Le Chaim

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M

mako

Gast
Liebe blaustrümpfin,

schwierig, sich solch einem Thema dichterisch anzunähern. Wie soll man die Gefühle fassen, die der Besuch in Auschwitz oder einem anderen ehemaligen KZ hinterläßt?

Ich finde Dir ist es sehr gut gelungen. Sensibel zeichnest Du hier ein Bild, das gerade durch die fast nüchterne Betrachtung eine tiefe Wirkung bei mir erzielt.

Millionenfacher Holokaust, den wir im einzelnen nicht begreifen können und der vielleicht erst durch diese Berge scheinbar belangloser Habseligkeiten fassbarer für uns wird und ein tiefes Gefühl des Grauens und der Trauer hinterläßt.

Gruß
Mako
 

george

Mitglied
Nicht einmal die Zeit kann diese Wunden heilen. Sie reissen immer wieder auf.

Du hast diesen Zwiespalt, die Zerrissenheit in der Wahrnehmung und erneuten Bewusstwerdung von zigtausendfachem, individuell durch Brille und Zopf sichtbarem Tod und der Leichtigkeit des Seins, des Spielerischen der Jugend sehr gut, ohne jeglichen Pathos dargestellt.

Grüsse
 

Vera-Lena

Mitglied
verhalten

Liebe Blaustrumpf,

eine wunderbar verhaltene Klage!
Wo bleibst Du? Diese Frage, die von noch lebenden Angehörigen täglich bewußt oder unterbewußt gestellt wird.

Aber dann die spielenden Knaben. Dein ganzes Volk haben sie nicht ausrotten können. Das aber nicht als Trost gemeint, -was könnte schon trösten - sondern als nüchterne Feststellung beim Leser Vieles auslösend.

Liebe Grüsse Vera-Lena
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Hallo Blaustrumpf,

ein wirklich schwieriges Thema, das Du da gewählt hast. Denn einerseits liegt die Antwort auf Deine Frage klar auf der Hand: Heilung ist nicht möglich. (Insofern ist also auch das Stellen der Frage u.U. überflüssig. Wahrscheinlich hat Adorno etwa solches gemeint, als er Anfang der Fünfziger sagte, nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben.)
Andererseits würde die schweigende Akeptanz eindeutiger Wahrheiten letztendlich zum Stummsein führen. Also bleibt nur, immer wieder die Fragen zu stellen, deren klare Antworten schon gegeben sind. (Vielleicht war diese Einsicht der Grund für viele, den Worten Adornos vehement zu widersprechen.)

Ich selbst denke, daß viele geschichtliche Ereignisse eine Eigendynamik gewinnen, die sie unempfindlich macht gegen Verdrängung und Vergessen. Das Wort in Deinem Text von der verblassenden Schrift auf den Koffern in den Lagerhäusern ist also möglicherweise kein Gleichnis; vielleicht verblaßt zwar die reale Schrift auf den Koffern, aber die Gedächtnisspur, die das Bild beim Betrachter legte, wird tiefer..? - Ich denke z.B. sehr oft an den Koffer von Kafkas Schwester, das Bild drückt sehr.

Trotzdem: Ein wichtiger Text. Würde ich bewerten, dann Höchstpunktzahl. Eine kleine Anmerkung noch zu dem verwendeten Begriff vom (Schul-)Haus für Mischna und Talmud: "Bejt ha Midrasch" gibt den hebräischen Namen korrekter wieder.

Liebe Grüße

Pen.
 

blaustrumpf

Mitglied
hallo, mako

danke.

blaustrumpf

* * *

hallo, george

es stimmt, niemand kann die wunden heilen. aber es ist eben auch nicht richtig, so zu tun, als seien sie nicht da.

danke, blaustrumpf

* * *

hallo, vera-lena

Elias ist ja nicht nur der schmerzlich vermisste Verwandte. Es heißt, dass der Prophet kurz vor dem Messias wiederkehren wird und dann alle Fragen klären wird, für die unser schwacher Menschenverstand derzeit keine Antwort findet.

