Lazarus

Cheunh

Mitglied
Purpur.
Im Stockdunkel erhebt sich ein Kontrast. Schlank. Hoch. Ein Grollen baut zum gequälten Brüllen auf.

An der Küste ist der Nebel aufgezogen. Die umständliche Kraxelei zwischen den Steinen und Felsen wird noch schwieriger. Die Sonne ist im dichten Nebel verschwunden. Urplötzlich pfeift eine eiskalte Böe durch das Labyrinth aus Felsbrocken. Der Nebel scheint immer dichter zu werden. Es ist schon schwierig genug, nicht auszurutschen oder zu stolpern, da ist es fast unmöglich, meinen Vordermann im Auge zu behalten. Doch Lukas hat ebenso Probleme in diesem Geröll wie ich. Nur sein vierbeiniger Freund, Roro, tappst erwartungsvoll hinter ihm her. Nur jenes hecheln und das knirschen und klirren verrutschender Steine und Kiesel unter den Stiefelsohlen sind zu hören. Und mein angestrengter Atem. Ohne Vorwarnung manifestiert sich ein übermächtiger Schatten vor den beiden aus dem Boden. Ich halte erschrocken. Roro fletscht die Zähne. Wir strecken unsere Köpfe in den Nacken. Etwas blitzt am Schatten auf. Roro springt den Schatten an. Mit einer kraftvollen Bewegung sirrt die Luft. Von unten nach oben. Jaulen und röcheln. Der Schatten ist weg. Lukas und Roro sind tot.


Der Schatten scheint den Nebel zu lieben. Diesmal keine Steinformationen, sondern dichter Wald an einem glucksendem Fluss. Zwei Männer in Rüstung. Der Weg ist schmal, sie kämpfen sich hintereinander durch das Gewächs. Wieder versperrt ein mächtiger Schatten den Weg. Ein sausen und der blutüberströmte Körper fällt platschend in den Fluss. Die schwere Uniform saugt ihn auf den Grund des Rhenus.Der andere Legionär sprintet schreiend zurück.

Lazarus, der Rächer ist zurück.


Ein Mord in dem verschlafenem Nest war eine Furore. Und als solche wurde sie gehandhabt. Selbst in der letzten Gasse wurde noch von dem Vorfall getratscht. Selbst der einsame Schäfer sprach darüber mit seinen Schafen auf der Weide. Ich selbst hatte lange unter dem Einfluss des Schocks gestanden. Der Polizei hatte ich den Hergang anders beschrieben, als er sich zugetragen hatte. In dieser Version hatte ich mich außer Sicht- und Hörweite zum Zeitpunkt des Mordes auf dem Wanderweg befunden. Den Mörder hatte ich auch nicht gesehen, nur die leblosen Körper der beiden dann aufgefunden. Über den Mörder verlor ich kein Wort. Im Endeffekt spielte das doch auch keine Rolle, oder? Ob ich nun aussagte, dass ich nichts gesehen hatte oder eine Erscheinung die beiden erstochen hatte änderte ja nichts an der Untersuchung, ich würde wenn überhaupt nur eingewiesen. Ich wusste nicht weiter, konnte es mir nicht erklären und eine Spur des Mörders gab es ja immer noch nicht. Besser erzählte ich gar nichts als von Nebelgespenstern. So hatte ich mir meine Ferien nicht vorgestellt. Definitiv nicht. Zurück auf meinem Zimmer tat ich etwas, dass ich schon lange nicht mehr getan hatte: ich weinte hemmungslos. Ich konnte es nicht aufhalten. Sie würden nie wieder da sein. Für immer verloren. Tot. Einfach so. In Sekunden geschehen. Ich brach zusammen.
In den folgenden Nächten schlief ich schlecht. Doch in der Nacht direkt nach der Erscheinung bekam ich kein Auge zu. Die Angst und Verzweiflung hatten nicht von mir lassen wollen.

