Leandro

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Tula

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Leandro

Leandro stand an einer der Aussichtsluken des Brückenstands und beäugte die öde Marslandschaft, die sich im Halbdunkel bis an den Horizont erstreckte. Von Titus keine Spur... Dennoch brauchte er sich nicht zu sorgen. Titus würde erst in etwa zwei Stunden zurückkommen und dann vergeblich versuchen, sich auf die übliche Weise Zugang in das Schiff zu verschaffen. Denn Leandro hatte dieses vor Minuten hermetisch verschlossen; es war jetzt unmöglich, von außen irgendeinen seiner Einstiege ohne direkte Mithilfe von innen zu öffnen.

Die Gefahr, die von seinem Gegner ausging, war also gebannt; Leandro war in Sicherheit. Er sann darüber nach, wie lange man es wohl als Android dort draußen in der eisigen Kälte der Marsnacht aushalten könnte. Am Ende, fand er, dürfte das unwesentlich sein; selbst wenn er die ersten Nächte überstehen sollte, Titus war zu seinem Ende verurteilt worden. Und auf dieses konnte Leandro jetzt in aller Ruhe warten. Es bestand kein Zweifel: die Mayflower-II gab ihm alles, was er brauchte, um sich für mehrere Monate am Leben zu erhalten, auch wenn das Schiff ohne Besatzung nicht raumflugfähig war. Das reichte aus, denn das zweite Schiff der Expedition war schon unterwegs. Ohne jenes wäre auch dieser Versuch, endlich eine dauerhafte menschliche Besiedlung auf Mars zu schaffen, bereits gescheitert gewesen. Doch man hatte aus der ersten, tragischen Erfahrung gelernt. Das Schicksal der Ehrgeizigen zieht seltsame Kreise... ging es Leandro durch den Sinn. Für einen Augenblick schweiften die Gedanken in seine Kindheit zurück...

Damals, im Sommer 2037, war er gerade 12 Jahre alt gewesen. Er verfolge wie die gesamte Menschheit die erste Expedition mit einer Besatzung von fünf Astronauten, die während eines Aufenthalts von etwa vier Monaten eine erste Basisstation auf dem roten Planeten errichten sollte. Doch auf der Mission schien ein böser Fluch zu lasten, denn sie wurde von einer technischen Panne nach der anderen heimgesucht. Nach einer Art Bruchlandung kämpfte die Besatzung um die Erhaltung der kritischen Systeme, in erster Linie weil mehrere Solarflügel beschädigt ausgefallen waren und somit weniger als ein Drittel der erwarteten Energie zur Verfügung stand. Dadurch waren die Arbeiten an der Basisstation stark eingeschränkt; dennoch liefen sie, wenn auch mit großen Schwierigkeiten, an. Die technischen Ausfälle häuften sich leider: irgendwann fiel zeitweise die Lufterneuerung im Schiff aus, dann war es die Steuerung der Antennen, schließlich traf es das wichtigste aller Systeme: ein Kurzschluss in der Klimatisierung der Vorratsräume führte zu einem Brand mit erheblichen Schäden, der mit einem Schlag mehr als drei Viertel der Lebensmittel vernichtete. Die Nachricht lief wie eine Schockwelle über die Erde: die Besatzung hatte plötzlich nur noch für drei Wochen Vorräte, viel zu wenig, um erfolgreich eine Rettungsmission zu starten. Alle Varianten wurden damals durchgespielt, die Mindestenergie pro Besatzungsmitglied neu errechnet, ausgeklügelte Überlebensstrategien jedweder Art in Erwägung gezogen... Doch alles umsonst, es fehlten Monate, um die Mannschaft noch retten zu können. Die Katastrophe war unvermeidlich. Über das allerletzte Ende kreisten jahrelang mehrere Theorien; die offizielle bezeugte einen heldenhaften, gemeinschaftlichen Suizid, als sich in der Besatzung die ersten Anzeichen der Verzweiflung und einer durch den Hunger bedingten Aggressivität zwischen den Astronauten einstellten.

Das Schicksal der Mission faszinierte Leandro auf magische Weise für den Rest seines Lebens: er wollte Astronaut werden! Einen typischen Berufsweg gab es nicht dafür, schon gar nicht in seiner chilenischen Heimat. Leandro studierte mehrere Naturwissenschaften und spezialisierte sich danach auf den Gebieten der Raumfahrtmedizin und primitiver Biologie. Er bewarb sich hartnäckig mehrere Male bei bekannten, hauptsächlich chinesischen, Forschungslabors und Unternehmen, bis er schließlich sein Ziel erreichte: seine persönliche Beteiligung an der Mayflower-II Mission, welche von der PAJOSpAg (Pacific Joint Space Agency) und seinen bedeutendsten Mitgliedsländern (China, Japan, USA) mit größter Diskretion über mehr als ein Jahrzehnt vorbereitet wurde. Leandro war einer der allerersten Mitarbeiter; die Einladung für die direkte Teilnahme am Flug kam jedoch völlig unverhofft erst vor drei Jahren.

***

Leandro wurde unvermittelt von der Signalleuchte und der mit ihr verbundenen Sirene aus seinen Gedanken gerissen. Titus war eingetroffen und verlangte Kommunikation mit der Brücke! Das Flackern und schrille Heulen dauerte eine geraume Zeit, um nach einer Pause von mehreren Minuten erneut zu erwachen. Rrruungh, rruungh... der Lärm der Sirene war schlichtweg nervend! Leandro vermutete, dass Titus in der Zwischenzeit um das Schiff gelaufen war, um alle möglichen Luken und Einstiege zu überprüfen. Er schlich sich abwechselnd an die insgesamt vier Aussichtsluken und spähte vergeblich nach draußen. Schließlich gab er nach und stellte den Sprechkanal frei; zum einen konnte er das Notsignalsystem selbst nicht ohne weiteres abschalten, zum anderen quälte ihn die Versuchung, seinem Gegner persönlich die Niederlage zu diktieren:

– Titus, das Schiff wird jetzt von mir kommandiert. Aus Sicherheitsgründen kannst Du nicht wieder an Bord zurück. Tut mir leid.
– Bist Du jetzt total durchgeknallt? dröhnte es durch den Brückenstand. – Ich habe Dir heut' morgen klargemacht, dass wir uns beide gegenseitig brauchen, um durchzuhalten. Alles andere ist jetzt erstmal nebensächlich.
Leandro schwieg; er wusste nur zu gut, dass sich sein Gegner verstellte; dieser kannte alle Systeme an Bord auswendig und wäre in der Lage, sich aus jeder technischen Notsituation selbst herauszuziehen. Titus würde ihn bei der erstbesten Gelegenheit beseitigen; schon den anstehenden Kampf um das „Wer als erster schläft, schläft für immer“ würde Titus gewinnen, schon weil der als HUMSYC (Humanoid Synthetic Form of Life), wie man Androids jetzt vornehmer bezeichnete, eigentlich keinen Schlaf zu seinem Fortbestehen benötigte.