Dass die Knaben auf dem Weg zur Shul spielen ist beruhigend - das Leben geht weiter, findet Normalität. Aber das kann auch beunruhigen: Das Spiel lenkt sie ab... Man muss sich entscheiden. Immer wieder.

Schöne Grüße von blaustrumpf

* * *

Penelopeia

Schön, dass du die Verkürzung erkannt hast. Allerdings ist für mich "Beit Tefillah - Beit Midrasch - Beit Knesset" das Dreigespann, das auch in der grammatisch unvollkommenen Fassung eindeutig ist...

Ich glaube, wenn wir uns die Arbeit des Erinnerns und Mahnens sparen, sie die Opfern überlassen, machen wir uns selbst zu Tätern.

Dieser Text hier wollte einfach geschrieben werden. Sein "Bruder" steht im Forum "Fremdsprachiges". Die Übereinstimmung der Bilder ist gewollt.

Herzliche Grüße von blaustrumpf
 
Hallo blaustrümpfin,

ich kann mir vorstellen, dass man so über ein solches Thema schreiben kann. Was will man Besseres sagen? Celan und Nelly Sachs stehen hier als Poeten stets Pate. Schwierig, schwierig, schwierig. Aber denkbar, möglich, vorstellbar.
Ich bin angetan. Die Brüche im Gedicht - Was zwischen den Zeilen herausklingt, ist das Eigentliche. Wer kann schon zwischen den Zeilen so viel sagen? Nach der Frage: Wo bleibst du, Elias? Keine Antowrt, nur eine scheinbar lapidare Aussage.

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Das ist auch (aber nicht nur) ein politisches Gedicht. Wieder stellt sich die Frage wie schon bei Uweboes Arbeiterblues, der natülich auf ganz, ganz andere Weise politisch ist, ob nicht irgendwann die Rubrik "politisches Gedicht" sinnvoll werden könnte. Jedenfalls steht dieses Gedicht fast unverantwortlich unter "Sonstige Poesie". Es müsste unter "Eigentliche Poesie" stehen. Oder?
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
habe

dein werk beim stöbern gefunden. beeindruckend. aber heißt "le chaim" nicht soviel wie "prosit"?
fragend guckt
 

blaustrumpf

Mitglied
Hallo, flammarion

Ja, das heißt es. "Le Chaim" bedeutet allerdings auch "für (oder auf) das Leben".

Trinksprüche sind ein Teil des Abendessens, mit dem die Ankunft der Sabbathbraut gefeiert wird. Und traditionell wird am Tisch gerne ein Platz freigehalten für den Propheten Elias - es heißt, dass er kurz vor dem Messias wiederkehren wird. Und dann wäre es doch schön, wenn er sich gleich dazusetzen kann, nicht wahr?
;-)

Schöne Grüße von blaustrumpf
 

blaustrumpf

Mitglied
Wie ich in der Zwischenzeit aus ungewöhnlich gut unterrichteten Kreisen erfahren habe, wird für den Propheten Elias der Platz an der Sedertafel freigehalten, also im Rahmen des Pessachfestes, und nicht allgemein am Sabbath.
Da ist wohl meine rheinische Gastfreundlichkeit mit mir durchgegangen.

Schöne Grüße von blaustrumpf
 

Arezoo

Mitglied
Liebe Blaustrumpf,

wie einige Leser festgestellt haben: ein schwieriges Thema über das schon viele geschrieben haben.

Trotzdem hast du es geschafft einen wesentlichen Beitrag zur Erinnerung zu leisten.
Die Worte in deinem Gedicht fließen. Sie bedrücken und verunsichern, aber nicht ohne ein Quentchen Hoffnung.
Meine Hochachtung! Was für ein Gedicht!
Ich bin sehr beeindruckt, etwas konfus und eigentlich sprachlos.

Aber und immer wieder, trotz allem: le chaim!

Liebe Grüße,
Arezoo
 



 
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