Ich blicke gedankenverloren aus dem Fenster. Nun waren es schon zehn Jahre seit der Erscheinung. Nicht genau auf den Tag gezählt, aber ich zähle schon zum neunten Mal den Sommer seitdem. Wie jedes Jahr habe ich Angst vor dem Jahrestag.
Jedes Mal ermahne ich mich aufs neue wissenschaftlich: zehn Jahre. Seit dem mysteriösem Tod meiner beiden Freunde. Nichts ist weiter passiert. Nichts. Ich schwöre. Mir wurde kein Haar gekrümmt, auch denen um mein Umfeld nicht. Dennoch werde ich in manchen Nächten wieder von Angst durchschüttelt. Dann werde ich aber von Natalie geweckt. Meine Frau seit acht Jahren. Ich kenne Sie aber schon seit Ewigkeiten. Schon vor der Erscheinung. Lange vorher.
Ich zähle mein Leben nur noch von der Erscheinung als Fixpunkt. Natalie habe ich fünfundzwanzig Jahre vor der Erscheinung kennengelernt. Meinen Job habe ich drei Monate nach der Erscheinung verloren. Mein Auto habe ich zwei Jahre vor der Erscheinung gekauft. Max wurde anderthalb Jahre nach der Erscheinung geboren. Natalie habe ich fast exakt ein Jahr nach der Erscheinung geheiratet. Je näher das Datum damals heranrückte, desto panischer wurde ich, dass der Jahrestag nicht mit unserem Hochzeitsfest zusammenfiele.
Überhaupt mache ich an dem Datum dieses Tages nichts. Seit Jahren. Mir ist alles egal geworden, doch an diesem Tag im Jahr mache ich nichts. Werde nie etwas machen. Ich will nicht, dass dieser Tag durch einen dummen Zufall zu einem Jahrestag für irgendein Ereignis wird. Ich bin mir nicht sicher, ob Natalie das wirklich versteht. Je näher das Datum rückt, desto öfter streiten wir uns. Nach dem Datum wird es immer plötzlich wieder gut und das Jahr kann erst richtig beginnen. Dann sind wir zufrieden. Dann kann mir nichts mehr geschehen. Manchmal habe ich das Gefühl, als würde ich mich wie ein anderer Mensch verhalten. Aber das stimmt nicht. Ich bin ja noch derselbe.
Max schlurft ins Zimmer. Er tut es mir gleich und schaut aus dem Zimmer. Ich löse meinen Blick und schaue auf ihn herab. Ich nehme ihn in die Arme, küsse seine Stirn und frage nach seinem Tag in der Schule. Er stottert ein gut hervor. Dann ruft Natalie zum Essen.

Jetzt weiß ich, warum ich wieder hergekommen bin. Ich hatte keine Antwort auf die Frage gehabt. Ich kann von hier den Strand sehen, jenen, den ich zuletzt vor exakt zwölf Jahren besucht hatte. Die genaue Stelle ist nicht ersichtlich. Zu viele Felsformationen liegen dazwischen. Aber den Strand sehe ich von hier oben. Das hochthronende Kliff bietet eine ehrerbietende Sicht auf die Gegend.
Lazarus, so habe ich meine Erscheinung getauft. Sie will mich bestrafen, da bin ich mir sicher. Für meine Verfehlung, die ich nie wieder Rückgängig machen werden kann.
Ich trete bis an die Kante. Unten donnert die Brandung gegen den nackten Fels. Die Gischt schießt meterhoch, zersprengt sich an den Felszähnen im Wasser.
Tja. So endet es.