– Leandro! Wir haben jeder für sich allein kaum eine Chance. Das Schiff wurde für eine Besatzung von sechs entworfen, um es auf Dauer zu bedienen und zu warten. Wir hatten schon zu dritt ein Problem, zu zweit wird es schwer genug, allein wirst Du bei der nächsten Havarie irgendeines Versorgungssystems verrecken. Du bist kein Ingenieur, Mann, sondern unser Arzt! Und als solcher bin ich auch auf Dich angewiesen. Begreif das endlich!
Leandro kannte die Argumente. Alle HUMSYCs waren in ihrer Kommunikationsfähigkeit sehr überzeugend; ihre Erfinder hatten nicht vergessen, auf diese typisch menschliche Gabe (und Schwachpunkt früherer Modelle) besonderen Wert zu legen.
– Ich kann lesen, Titus. Handbücher liegen hier genug herum und zum Lesen habe ich jetzt viel Zeit. Du machst mir ohnehin nichts vor. Ich weiß genau, was Du mit mir vorhast.
Titus gab noch nicht auf:
– Was Du Dir da einredest, ist totaler Schwachsinn. Selbst Lu hätte Dir kein Haar gekrümmt; sie war nicht darauf programmiert. Ich will mich auch nicht an Dir rächen; was passiert ist, ist passiert, es war ein Unfall. Als solchen habe ich ihn auch berichtet. Also mach jetzt bitte auf, mein Sauerstoff reicht kaum für...

Leandro schaltete den Kanal wieder ab, er wollte nicht weiterhören. Titus' Gelaber war nichts als ein Schwall von Täuschungsversuchen. Was der in seine täglichen Berichte faselte, war ihm unbekannt und als Aufzeichnungen auch nicht zugänglich. Zum einen müsste er dazu irgendwie die Tür zu Titus' Kabine aufbrechen; zum anderen kannte nur Titus den Sicherheitscode für die Logapplikation der Mission.

Überraschenderweise verstummte das Signalsystem nach einem kurzen Augenblick. Titus hatte wohl eingesehen, dass er auf diese Weise seinen Kontrahenten nicht weich bekommen würde. Leandro indessen versuchte, sich abzulenken und bereitete sich für die Nacht vor. Sein Abendbrot nahm er zur gewohnten Stunde; eine tägliche Routine und im Handumdrehen erledigt, denn es bestand aus nicht mehr als einer Pille. In seiner gegenwärtigen Lage wollte sich Leandro gerade darüber nicht beklagen. Man hatte die Pillen schließlich extra für die neue Mission erfunden, um das Risiko eines erneuten Hungerdramas entscheidend zu verringern. Ähnlich wie beim Militär bekamen alle einmal pro Tag eine komprimierte Kalorienbombe, die dann im Verlauf von 24 Stunden langsam vom Körper absorbiert wurde, ohne dass der Mensch in plötzliche Hungergefühle verfiele. Eine langweilige, aber doch geniale Lösung; wenigstens darüber waren sich die drei nie uneinig gewesen.

***

Darauf machte Leandro es sich so gut wie es ging gemütlich. In seiner Kabine jedenfalls wollte er heute nicht schlafen, sondern für den Fall der Fälle auf dem Brückenstand bleiben. Immerhin war es seine erste Nacht als neuer Kommandant. Wieder verfiel er in Erinnerungen an die Ereignisse der letzten zwei Wochen. Schon vom ersten Tag an war er von Titus und Lu nicht als gleichberechtigtes Mitglied der Besatzung behandelt worden. Als sie ihn aus dem Kryo-Schlaf holten, teilten sie ihm mit, dass bei der Landung sowohl die Triebwerke als auch das kryogenische System schwer beschädigt worden waren. Er war der einzige, bei dem wie durch ein Wunder die Temperatur noch nicht den kritischen Schwellwert überschritten hatte. Weniger als eine Minute später und er läge mit den anderen Kadavern im 'Kühlschrank', wie sie es nannten.

Die Mission befand sich deshalb in einer Art Ausnahmezustand; die Aufgabe bestand nicht mehr im Projekt der Basisstation (auch wenn die erste Phase seiner Errichtung eingeleitet wurde), sondern im Überleben bis zum Eintreffen des bereits gestarteten Schwesterschiffs, mit der zweiten Gruppe der Mission, innerhalb von drei Monaten. Titus hatte das Generalkommando inne, Lu war zweiter Offizier und Titus' Vertretung in seiner Abwesenheit, während Leandro in seiner Hauptfunktion als Arzt den anderen beiden unterstellt war. Schließlich bedurfte es bei solch einer kleinen Besatzung auch seiner Hilfe bei allen möglichen Tätigkeiten an Bord.

Vor allem sein Verhältnis zu Lu basierte von Anfang an auf Misstrauen und schlug rasch in offene Feindseligkeit um. Das lag vor allem an Lu: Sie versuchte vom ersten Tag an mit allen Mitteln zu verhindern, dass Leandro Titus irgendwie zu nah kommen könnte, und wenn, dann nur in ihrem Beisein. Hatte sie irgendeine Aufgabe in ihrem Tagesplan zu erfüllen, erteilte sie Leandro sofort eine andere, die ihn zwangsläufig isolieren würde. Waren sie alle drei zusammen, beobachtete sie Leandro bei jedem Atemzug aus ihren Augenwinkeln, unterbrach ihn bei jedem Wort und setzte immer wieder darauf, an der pflichtgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben zu zweifeln.
– Leandro, hatten wir Dich nicht darum gebeten, die Solarenergiespeicher zu warten? Die sind schon wieder auf 35 Prozent runter... Hast Du gemacht? … Ach was, das scheint mir gar nicht so, ich muss Dir die Sache wohl noch einmal vorzeigen... usw. usf.

Ihre Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit; Leandro hasste sie bereits am dritten Tag und stellte ihr seinerseits geschickte 'Fallen', sabotierte ihre Arbeit wo er konnte: zum Beispiel ließ er dann und wann ihren Bosonzähler (als scherzhafte Umschreibung eines auf Quantenmechanik basierenden Werkzeuges, welches bei fast allen Wartungsarbeiten als universelles Prüfgerät verwendet wurde) verschwinden, um sie dann vor Titus höflichst darum zu bitten und in Verlegenheit zu bringen; ein anderes Mal behauptete er steif und fest, er hätte nach ihrem Eingriff die Einstellungen am gravitativen Ausgleichsgenerator wieder korrigieren müssen.

Titus blieb die Fehde schwerlich verborgen; dennoch beließ er es beim morgendlichen Meeting und mit der stetigen Mahnung, dass der kameradschaftliche Zusammenhalt entscheidend für den Erfolg der Mission und das Überleben der Gruppe sei. Vielleicht, dachte sich Leandro, hätte er mit einem strengeren Vorgehen Lu gegenüber ihr tragisches Ende verhindern können. Dann hätte sie sich vor zwei Tagen unter Umständen nicht so furchtbar aufgespielt. Sie 'befahl' Leandro, einen der Akkus, welche außerhalb des Schiffs direkt an den Solarflügeln montiert waren, in die Warteluke zu hieven. Das wäre laut Tagesplan eigentlich ihre Sache gewesen! Nach seiner ersten Verweigerung und einem heftigen Streit zwischen den beiden kam Leandro auf eine bessere Idee und gab vorerst nach, demontierte den Akku und lud den selbigen auf den kontronischen Levitator.

Langsam schwenkte er den Akku in die Luke.
– Zeig' mir genau wo das Ding hin soll... rief Leandro, als ob er die erwartete Position nicht genau kennen würde.
– Weiter in die Mitte nach rechts, nach rechts, Du Idiot... hallte es aus der Luke zurück. Viel Platz gab es dort nicht; der innere Ausgang zum Schiff befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Ladeluke. Es fiel Leandro nicht schwer, Lu diesen Weg zu versperren und sie genau zwischen den Akku und die Wand zu locken. Mit einem plötzlichen Manöver schwenkte er den Arm des Levitators und drückte Lu unerwartet mit dem Akku gegen einen der Träger in der Bordwand.
– Zurück na reecch... kreischte sie noch einmal vergeblich, dann verstummte sie für immer...

