertrieben, da ist eine Entschuldigung auch angemessen. Doch statt etwas zu sagen nicke ich. Dann frage ich sie: „Wer ist Philipp?“
Sie lacht ein wenig, doch ihre Augen tun das nicht.
„Philipp.“ sagt sie erst nur. Und dann: „Tut mir leid mit dem Brief. Ich hätte ihn nicht schreiben sollen. Ich war so dumm.“
Warum ist sie nicht überrascht, frage ich mich. Hatte sie den Brief etwa bewußt vor meine Zimmertür gelegt? Vielleicht sogar, um mich Eifersüchtig zu machen? Zum Glück ist ihr das nicht gelungen, denke ich.
Laura redet weiter. „Weißt du, ich habe den Namen nur benutzt, weil ich es nicht ertragen konnte, den richtigen zu verwenden. Ich weiß, das ist albern. Aber so bin ich halt. Es gibt keinen Philipp. Der Brief war für dich.“
Ich bin etwas durcheinander. „Aber jetzt ist es vorbei?“ frage ich sie.
„Ja,“ sagt Laura, „es ist vorbei.“
Ich spüre, daß sie die Wahrheit sagt. Doch Erleichterung spüre ich nicht. Ich starre nun wie sie auf das Wasser. Es fängt an zu regnen, und erst jetzt bemerke ich, daß es dunkel geworden ist. Wie kleine Neonlichter tanzen die dicken Regentropfen im Schein des Mondes auf der nassen Oberfläche. Doch die Schönheit in diesem Spiel der Tropfen erkenne ich nicht. Es sind für mich nur dicke Tränen.
Blödsinn, sag ich mir. Ich bin froh, daß meine Schwester nicht mehr auf mich scharf ist. Das ist doch die einzig logische Reaktion.
„Siehst du.“ sage ich zu ihr. „Hab ich doch gewußt, daß das wieder vergeht.“
Laura nickt langsam. „Ja.“ sagt sie kaum hörbar, dann noch etwas lauter hinterher:
„Du hattest mal wieder recht, kleiner Bruder.“
Ich hasse es, wenn sie das sagt. Dieses eine Jahr. Aber sie tut es immer wieder.
Mir ist kalt. Ich bin klatschnaß, Laura auch.
„Ich gehe jetzt wieder rein.“ rufe ich ihr zu. „Kommst du mit?“
Laura schüttelt den Kopf. „Geh schon vor, ich komme gleich nach.“
Ich laufe zurück zum Haus. Laura ruft mir noch etwas hinterher, es klingt wie:
„Alles ist gut.“ und „Ich liebe dich, Jan.“
Ich drehe mich nicht zu ihr um. Der Regen ist zu kalt. Ich will nicht, daß er mir ins Gesicht peitscht. Ich will bloß so schnell wie möglich zurück ins Haus.
Dort warte ich auf sie. Ich setze mich zu Mama an den Kamin. Ich sitze ganz nah davor und spüre die Hitze der Flammen auf meinem Gesicht. Meine Haut beginnt, davon zu spannen. Aber es fühlt sich gut an. Mama ließt ein Buch. So eines von Joy Fielding. Darin geht es immer um starke Frauen, glaube ich. Laura ist keine starke Frau. Ich hätte jetzt auch gerne ein Buch, aber keines von Joy Fielding. Ich habe schon seit Jahren kein Buch mehr freiwillig in die Hand genommen. Statt dessen nehme ich mir vor, Laura meinen Penis zu geben, wenn sie noch einmal danach fragt. Sie hat es verdient. Und warum eigentlich auch nicht? Was ist schon so schlimm daran? Ich fange an mir zu wünschen, daß sie es sich wieder anders überlegt.
Doch Laura kommt nicht zurück.
Jetzt weiß ich es. Sie hat gelogen. Ich hatte nicht recht. Aber vorbei ist es tatsächlich. Die ganze Nacht frage ich mich, ob Laura untergegangen ist oder ob sie das andere Ufer erreicht hat. Ich wünsche mir für sie, daß sie nicht untergegangen ist.
Am nächsten Tag wird ihr Körper angespült. Ich weine und knie mich neben sie als wir sie finden. Jetzt sieht sie nicht mehr hübsch aus. Ihre Lippen sind ganz blau. Ihr linker Unterarm liegt frei. Er ist ganz dick und verquollen. Aber die tiefen, dünnen Schnitte kann ich noch erkennen. Zugefügt mit einer Rasierklinge. Etwa zwei Dutzend davon.
Lügnerin.
Ihre Augen sind geschlossen. Schade, denke ich. Ich mag ihre Augen so gerne. Jetzt sehe ich sie nie wieder. Ich flüstere ihr ins Ohr, daß ich sie liebe. Dann gehe ich zurück ins Haus, setze mich an das Fenster zum Wasser und schreibe mit meinem Finger auf die beschlagene Scheibe: LAURA KENNT DIE ZUKUNFT
 
R

Rote Socke

Gast
Hallo wiccasaint...

... welch kurioser Avatar. Hat er eine Bedeutung?

Also, ich hab mal die Geschichte gelesen. Das Thema ist brisant und fordert auf zu Lesen. Und ich las. Dann stimme ich auch zu über die Verletzungen. Ja, so machen es leider viele, die tiefe seelische Probleme haben.

Also der Inhalt ist recht ansprechend und Dein Schreibstil nicht übel, so weit ich das beurteilen darf.
Was mir nicht so gefallen hat: Das brisante Thema verliert sich etwas in der Gesamtlänge. Was nicht heißen soll, dass Du kürzen musst. Nein! Aber gerade wegen dem brisanten Thema, könnte der Spannungsbogen mehr forciert werden, um die Dramatik des Ganzen zu erhöhen. Wäre doch auch sinnvoll wegen dem starken Ende.

So etwa in der Mitte war ich auch ein bisschen verwirrt im Text.

Ich hoffe Du verstehst, was ich meine? Deine Story ist gut. Nur in der Mitte dehnt sich der Stoff zu sehr.

Vielleicht kannste ja was anfangen mit meinen Überlegungen.

Schöne Grüße von
Socke
 

wiccasaint

Mitglied
Hey Rote Socke,
danke für Deinen Kommentar. Ich finde es immer sehr hilfreich, mal von femden Leuten zu hören, was sie von meinen Geschichten halten. Also noch mal danke! Ich habe dieses Thema gewählt, weil ich gerne über Dinge schreibe, die ich selbst gerne lesen würde, was nicht heißt, daß es mich selbst betrifft. Also keine Sorge. Wegen der gedehten Länge in der Mitte werde ich mir mal Gedanken machen, vielleicht gewinnt die Geschichte ja tatsächlich etwas an Intensität dadurch.
Liebe Grüße, wiccasaint
 



 
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