Die Erscheinung wird mich umbringen. Sie wird mir das kostbare Leben nehmen. So absolut wie die Sonne untergehen wird. Doch mein Glück hat sie nicht besiegt. Vielleicht geschmälert. Das Einzige, dass sie mir genommen hat, rede ich mir ein, waren meine einzigen Freunde und der perfekte Zeitpunkt für meinen Antrag. Ich habe mich nach der Erscheinung lange nicht getraut, ihr den Antrag zu stellen. Junge, war ich nervös gewesen.
Ich lächle grimmig. Ich bedauere Natalie. Es wird nicht leicht für sie. Sie hat in ihrem Leben nie gearbeitet. Nie Geld verdient. Das wird eine schwierige Erfahrung für sie. Soviel Geld ist nichtmehr auf meinem Konto. Die Erscheinung treibt mich dafür zu spontan hinab. Die Benachrichtigung wird Natalie schockieren. Doch sie wird es schaffen. Da bin ich mir sicher. Ich trete vor, falle. Schließlich ist sie meine Nichte.


Vollkommen verschreckt ins Lager zustürmen sorgte erst für Erheiterung. Er hatte kaum Meldung machen können, da war jedoch schon die gesamte Kohorte in Aufruhr versetzt. Seine Person galt als kühler Geist und die Legionäre in den einfachen Rängen waren gerne abergläubisch. Wenn er also fahrig von mordenden Waldgeistern sprach, glaubte man ihm das auch. Es dauerte nicht lange und selbst der Legat war vom Geschrei herbeigelockt. Selbst jener hatte beträchtliche Mühe, die Gemüter zu beruhigen. Den ganzen verbliebenden Tag wurde dann nach dem Leichnam gesucht – vergebens. Die Todesstelle war einfach gefunden. Wild zertretenes Gesträuch und überall Blut am Ufer. Sie sollten ihn nie wieder sehen.

Mit den Jahren war er viel herumgekommen, war aufgestiegen, zum Optio. Doch noch nie hatte er so etwas Übermächtigem gegenübergestanden. Noch nie hatte er solch eine Angst verspürt. Aber der mörderische Schatten verfolgte ihn nicht. Was in den germanischen Wäldern geisterte, blieb dort wohl auch. Er hatte zäh Scharmützel und Schlachten überstanden und Straßen für das Imperium gebaut. Zwanzig Jahre noch, dann würde er die vollwertige römische Staatsbürgerschaft in den Händen halten, ein Fünftel der Zeit hatte er schon hinter sich gebracht.
Doch nun gerieten seine Lebenspläne ins Wanken. Oft hatte er an die römische Überlegenheit geglaubt. Er erinnerte sich an seinen ersten Besuch einer römischen Therme. Beheizte Böden. Beheizt. Präziseste Architektur. Unvorstellbares Können. Wenn er da an seine germanischen Stämme gedacht hatten musste, hatte er nur den Kopf schütteln können. Nun war es anders geworden. Das, was da draußen umherzog, konnten selbst die Legionen nicht bezwingen.
Er begann, sein Leben zu überdenken. Was tat er? Warum war er verschont geblieben? Warum ausgerechnet sein Stammesgenosse? Der Arme hatte nur weg aus der Provinz wollen, so wenig von der Heimat als möglich ablegen, er hatte sein Leben gehasst. Und nun trieb er irgendwo im Rhenus, allein Gott wusste wo!
Und nun war er ins grübeln gekommen; er! War es das Wert? Beheizte Böden für eine Kultur des Abgrundes, der Dekadenz? Ja, er hatte oft die Menschen gesehen, wie sie ihr verlottertes Leben fristeten und sich betäubten vor dem Elend. Er hatte die Monumente gesehen, die von einer besseren Vergangenheit zeugten. Nichts war, wie es sein sollte. Ihr aller Leben eine ausgehölte Kultur. Die Menschen praktizierten sie, errichteten Bauten, aber verstanden taten sie sie schon lange nicht mehr. Ihre Kultur war gestorben, doch hatten sie es noch nicht bemerkt. Ein unvorstellbarer Überfluss und Reichtum hatte sie für das Konkrete, das Wichtige verblendet. Dieser Tage dachte er viel über seine Überzeugungen nach. Sein Handeln bestimmte sein Werden. Er wusste die Antwort auf die Frage. Tief in ihm hatte sie gelegen. Er hatte Angst es zuzugeben, keine Frage. Doch er kämpfte mit sich.