Leandro zögerte noch einen kurzen Moment und erwägte die nächsten Schritte, bevor er endlich über den Bordsprechfunk seinen Kommandanten rief. Dieser stürzte heran und verharrte verwirrt vor dem Akku und dem hinter ihm leblos hervorhängenden Arm. Titus' nächste Reaktion war überraschend beherrscht; er bediente selbst den Levitator, um Lu freizugeben, und zog ihren Leichnam hervor.
– Ich habe nur strikt ihren Anweisungen gefolgt... entschuldigte sich Leandro. – Augenscheinlich hat sie rechts mit links verwechselt, ich konnte doch nicht ahnen...

Titus erwähnte kein Wort, blickte nur kurz vorwurfsvoll auf Leandro und dann wieder auf Lu, als wäre er irgendwie verlegen. Dann begriff Leandro: aus Lu's zerquetschtem Leib drängte sich ein Knäul von synthetischen Geweben und Bauteilen, die nichts mit einem menschlichen Körper zu tun hatten. Vor ihnen lagen die Reste eines HUMSYC, ein Android, Spitzenprodukt künstlicher Intelligenz, ein biotronischer Schrotthaufen.

– Du wusstest, dass Lu...?
Titus erwiderte noch immer nichts. Er schien nach Antworten zu suchen, genauso wie Leandro: warum hatte man in so eine kleine Besatzung einen HUMSYC eingeschleust? Darin bestand kein offenbarer Vorteil. Und warum hatte ihn Titus nicht eingeweiht? Es war unwahrscheinlich, dass er von Lu's Natur keine Kenntnis hatte... Aus der Tiefe seiner Verwirrung stieg eine dunkle Ahnung auf: Wenn Titus nichts wusste, dann war der selbst ein HUMSYC! Oder andersherum: Wenn er es wusste und Leandro dennoch nicht davon unterrichtete, dann war Titus es ebenfalls! Lu's feindselige Haltung Leandro gegenüber erschien nun weniger merkwürdig, wahrscheinlich versuchten beide, Ihn unter Kontrolle zu halten. Die Fehlfunktion im kryogenischen System bei der Landung war dann mit höchster Wahrscheinlichkeit kein Unfall gewesen, sondern kaltblütiger Mord an der menschlichen Besatzung, welcher man den fünfmonatigen Flug zum Mars aus verschiedenen Gründen erspart hatte. Doch wozu brauchten die beiden Ihn? Zu welchem besonderen Zweck war er bestimmt?

***

Als der Schlaf langsam aber stetig in ihn zu kriechen schien, schreckte Leandro unversehens auf. Ein merkwürdiges Geräusch hatte für einen kurzen Augenblick das monotone Summen aus den Schaltschränken übertönt. Leandro horchte gespannt. Mehrere Sekunden... Stille... Da wieder! Ein metallenes Ächzen, wie ein im Sonnenwind kämpfendes Schiff, doch nur in kurzen Intervallen. Sicherlich war es Titus, der versuchte, auf irgendeine Weise an Bord zu gelangen und sich gewaltsam an einer der Luken zu schaffen machte. Nach kurzer Überlegung beruhigte sich Leandro wieder: die Mayflower war für den Raumflug gebaut worden. Selbst mit einer Ladung herkömmlichen Sprengstoffs könnte man die Luken nicht ohne weiteres aufreißen; jeder Versuch, sie mit speziellen Werkzeugen aufzubohren oder zu schneiden war mehr oder weniger aussichtslos. Das Material war härter und widerstandsfähiger als Diamant. Leandro schaltete die Beleuchtung fast vollkommen aus und lief erneut von einer der Aussichtsluken zur anderen, um dort umsonst in die Dunkelheit zu starren; dann horchte er mit aller Anstrengung mehrere Minuten lang. Das Geräusch kehrte nicht wieder zurück...

Was würde Titus mit ihm anstellen, wenn er doch ins Schiff gelänge? Seit jenem verhängnisvollen Tag waren sie sich gegenseitig wie zwei feindlich gesinnte Raubtiere ausgewichen, jeder auf den ersten Fehler des anderen bedacht. Titus hatte ihn noch gebeten, seinen Bosonzähler zu holen, als wolle er noch irgendetwas an Lu herummessen. Als Leandro zurückkehrte, hatte Titus Lu's Überreste bereits entsorgt und ihm ohne eine Erklärung das Werkzeug aus der Hand genommen.
– Sieh' zu, dass der Akku wieder in Ordnung kommt. Über den Rest reden wir später.
Dann verschwand der Kommandant für mehrere Stunden in seiner Kammer. Als er wieder herauskam, machte er einen entschlossenen Eindruck, rief Leandro zu sich und erklärte ihm eindringlich die Tagesplanung zu zweit und dass er absolute Disziplin verlangte, um das endgültige Scheitern der Mission zu verhindern.

Leandro wurde sofort klar, dass Titus nur Zeit schindete und nach einem Plan suchte, ihn zu beseitigen. Als HUMSYC war sich Titus der unberechenbaren Intelligenz des Menschen sicherlich bewusst. Er konnte nicht einfach mit dem Bosonzähler oder irgendeinem anderen Gerät auf Leandro losgehen, der Ausgang dieses Versuchs war nicht vorhersehbar. Die offensichtlichste Variante war die, ihn im Schlaf zu töten. Leandro selbst konnte dafür nicht in Titus' Kabine, die war absolut gesichert, sein Gegner also im Vorteil. Gegen den Schlaf zu kämpfen war aussichtslos; als jener an den letzten beiden Abenden zur gewohnten Zeit unwiderstehlich im Anmarsch war, versteckte sich Leandro in einem der Belüftungsschächte. Glücklicherweise fand ihn Titus dort nicht. Nur als Leandro morgens wieder auf der Brücke erschien, fragte ihn Titus mit einem bedeutungslosen Lächeln, ob er auch gut geschlafen hätte.

In Wirklichkeit beobachte Titus ihn argwöhnisch auf Schritt und Schritt; wartete nur auf den geeigneten Augenblick, seinen Plan der Rache in die Tat umzusetzen. Leandro ließ sich nichts anmerken, grübelte aber verzweifelt, wie er Titus zuvorkommen könnte. Dann beging dieser einen entscheidenden Fehler:
– Leandro, morgen werde ich wieder zur Basisstation fahren, um zu sehen, wie wir dort die Arbeit wieder aufnehmen. Du bleibst vorläufig zur Sicherung des Schiffes auf der Brücke.
Leandro stutzte: es war nicht strikt notwendig, dass jemand auf dem Schiff verbliebe. Wenn Titus allein zur Station wollte, dann doch mit Sicherheit, um sich irgendetwas für ihn Wichtiges zu besorgen. Was dies auch immer war, es gehörte zu Titus' dunklen Plänen. Da zündete Leandro der Gedanke: er bräuchte doch nur das Schiff zu verriegeln, so dass Titus... Das war einfacher gesagt als getan: als Kommandant hatte Titus mehrere Geheimcodes, die für das Öffnen der Luken benutzt wurden. Darauf schien sich Titus zu verlassen. Doch man könnte vielleicht irgendwie..., ja natürlich! Man könnte das Sicherheitssystem soweit beschädigen, dass die Luken nur noch von Hand zu bedienen wären. Leandro wusste zuerst noch nicht, wie er dies bewerkstelligen solle, vertraute aber seinen Fähigkeiten und fasste einen Entschluss. Eines hatten sie dem HUMSYC Titus wohl nicht eingelötet: die Einsicht, dass ihm menschliche Intelligenz überlegen war! Wie naiv solch ein Miststück von Android am Ende doch war...

