Lautlos

3,00 Stern(e) 3 Bewertungen
Lautlos

Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass sie in dem anderen Bett lag. Hin und wieder übertönte sie mit ihrem aufbäumenden Schnaufen seinen Atem. Er hatte sich daran gewöhnt, an das Ringen nach Luft, an ihr Japsen und nun genoss er ihre Anwesenheit. Manchmal blinzelte er zu dem Mädchen herüber und beobachtete sie, wie sie ein Loch in die Wand starrte. Ihre langen braunen Haare fielen glatt über das Kissen. Ihr Gesicht war bleich, wie das weiße Bettlaken unter ihr. Ihre Hände zitterten und ihr ganzer Körper bebte. Sie kämpfte gegen das Zittern ihres Körpers, gegen ihren stoßweise gehenden Atem. Das kleine Mädchen war mit sich selbst so beschäftigt, dass sie ihn nicht wahrnahm. Sie kam vor lauter Angst nicht dazu herüberzusehen. Dabei hatte sie wunderschöne steingraue Augen. Wie seine Hannelore. An dem Tag, als sie starb, erging es ihm genauso wie dem Mädchen. Er lag neben ihr, sah, wie sie sich apathisch auf einen Punkt an der Wand fixierte. Damals merkte Hannelore seine Tränen nicht, die ein salziges Loch in die Decke brannten. Sie merkte nicht sein Zittern, seinen aufgewühlten Körper. Sie war bereits auf ihrem Weg, den jeder alleine zurücklegen muss.
Er konnte das Mädchen verstehen. Sie war genauso machtlos, wie er es bei Hannelore empfand. Aber an diesem Tag, der vielleicht sein letzter sein würde, lag er ruhig in seinem Bett, wie seine Hannelore. Er wartete auf das Licht, am Ende des Ganges.
Seine Hände lagen ruhig auf dem Bettlaken, denn er war bereit, den selben Weg zu gehen. Das Mädchen konnte seine Hände unter der Decke nicht sehen. Vielleicht hätte es ihr etwas gebracht. Vielleicht, würde es ihr helfen, ihre Angst zu verdrängen, ihre Sorgen zu ertränken. Sie sollte ihr Gewissen unter dem Kissen ersticken. Es hatte alles seine Richtigkeit. Er nannte es Schicksal. Menschen kommen, Menschen gehen.

Sie wusste nicht wer er war. Sie hätte ihn auch nicht beschreiben können, weil sie bei der Vorstellung herüberzusehen, Angst verspürte. Selbst wenn sie es gewollt hätte, wäre sie nicht in der Lage gewesen, ihn anzusehen. In jedem Glied saß eine vernichtende Furcht, die sie wie ein Magnet in ihr Bett drückte, als ob Blei durch ihren Körper floss. Sie kam sich so beweglich vor, wie eine Fliege im Spinnennetz, so unbeweglich wie Stahl. Dabei dachte sie, hatte es der alte Mann neben ihr, noch viel schwerer.
Er hatte keine Schmerzen, jedenfalls glaubte sie nicht, dass ein Mensch, der so wie sie, gelähmt in seinem Bett lag, noch irgendetwas spürte. Sie hatte Angst, dass er ihr wegstürbe. Nur sein Atem sagte ihr, dass er noch da war. Manchmal stöhnte sie auf, fragte sich, wann es ein Ende hatte und verdrängte diesen Gedanken dann wieder sofort.