Ich hatte Nachtwache zu schieben. Meine Centurie wechselte durch. Jenseits des Scheins der Falken lauerte vollkommene Düsternis. Dahinter die tiefen Wälder. Und jenseits der Wälder die freien Stämme.
Allmählich hatte ich begriffen. Diese Unterlegenheit der Stämme gegenüber der Macht Roms. Diese Verachtung vor der Barbarei der einfach lebenden Siedlungen. Falsch. Wir hatten uns von allem abgewandt. Mein Mitstreiter mehr noch als ich selbst. Der Dämon war ein Zeichen gewesen. Eine Erinnerung. Rom lag im sterben, war lediglich ein Schatten seines selbst. Doch niemand sah es voraus. Einzig ich habe verstehen dürfen. Ich hatte nicht glauben wollen. Ich hatte mich abgewendet und war den einfachen Weg gegangen. Nicht leicht oder unbeschwert, aber einfach. Der Luxus hatte mich eingelullt, mich die wahren Dinge vergessen lassen. Die Länder, die Städte, die Menschen gingen zugrunde. Der Schatten hatte es in mir geweckt. Ich konnte dem Chaos entfliehen. Ich hatte die Angst überwunden. Ich hatte mich selbst überwunden. Ich hatte nicht zugelassen, dass die Angst meinen Geist übernahm. Ich hörte, doch entschied, bevor ich folgte.
Ich musste los, auf das andere Ufer des Flusses und noch weit darüber hinaus. Meine Bestimmung stand fest, schon vor sehr langer Zeit. So ohne weiteres würden sie mich nicht gehen lassen. Es bedarf Mut, sein bekanntes Leben einfach wie einen Mantel von sich zu legen, über sich selbst zu wachsen. Wir sind zu Großem im Stande, die Hürde sind nur wir selbst. Ich schritt den restlichen Weg auf der Via Decumana hinab und als ich vor das Tor, der Porta Decumana, trat und forderte, hinausgelassen zu werden, mit dem Vorwand den Hain hinter den Wällen zu kontrollieren, betrachteten sie mich skeptisch, doch niemand wagte, mir so selbstsicher beharrend, zu widersprechen und niemand traute sich hinaus in die Nacht. So ließ ich ungehindert mein altes Leben hinter mir; viel hatte ich nicht mitgenommen. Tja. So endet das eine und beginnt ein neues.

Vor mir erstreckt sich der Rhenus. Gewaltig. Ich hatte mich schon durch allerlei Dickicht, Sumpf und Gesträuch gekämpft, dort wo andere längst aufgegeben hätten. Nun wartete die große Herausforderung auf mich. Ich nahm einen tiefen Atemzug. Mein neues Leben wartete, dort im Nebel, bei den freien Stämmen, dort, wo der Mensch noch Mensch ist, der im Einklang mit sich und der Welt lebt. Ich werde nicht scheitern. Ich mag nicht wissen, wohin es mich führt. Doch ich werde geleitet. Absolut sicher. Ich kann voll und ganz gelassen sein. Der Weg wird mich finden.


Im dunklen Purpur schwebte der Nebelschatten über schemenhafte Trümmer. Rastlos. Ziellos. Lazarus wartete ungeduldig. Da war kein entrinnen.
Es ertönte ein Schaben und Kratzen von schwerem Stein. Der Schatten hielt inne und hielt nach allen Richtungen Ausschau. Da erstrahlten Bündel und ein heller Schein flutete von oben herab die Schattengestalt in purem Licht. Eine Stimme erhallte und verkündete ihm: "Lazarus, komm heraus!"
Und Lazarus verging.
 



 
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