***

Die nächsten Sekunden drosselten Leandro's Gedanken bis zum Stillstand. Er versuchte einen Moment lang zu begreifen, was geschehen war. Er saß wie vorher im nur spärlich erleuchteten Brückenstand und doch... nach einem kurzen Flackern und Klicken war das monotone Summen der Schaltschränke leiser geworden, die Lichter weniger... Leandro schauderte: das Energiesystem hatte sich auf Notversorgung umgeschaltet! Oder war von jemandem umgeschaltet worden... Er konzentrierte sich mit aller Anstrengung: Nein, er hatte den Zugang von außen für alle Luken unmöglich gemacht! Schwer war ihm das am Ende nicht gefallen. Das Bedienungspad war mit demselben Material wie das gesamte Schiff geschützt, d.h. mit einer Platte bekleidet, welche man nur mit einer Art Laserschlüssel öffnen konnte. Einen hatte Leandro selbst und einen persönlichen Code für jede Luke. Einmal geöffnet, hatte er die Bedienungsfelder und deren Sensoreinheiten zertrümmert und sich danach vergewissert, dass jede Luke nur noch mechanisch zu betätigen war. So hatte er eine nach der anderen von innen verschlossen, wie in einer besetzten Festung.

Er grübelte, welche anderen Ursachen für den Zwischenfall verantwortlich sein könnten. Um die Solarbatterien zu überprüfen, müsste er das Schiff verlassen. Ihm dämmerte, dass sie Titus womöglich schon vor Stunden außer Betrieb gesetzt hatte. Waren die Batterien im Schiff unter einen kritischen Wert gesunken, würden sie sich den Strom von den Akkus draußen holen. Leandro fluchte: an diese Einzelheit hatte er in der Tat nicht gedacht! Doch nach einiger Überlegung beruhigte er sich erneut. Die Situation war klar: weiteren Schaden konnte Titus eigentlich nicht anstellen. Leandro war noch immer in Sicherheit; er musste jetzt nur mit dem Notsystem auskommen, einige Tage würde es sicherlich funktionieren. Er war nach wie vor mit allen lebensnotwendigen Dingen ausgestattet.

***

– Meinst Du wirklich, ich hätte nicht vorgesorgt und mir einen Eingang offen gehalten?
Leandro fuhr herum. Wenige Meter vor ihm nahm er im Halbdunkel einen Schatten wahr. Titus! Leandro starrte auf die Gestalt und das Werkzeug in seiner rechten Hand. Die Kontrolllämpchen ließen wenig Zweifel: Titus war nicht zu Späßen aufgelegt. Der Laserschneider war eins der wichtigsten Werkzeuge für den Aufbau der Basisstation, bis zu einer Entfernung von zwanzig Metern aber auch eine absolut tödliche Waffe.
– Wie bist Du … ? Hör zu, Titus. Wie Du selbst sagst, wir brauchen uns gegenseitig. Ich hatte einfach nur Angst, es war ein Fehler. Das ist doch menschlich! Tut mir wirklich leid, kommt kein zweites Mal vor... Und wenn Du mich jetzt einfach so kaltmachst, musst Du Dir immer noch eine gute Ausrede einfallen lassen. Du weißt, in wenigen Wochen trifft das Schwesterschiff ein. Als biotronischer Racheengel lassen die Dich nicht so ohne Weiteres am Leben... äh, ich meine eingeschaltet.

Titus lachte kurz auf.
– Weißt DU mein Freund, dass es gar kein Schwesterschiff gibt? Und dass ich auch ganz ohne Dich wieder nach Hause komme? Schau' doch jetzt ganz einfach mal kurz auf Deinen Bauch!
Leandro senkte den Kopf. In einer Zehntelsekunde spielte er alle möglichen Auswegvarianten durch, dann holte er einmal tief Atem, spannte seinen Körper wie eine Feder und setzte zum Sprung an...
Der kam zu spät: schon im nächsten Augenblick sah Leando sein letztes Bild, als ihn ein blauer Strahl jäh in zwei Teile trennte...

***

Kurze Zeit später saß Titus an der Logeingabe:
04-08-2043: Drittes Model „Leandro“ ebenfalls deaktiviert; Experimente somit abgeschlossen. Bestätigung der ersten Ergebnisse: durchschnittliche Intelligenz, dennoch irrationales Vorgehen in Stresssituationen. Stark ausgeprägte Empathiestörung und paranoide Persönlichkeit, misstrauisch, leidet an Verschwörungswahn. Schon nach wenigen Tagen stellen sich extrem aggressive Verhaltungsmuster ein, für den Rest der Besatzung lebensbedrohlich.
Resultat: Negativ; für weitere Einsätze mit dem Menschen vollkommen untauglich.


Titus schaltete die Logeingabe wieder aus und seufzte erleichtert. Der letzte und schönste Abschnitt der Mission konnte endlich beginnen: die Rückkehr zur Erde. Er würde jetzt mit einer letzten Eingabe im System den Startprozess einleiten und brauchte dann nicht weiter einzugreifen, unvorhergesehene Zwischenfälle ausgeschlossen. Der Bordcomputer würde sich den optimalen Zeitpunkt zum Abhebemanöver selbst errechnen und es dann ohne menschliche Hilfe ausführen. Das Bordsystem würde den Flug so lange kontrollieren, bis die Zeit für die direkte Kommunikation mit der Zentrale auf der Erde auf etwa zwei Minuten abgesunken war; danach würde jene die Steuerung übernehmen.

Titus überlegte: die Reise wäre auf einer Seite angenehm, auf der anderen aber auch etwas langweilig. Ein Lu-Modell war noch verfügbar, es müsste nur mit dem richtigen Programm („Mission vorzeitig abgebrochen – Aufenthalt auf dem Mars hat nie stattgefunden“) aus dem vorgetäuschten Kryo-Schlaf geholt werden. Die neue Lu würde sicher nicht weiter gefährlich werden, dachte er sich. Doch sie wäre genauso gefühlsarm und zum Teil neurotisch veranlagt wie ihre Vorgängerinnen und das mechanische Abspulen ihrer eingespeicherten Erinnerungen wollte er nicht ein drittes Mal über sich ergehen lassen. Und überhaupt hatte er es satt, seine Mahlzeiten heimlich und versteckt in seiner Kabine zu sich zu nehmen, gewöhnlich eine gute Stunde nachdem die vermeintlichen Ernährungsersatzpillen seine künstlichen Gefährten für etwa acht Stunden in ihren 'Schlafzustand' versetzt hatten. Nein! - Auf der Rückreise würde er jeden Tag auf dem Brückenstand speisen, und wenn ihm danach war, mit einem Buch in der Hand und mit den Füßen auf der Konsole...

Noch eine weitere Entscheidung wollte er Vor dem Abflug fällen. Sie war schnell und einfach in die Tat umzusetzen und eigentlich hatte er sie ja schon auf der Erde getroffen: denn seinen Lieblings-Château hatte er sich eigens für den Tag des Heimflugs bestellt. Wildbraten würde doch recht gut dazu passen...
 

jon

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Würdest du mal bitte noch der wörtlichen Rede eine sinnvolle Form geben? (Die Aufzählungsanstriche sind – sorry! – Unsinn.)
Und wenn du schonmal dabei bist: Das Wort "du" wird klein geschrieben. (Nur in Briefen ist es groß erlaubt.) Und Klammern sind in erzählenden Texten hochgradig unpassend.
 

jon

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Teammitglied
Die Geschichte enthält einen grundlegenden Fehler: Für so ein Experiment (die Androiden werden getestet) würde man ganz, ganz sicher nicht tatsächlich auf den Mars fliegen. Tipp: Entweder einen Hinweis darauf, dass auch Titus sich täuscht (das fände ich aber zu viel) oder Titus verlässt am Ende einfach das Riesen-Labor und geht ins nächste Restaurant.