Es war Mittag, als er jemanden zart an der Türe klopfen hörte. Die Krankenschwester mit ihrem weißen Kittel und ihrer unschuldigen Haube auf dem Kopf betrat langsam, fast geisterhaft das Zimmer.
Sie blickte zu dem schlafenden Mädchen. Ihr Körper lag wie ein ruhiges Schiff im stillen Wasser, der gelegentlich durch ihren sanften Atem auf und ab ging.
Sie wendete sich von dem Mädchen ab, ging auf den Mann zu und wischte ihm den Schweiß aus der Stirn. Aus ihrer Tasche holte sie eine Tablettenpackung heraus, öffnete sie und lies es wie Brause in ein Glas Wasser fallen.
Der Mann wollte danach greifen, aber seine Hände hingen wie steif gefroren an dem schneeweißen Laken fest. Sie setzte es ihm an den Mund und er lies es dankbar in sich einfliesen.
Dann blickte sie noch einmal zu dem Mädchen. Sie hatte die Augen immer noch geschlossen. Ebenso leise, wie die Schwester gekommen war, ging sie wieder aus dem Zimmer. Nebenan klopfte sie an die Türe. Genauso sanft. Genauso schmerzlos.

Es war später Nachmittag, als er aus dem Schlaf erwachte. Er blickte zu ihr herüber. Sie hatte die Augen offen, starrte auf einen Punkt an der Wand. Ihre Hände zitterten. Steingraue Tränen drohten ihr aus den Augen zu steigen. Er hätte sie gerne etwas gefragt, ihr etwas über sich erzählt, ihr die Angst genommen. Es gab so viel, was er loswerden wollte, aber was wäre, wenn sie den Boden mit steingrauen Tränen übersähen würde? Sie sollte nicht hier sein. Sie sollte an einem Ort sein, wo Kinder spielten. Ihr Platz müsste leer sein.

Er überlegte sich, wie er sie ansprechen sollte, was er sie fragen könnte, als er neben sich ein lautes Stöhnen vernahm. Es war nicht derselbe vertraute Laut, den er so schön empfand, der Klang, der eine Harmonie zwischen ihnen geschaffen hatte. Er sah zu ihr herüber, suchte ihren Blick, als in dem Moment ihr Kopf zur Seite fiel. Ein warmer Hauch wehte an sein Bett und küsste ihn auf die Wange. Er schien zu sagen: Danke, dass zu hier warst. Ihre Augen blieben offen. Sie hatte wunderschöne steingraue Augen. Bis zum Abend hörte er die Einsamkeit seines monotonen Atems. Sie fehlte ihm.
Er hätte ihr gerne noch etwas gesagt, ihr die Angst genommen vor dem Fall. Es war ein sonniger Sommertag, den man nicht alleine verbringen sollte. Für die Länge eines Herzschlags dachte er, war es gut gewesen, dass er bei ihr gewesen war.
An Tagen wie diesen, heißt es, stürbe man leichter.
 

Rainer

Mitglied
ein gewinn für die ll

hallo herbert stahlvogel,

an deinem text, der mir ansonsten sehr gut gefallen hat, stören mich die manchmal schwammigen bzw. schwierig konstruierten formulierungen.
ein beispiel:
"Er hatte keine Schmerzen, jedenfalls glaubte sie nicht, dass ein Mensch, der so wie sie, gelähmt in seinem Bett lag, noch irgendetwas spürte."

ich glaube den sinn des satzes zu verstehen, aber er ist etwas unglücklich formuliert.

außerdem wird der ort des geschehens für mich nicht greifbar: ein krankenhaus (gemischtgeschlechtliche zimmer?), ein hospitz (auch hier frage ich mich, ob es da zu einer solchen begegnung kommen kann), ...
ich finde, die geschichte, so gut sie auch erzählt ist, würde etwas konkreter hinsichtlich ort und zeit ausgearbeitet viel gewinnen, und könnte mich so noch mehr berühren. mehr als sie es jetzt schon tut.

grüße

rainer
 
Hallo Reiner

Vielen Dank für Deinen Beitrag. Ich fahre heute in Urlaub, daher kann ich auf Deine Kritik noch nicht eingehen. In 2 Wochen bin ich zurück, dann werde ich mir ein paar Stunden Zeit nehmen und auf alle Beiträge, die sich in der Zwischenzeit angesammelt haben antworten.

Viele Grüße
 



 
Oben Unten