Detail-Anmerkungen gern, nachdem du den Text überarbeitet (wörtliche Rede, "du" und die wie ausgewürfelt wirkende Leerzeilen-Verteilung) hast.
 

Tula

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Hallo Jon
Ok was die Herausstellung der Anrede angeht. Ich kenne die von mir verwendete von Buechern, sehe aber ein, dass dieses Format hier aus visuellen Gruenden das Lesen erschwert.

Was den grundlegenden Fehler angeht: ich dachte selbst, dass es zwar so etwas wie "field test" gibt (unter realen Bedingungen). Nicht normal ist, dass erst in dieser Phase Produktfehlerp dieser Tragweite erkannt werden. Ich denke nochmal ueber eine bessere Variante nach. Die des Labors bleibt eine.

Die Zeilenumbrueche: diese Erzaehlung ist etwas laenger als andere, wollte aber keine Kapitel verwenden. Mir ging es bei den *** um den Bruch zwischen den laufenden Gedanken und Erinnerungen (benutzt um die Ereignisse der letzten Tage zu schildern) und dem Zurueck in die gegenwaertige Szene. - Vielleicht hast Du auch dahingehend einen Vorschlag.

Meine Durchsicht kommt also heute Nacht oder morgen.


Sorry fuer die fehlenden Umlaute. Mein Handy hat keine

LG
Tula
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Gedanken zur Grundidee "Test": Ich habe es so verstanden, dass die Funktionstüchtigkeit der Androiden getestet wird. Dazu müsste man nur auf den Mars, wenn Mars-Spezifisches eine Rolle spielt – man also schauen will, ob sie mit der leicht anderen Schwerkraft klarkommen (was ich mir aber nicht als Problem vorstellen kann) oder mit dem "Wetter" (inkl. Strahlung) dort. Dazu müsste sie aber auch dem "Wetter" ausgesetzt werden. Vor allem aber: Wenn es ein Test ist, müssen die Organisatoren auch mit einem Scheitern rechnen (nicht zwangsweise so, wie es sich dann ergibt, aber ein Scheitern eben) und für den Fall müsste es einen Notfallplan geben, der sich nicht auf "der einzige Mensch - so er überhaupt überlebt - fliegt zurück nach Hause".

Zu den Leerzeilen: Du machst ganz normale Absätze mal mit und mal ohne Leerzeile - das wirkt unaufgeräumt. Immer mit oder immer ohne! (Bei "immer mit" kannst du Einzüge verwenden - schau mal oben links nach den vB-Codes")

Zu den Sternchen: Das funktioniert so nicht immer.
Wenn der Rückblick in Leandros "Jugend" abgetrennt werden soll (was wahrscheinlich gar nicht nötig ist) müsste auch davor das Zeichen stehen.
Die Sternchen vor "Darauf machte Leandro es sich so gut wie es ging gemütlich." passen gar nicht - davor ist kein echter Rückblick und das "danach", das eigentlich an etwas anschließen sollte, wird von dieser Anschlussstelle abgeschnitten.
Die Sternchen nach der Akku-Szene trennen etwas ab, was eigentlich durch den Text (die Gedanken nach der Erinnerung an die Szene) überleitend wirkt.
"Die nächsten Sekunden" baumelt lose am Anfang dieses "Kapitels" rum.
Die Inhaltslücke vor Titus' Erscheinen, die die Sternchen andeuten, gibt es gar nicht.
Wo es wirklich einen Bruch gibt, ist nach Leandros Tod. DA kann das mit den Sternchen stehen (am besten nur da, denn das ist DER Pointen-vorbereitende Bruch der Story); allerdings wüde ich das Kapitel nicht mit "Kurze Zeit später saß Titus" überleiten, sondern direkt mit "Logeingabe 04-08-2043: Drittes Model …" quasi neu ansetzen.


Hilft das?
 

Tula

Mitglied
Hallo Jon

Aber sicher doch! Vielen Dank erstmal fuer die Muehe!

Guter Hinweis was die Mars-spezifischen Tests angeht, die hier einen unerwarteten Verlauf genommen haben, d.h. koennte ich in der Tat dahingehend umbauen, um die Glaubwuerdigkeit der Story zu erhoehen.

LG
Tula
 

Tula

Mitglied
Leandro

Leandro stand an einer der Aussichtsluken des Brückenstands und beäugte die öde Marslandschaft, die sich im Halbdunkel bis an den Horizont erstreckte. Von Titus keine Spur... Dennoch brauchte er sich nicht zu sorgen. Titus würde erst in etwa zwei Stunden zurückkommen und dann vergeblich versuchen, sich auf die übliche Weise Zugang in das Schiff zu verschaffen. Denn Leandro hatte dieses vor Minuten hermetisch verschlossen; es war jetzt unmöglich, von außen irgendeinen seiner Einstiege ohne direkte Mithilfe von innen zu öffnen.

Die Gefahr, die von seinem Gegner ausging, war also gebannt; Leandro war in Sicherheit. Er sann darüber nach, wie lange man es wohl als Android dort draußen in der eisigen Kälte der Marsnacht aushalten könnte. Am Ende, fand er, dürfte das unwesentlich sein; selbst wenn er die ersten Nächte überstehen sollte, Titus war zu seinem Ende verurteilt worden. Und auf dieses konnte Leandro jetzt in aller Ruhe warten. Es bestand kein Zweifel: die Mayflower-II gab ihm alles, was er brauchte, um sich für mehrere Monate am Leben zu erhalten, auch wenn das Schiff ohne Besatzung nicht raumflugfähig war. Das reichte aus, denn das zweite Schiff der Expedition war schon unterwegs. Ohne jenes wäre auch dieser Versuch, endlich eine dauerhafte menschliche Besiedlung auf Mars zu schaffen, bereits gescheitert gewesen. Doch man hatte aus der ersten, tragischen Erfahrung gelernt. Das Schicksal der Ehrgeizigen zieht seltsame Kreise... ging es Leandro durch den Sinn. Für einen Augenblick schweiften die Gedanken in seine Kindheit zurück...

Damals, im Sommer 2047, war er gerade 12 Jahre alt gewesen. Er verfolge wie die gesamte Menschheit die erste Expedition mit einer Besatzung von fünf Astronauten, die während eines Aufenthalts von etwa vier Monaten eine erste Basisstation auf dem roten Planeten errichten sollte. Doch auf der Mission schien ein böser Fluch zu lasten, denn sie wurde von einer technischen Panne nach der anderen heimgesucht. Nach einer Art Bruchlandung kämpfte die Besatzung um die Erhaltung der kritischen Systeme, in erster Linie weil mehrere Solarflügel beschädigt ausgefallen waren und somit weniger als ein Drittel der erwarteten Energie zur Verfügung stand. Dadurch waren die Arbeiten an der Basisstation stark eingeschränkt; dennoch liefen sie, wenn auch mit großen Schwierigkeiten, an. Die technischen Ausfälle häuften sich leider: irgendwann fiel zeitweise die Lufterneuerung im Schiff aus, dann war es die Steuerung der Antennen, schließlich traf es das wichtigste aller Systeme: ein Kurzschluss in der Klimatisierung der Vorratsräume führte zu einem Brand mit erheblichen Schäden, der mit einem Schlag mehr als drei Viertel der Lebensmittel vernichtete. Die Nachricht lief wie eine Schockwelle über die Erde: die Besatzung hatte plötzlich nur noch für drei Wochen Vorräte, viel zu wenig, um erfolgreich eine Rettungsmission zu starten. Alle Varianten wurden damals durchgespielt, die Mindestenergie pro Besatzungsmitglied neu errechnet, ausgeklügelte Überlebensstrategien jedweder Art in Erwägung gezogen... Doch alles umsonst, es fehlten Monate, um die Mannschaft noch retten zu können. Die Katastrophe war unvermeidlich. Über das allerletzte Ende kreisten jahrelang mehrere Theorien; die offizielle bezeugte einen heldenhaften, gemeinschaftlichen Suizid, als sich in der Besatzung die ersten Anzeichen der Verzweiflung und einer durch den Hunger bedingten Aggressivität zwischen den Astronauten einstellten.
Das Schicksal der Mission faszinierte Leandro auf magische Weise für den Rest seines Lebens: er wollte Astronaut werden! Einen typischen Berufsweg gab es nicht dafür, schon gar nicht in seiner chilenischen Heimat. Leandro studierte mehrere Naturwissenschaften und spezialisierte sich danach auf den Gebieten der Raumfahrtmedizin und primitiver Biologie. Er bewarb sich hartnäckig mehrere Male bei bekannten, hauptsächlich chinesischen, Forschungslabors und Unternehmen, bis er schließlich sein Ziel erreichte: seine persönliche Beteiligung an der Mayflower-II Mission, welche von der PAJOSpAg (Pacific Joint Space Agency) und seinen bedeutendsten Mitgliedsländern (China, Japan, USA) mit größter Diskretion über mehr als ein Jahrzehnt vorbereitet wurde. Leandro war einer der allerersten Mitarbeiter; die Einladung für die direkte Teilnahme am Flug kam jedoch völlig unverhofft erst vor drei Jahren.

Leandro wurde unvermittelt von der Signalleuchte und der mit ihr verbundenen Sirene aus seinen Gedanken gerissen. Titus war eingetroffen und verlangte Kommunikation mit der Brücke! Das Flackern und schrille Heulen dauerte eine geraume Zeit, um nach einer Pause von mehreren Minuten erneut zu erwachen. Rrruungh, rruungh... der Lärm der Sirene war schlichtweg nervend! Leandro vermutete, dass Titus in der Zwischenzeit um das Schiff gelaufen war, um alle möglichen Luken und Einstiege zu überprüfen. Er schlich sich abwechselnd an die insgesamt vier Aussichtsluken und spähte vergeblich nach draußen. Schließlich gab er nach und stellte den Sprechkanal frei; zum einen konnte er das Notsignalsystem selbst nicht ohne weiteres abschalten, zum anderen quälte ihn die Versuchung, seinem Gegner persönlich die Niederlage zu diktieren:
„Titus, das Schiff wird jetzt von mir kommandiert. Aus Sicherheitsgründen kannst Du nicht wieder an Bord zurück. Tut mir leid.“
„Bist Du jetzt total durchgeknallt?“ dröhnte es durch den Brückenstand. „Ich habe Dir heut' morgen klargemacht, dass wir uns beide gegenseitig brauchen, um durchzuhalten. Alles andere ist jetzt erstmal nebensächlich.“
Leandro schwieg; er wusste nur zu gut, dass sich sein Gegner verstellte; dieser kannte alle Systeme an Bord auswendig und wäre in der Lage, sich aus jeder technischen Notsituation selbst herauszuziehen. Titus würde ihn bei der erstbesten Gelegenheit beseitigen; schon den anstehenden Kampf um das - Wer als erster schläft, schläft für immer... - würde Titus gewinnen, schon weil der als HUMSYC (Humanoid Synthetic Form of Life), wie man Androids jetzt vornehmer bezeichnete, eigentlich keinen Schlaf zu seinem Fortbestehen benötigte.
„Leandro! Wir haben jeder für sich allein kaum eine Chance. Das Schiff wurde für eine Besatzung von sechs entworfen, um es auf Dauer zu bedienen und zu warten. Wir hatten schon zu dritt ein Problem, zu zweit wird es schwer genug, allein wirst Du bei der nächsten Havarie irgendeines Versorgungssystems verrecken. Du bist kein Ingenieur, Mann, sondern unser Arzt! Und als solcher bin ich auch auf Dich angewiesen. Begreif das endlich!“
Leandro kannte diese Argumente seit seinem ersten Tag an Bord. Beeindruckt hatten sie ihn noch nie. „Ich kann lesen, Titus. Handbücher finde ich genug im System und zum Lesen habe ich jetzt viel Zeit. Du machst mir ohnehin nichts vor. Ich weiß genau, was Du mit mir vorhast.“
Titus gab noch nicht auf: „Was Du Dir da einredest, ist totaler Schwachsinn. Selbst Lu hätte Dir kein Haar gekrümmt; sie war nicht darauf programmiert. Ich will mich auch nicht an Dir rächen; was passiert ist, ist passiert, es war ein Unfall. Als solchen habe ich ihn auch berichtet. Also mach jetzt bitte auf, mein Sauerstoff reicht kaum für...“

Leandro schaltete den Kanal wieder ab, er wollte nicht weiterhören. Titus' Gelaber war nichts als ein Schwall von Täuschungsversuchen. Was der in seine täglichen Berichte faselte, war ihm unbekannt und als Aufzeichnungen auch nicht zugänglich. Zum einen müsste er dazu irgendwie die Tür zu Titus' Kabine aufbrechen; zum anderen kannte nur Titus den Sicherheitscode für die Logapplikation der Mission.
Überraschenderweise verstummte das Signalsystem nach einem kurzen Augenblick. Titus hatte wohl eingesehen, dass er auf diese Weise seinen Kontrahenten nicht weich bekommen würde. Leandro indessen versuchte, sich abzulenken und bereitete sich für die Nacht vor. Sein Abendbrot nahm er zur gewohnten Stunde; eine tägliche Routine und im Handumdrehen erledigt, denn es bestand aus nicht mehr als einer Pille. In seiner gegenwärtigen Lage wollte sich Leandro gerade darüber nicht beklagen. Man hatte die Pillen schließlich extra für die neue Mission erfunden, um das Risiko eines erneuten Hungerdramas entscheidend zu verringern. Ähnlich wie beim Militär bekamen alle einmal pro Tag eine komprimierte Kalorienbombe, die dann im Verlauf von 24 Stunden langsam vom Körper absorbiert wurde, ohne dass der Mensch in plötzliche Hungergefühle verfiele. Eine langweilige, aber doch geniale Lösung; wenigstens darüber waren sich die drei nie uneinig gewesen.

Darauf machte Leandro es sich so gut wie es ging gemütlich. In seiner Kabine jedenfalls wollte er heute nicht schlafen, sondern für den Fall der Fälle auf dem Brückenstand bleiben. Immerhin war es seine erste Nacht als neuer Kommandant. Wieder verfiel er in Erinnerungen an die Ereignisse der letzten zwei Wochen. Schon vom ersten Tag an war er von Titus und Lu nicht als gleichberechtigtes Mitglied der Besatzung behandelt worden. Als sie ihn aus dem Kryo-Schlaf holten, teilten sie ihm mit, dass bei der Landung sowohl die Triebwerke als auch das kryogenische System schwer beschädigt worden waren. Er war der einzige, bei dem wie durch ein Wunder die Temperatur noch nicht den kritischen Schwellwert überschritten hatte. Weniger als eine Minute später und er läge mit den anderen Kadavern im 'Kühlschrank', wie sie es nannten.
Die Mission befand sich deshalb in einer Art Ausnahmezustand; die Aufgabe bestand nicht mehr nur im Projekt der Basisstation, auch wenn Titus fast jeden Tag einen Teil der im Schiff verstauten Ladung, Kisten jeder Abmessung und Gewichtes, mit dem 'Schlitten', wie er ihn gern nannte, dorthin brachte. Nein, sie bestand nach Titus' täglichen Erläuterungen jetzt hauptsächlich im Überleben bis zum Eintreffen des bereits gestarteten Schwesterschiffs, mit der zweiten Gruppe der Mission, innerhalb von drei Monaten. Titus hatte das Generalkommando inne, Lu war zweiter Offizier und Titus' Vertretung in seiner Abwesenheit, während Leandro in seiner Hauptfunktion als Arzt den anderen beiden unterstellt war. Schließlich bedurfte es bei solch einer kleinen Besatzung auch seiner Hilfe bei allen möglichen Tätigkeiten an Bord.

Vor allem sein Verhältnis zu Lu basierte von Anfang an auf Misstrauen und schlug rasch in offene Feindseligkeit um. Das lag vor allem an Lu: Sie versuchte vom ersten Tag an mit allen Mitteln zu verhindern, dass Leandro Titus irgendwie zu nah kommen könnte, und wenn, dann nur in ihrem Beisein. Hatte sie irgendeine Aufgabe in ihrem Tagesplan zu erfüllen, erteilte sie Leandro sofort eine andere, die ihn zwangsläufig isolieren würde. Waren sie alle drei zusammen, beobachtete sie Leandro bei jedem Atemzug aus ihren Augenwinkeln, unterbrach ihn bei jedem Wort und setzte immer wieder darauf, an der pflichtgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben zu zweifeln. „Leandro, hatten wir Dich nicht darum gebeten, die Solarenergiespeicher zu warten? Die sind schon wieder auf 35 Prozent runter... Hast Du gemacht? … Ach was, das scheint mir gar nicht so, ich muss Dir die Sache wohl noch einmal vorzeigen...“ usw. usf.
Ihre Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit; Leandro hasste sie bereits am dritten Tag und stellte ihr seinerseits geschickte 'Fallen', sabotierte ihre Arbeit wo er konnte: zum Beispiel ließ er dann und wann ihren Bosonzähler (als scherzhafte Umschreibung eines auf Quantenmechanik basierenden Werkzeuges, welches bei fast allen Wartungsarbeiten als universelles Prüfgerät verwendet wurde) verschwinden, um sie dann vor Titus höflichst darum zu bitten und in Verlegenheit zu bringen; ein anderes Mal behauptete er steif und fest, er hätte nach ihrem Eingriff die Einstellungen am gravitativen Ausgleichsgenerator wieder korrigieren müssen.

Titus blieb die Fehde schwerlich verborgen; dennoch beließ er es beim morgendlichen Meeting und mit der stetigen Mahnung, dass der kameradschaftliche Zusammenhalt entscheidend für den Erfolg der Mission und das Überleben der Gruppe sei. Vielleicht, dachte sich Leandro, hätte er mit einem strengeren Vorgehen Lu gegenüber ihr tragisches Ende verhindern können. Dann hätte sie sich vor zwei Tagen unter Umständen nicht so furchtbar aufgespielt. Sie 'befahl' Leandro, einen der Akkus, welche außerhalb des Schiffs direkt an den Solarflügeln montiert waren, in die Warteluke zu hieven. Das wäre laut Tagesplan eigentlich ihre Sache gewesen! Nach seiner ersten Verweigerung und einem heftigen Streit zwischen den beiden kam Leandro auf eine bessere Idee und gab vorerst nach, demontierte den Akku und lud den selbigen auf den kontronischen Levitator.
Langsam schwenkte er den Akku in die Luke. „Zeig' mir genau wo das Ding hin soll...“ rief Leandro, als ob er die erwartete Position nicht genau kennen würde.
„Weiter in die Mitte nach rechts, nach rechts, Du Idiot...“ hallte es aus der Luke zurück. Viel Platz gab es dort nicht; der innere Ausgang zum Schiff befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Ladeluke. Es fiel Leandro nicht schwer, Lu diesen Weg zu versperren und sie genau zwischen den Akku und die Wand zu locken. Mit einem plötzlichen Manöver schwenkte er den Arm des Levitators und drückte Lu unerwartet mit dem Akku gegen einen der Träger in der Bordwand.
„Zurück na reecch...“ kreischte sie noch einmal vergeblich, dann verstummte Lu für immer...
Leandro zögerte noch einen kurzen Moment und erwägte die nächsten Schritte, bevor er endlich über den Bordsprechfunk seinen Kommandanten rief. Dieser stürzte heran und verharrte verwirrt vor dem Akku und dem hinter ihm leblos hervorhängenden Arm. Titus' nächste Reaktion war überraschend beherrscht; er bediente selbst den Levitator, um Lu freizugeben, und zog ihren Leichnam hervor.
„Ich habe nur strikt ihren Anweisungen gefolgt...“ entschuldigte sich Leandro. „Augenscheinlich hat sie rechts mit links verwechselt, ich konnte doch nicht ahnen...“
Titus erwähnte kein Wort, blickte nur kurz vorwurfsvoll auf Leandro und dann wieder auf Lu, als wäre er irgendwie verlegen. Dann begriff Leandro: aus Lu's zerquetschtem Leib drängte sich ein Knäul von synthetischen Geweben und Bauteilen, die nichts mit einem menschlichen Körper zu tun hatten. Vor ihnen lagen die Reste eines HUMSYC, ein Android, biotronischer Schrotthaufen...
Leandro war verwirrt, denn nach seiner Kenntnis waren HUMSYCs relativ primitive und vom Menschen leicht zu unterscheidene künstliche Geschöpfe, willenlose und vor allem wenig intelligente Sklaven.
„Du wusstest, dass Lu...?“ - Titus erwiderte noch immer nichts. Er schien nach Antworten zu suchen, genauso wie Leandro: warum hatte man in so eine kleine Besatzung einen HUMSYC eingeschleust? Darin bestand kein offenbarer Vorteil. Und warum hatte ihn Titus nicht eingeweiht? Es war unwahrscheinlich, dass er von Lu's Natur keine Kenntnis hatte... Aus der Tiefe seiner Verwirrung stieg eine dunkle Ahnung auf: Wenn Titus nichts wusste, dann war der selbst ein HUMSYC! Oder andersherum: Wenn er es wusste und Leandro dennoch nicht davon unterrichtete, dann war Titus es ebenfalls! Lu's feindselige Haltung Leandro gegenüber erschien nun weniger merkwürdig, wahrscheinlich versuchten beide, Ihn unter Kontrolle zu halten. Die Fehlfunktion im kryogenischen System bei der Landung war dann mit höchster Wahrscheinlichkeit kein Unfall gewesen, sondern kaltblütiger Mord an der menschlichen Besatzung, welcher man den fünfmonatigen Flug zum Mars aus verschiedenen Gründen erspart hatte. Doch wozu brauchten die beiden Ihn? Zu welchem besonderen Zweck war er bestimmt?

Als der Schlaf langsam aber stetig in ihn zu kriechen schien, schreckte Leandro unversehens auf. Ein merkwürdiges Geräusch hatte für einen kurzen Augenblick das monotone Summen aus den Schaltschränken übertönt. Leandro horchte gespannt. Mehrere Sekunden... Stille... Da wieder! Ein metallenes Ächzen, wie ein im Sonnenwind kämpfendes Schiff, doch nur in kurzen Intervallen. Sicherlich war es Titus, der versuchte, auf irgendeine Weise an Bord zu gelangen und sich gewaltsam an einer der Luken zu schaffen machte. Nach kurzer Überlegung beruhigte sich Leandro wieder: die Mayflower war für den Raumflug gebaut worden. Selbst mit einer Ladung herkömmlichen Sprengstoffs könnte man die Luken nicht ohne weiteres aufreißen; jeder Versuch, sie mit speziellen Werkzeugen aufzubohren oder zu schneiden war mehr oder weniger aussichtslos. Das Material war härter und widerstandsfähiger als Diamant. Leandro schaltete die Beleuchtung fast vollkommen aus und lief erneut von einer der Aussichtsluken zur anderen, um dort umsonst in die Dunkelheit zu starren; dann horchte er mit aller Anstrengung mehrere Minuten lang. Das Geräusch kehrte nicht wieder zurück...
Was würde Titus mit ihm anstellen, wenn er doch ins Schiff gelänge? Seit jenem verhängnisvollen Tag waren sie sich gegenseitig wie zwei feindlich gesinnte Raubtiere ausgewichen, jeder auf den ersten Fehler des anderen bedacht. Titus hatte ihn noch gebeten, seinen Bosonzähler zu holen, als wolle er noch irgendetwas an Lu herummessen. Als Leandro zurückkehrte, hatte Titus Lu's Überreste bereits entsorgt und ihm ohne eine Erklärung das Werkzeug aus der Hand genommen.
„Sieh' zu, dass der Akku wieder in Ordnung kommt. Über den Rest reden wir später.“ - Dann verschwand der Kommandant für mehrere Stunden in seiner Kammer. Als er wieder herauskam, machte er einen entschlossenen Eindruck, rief Leandro zu sich und erklärte ihm eindringlich die Tagesplanung zu zweit und dass er absolute Disziplin verlangte, um das endgültige Scheitern der Mission zu verhindern.

Leandro wurde sofort klar, dass Titus nur Zeit schindete und nach einem Plan suchte, ihn zu beseitigen. Als HUMSYC war sich Titus der unberechenbaren Intelligenz des Menschen sicherlich bewusst. Er konnte nicht einfach mit dem Bosonzähler oder irgendeinem anderen Gerät auf Leandro losgehen, der Ausgang dieses Versuchs war nicht vorhersehbar. Die offensichtlichste Variante war die, ihn im Schlaf zu töten. Leandro selbst konnte dafür nicht in Titus' Kabine, die war absolut gesichert, sein Gegner also im Vorteil. Gegen den Schlaf zu kämpfen war aussichtslos; als jener an den letzten beiden Abenden zur gewohnten Zeit unwiderstehlich im Anmarsch war, versteckte sich Leandro in einem der Belüftungsschächte. Glücklicherweise fand ihn Titus dort nicht. Nur als Leandro morgens wieder auf der Brücke erschien, fragte ihn Titus mit einem bedeutungslosen Lächeln, ob er auch gut geschlafen hätte.
In Wirklichkeit beobachte Titus ihn argwöhnisch auf Schritt und Schritt; wartete nur auf den geeigneten Augenblick, seinen Plan der Rache in die Tat umzusetzen. Leandro ließ sich nichts anmerken, grübelte aber verzweifelt, wie er Titus zuvorkommen könnte.

Dann beging Titus einen entscheidenden Fehler: „Leandro, morgen werde ich wieder zur Basisstation fahren, um zu sehen, wie wir dort die Arbeit wieder aufnehmen. Du bleibst vorläufig zur Sicherung des Schiffes auf der Brücke.“
Leandro stutzte: auch wenn Titus gewöhnlich allein zur Basisstation fuhr, müsste er unter den gegebenen Umständen Leandro mitnehmen, um ihn im Auge zu behalten. Immerhin war es nicht strikt notwendig, dass jemand auf dem Schiff verbliebe. Wenn Titus allein zur Station wollte, dann doch mit Sicherheit, um sich irgendetwas für ihn Wichtiges zu besorgen. Was dies auch immer war, es gehörte zu Titus' dunklen Plänen. Da zündete Leandro der Gedanke: er bräuchte doch nur das Schiff zu verriegeln, so dass Titus... Das war einfacher gesagt als getan: als Kommandant hatte Titus mehrere Geheimcodes, die für das Öffnen der Luken benutzt wurden. Darauf schien sich Titus zu verlassen. Doch man könnte vielleicht irgendwie..., ja natürlich! Man könnte das Sicherheitssystem soweit beschädigen, dass die Luken nur noch von Hand zu bedienen wären. Leandro wusste zuerst noch nicht, wie er dies bewerkstelligen solle, vertraute aber seinen Fähigkeiten und fasste einen Entschluss. Eines hatten sie dem HUMSYC Titus wohl nicht eingelötet: die Einsicht, dass ihm menschliche Intelligenz überlegen war! Wie naiv solch ein Miststück von Android am Ende doch war...

Die nächsten Sekunden drosselten Leandro's Gedanken bis zum Stillstand. Er versuchte einen Moment lang zu begreifen, was geschehen war. Er saß wie vorher im nur spärlich erleuchteten Brückenstand und doch... nach einem kurzen Flackern und Klicken war das monotone Summen der Schaltschränke leiser geworden, die Lichter weniger... Leandro schauderte: das Energiesystem hatte sich auf Notversorgung umgeschaltet! Oder war von jemandem umgeschaltet worden... Er konzentrierte sich mit aller Anstrengung: Nein, er hatte den Zugang von außen für alle Luken unmöglich gemacht! Schwer war ihm das am Ende nicht gefallen. Das Bedienungspad war mit demselben Material wie das gesamte Schiff geschützt, d.h. mit einer Platte bekleidet, welche man nur mit einer Art Laserschlüssel öffnen konnte. Einen hatte Leandro selbst und einen persönlichen Code für jede Luke. Einmal geöffnet, hatte er die Bedienungsfelder und deren Sensoreinheiten zertrümmert und sich danach vergewissert, dass jede Luke nur noch mechanisch zu betätigen war. So hatte er eine nach der anderen von innen verschlossen, wie in einer besetzten Festung.
Er grübelte, welche anderen Ursachen für den Zwischenfall verantwortlich sein könnten. Um die Solarbatterien zu überprüfen, müsste er das Schiff verlassen. Ihm dämmerte, dass sie Titus womöglich schon vor Stunden außer Betrieb gesetzt hatte. Waren die Batterien im Schiff unter einen kritischen Wert gesunken, würden sie sich den Strom von den Akkus draußen holen. Leandro fluchte: an diese Einzelheit hatte er in der Tat nicht gedacht! Doch nach einiger Überlegung beruhigte er sich erneut. Die Situation war klar: weiteren Schaden konnte Titus eigentlich nicht anstellen. Leandro war noch immer in Sicherheit; er musste jetzt nur mit dem Notsystem auskommen, einige Tage würde es sicherlich funktionieren. Er war nach wie vor mit allen lebensnotwendigen Dingen ausgestattet.

„Meinst Du wirklich, ich hätte nicht vorgesorgt und mir einen Eingang offen gehalten?“
Leandro fuhr herum. Wenige Meter vor ihm nahm er im Halbdunkel einen Schatten wahr. Titus! Leandro starrte auf die Gestalt und das Werkzeug in seiner rechten Hand. Die Kontrolllämpchen ließen wenig Zweifel: Titus war nicht zu Späßen aufgelegt. Der Laserschneider war eins der wichtigsten Werkzeuge für den Aufbau der Basisstation, bis zu einer Entfernung von zwanzig Metern aber auch eine absolut tödliche Waffe.
„Wie bist Du … ? Hör zu, Titus. Wie Du selbst sagst, wir brauchen uns gegenseitig. Ich hatte einfach nur Angst, es war ein Fehler. Das ist doch menschlich! Tut mir wirklich leid, kommt kein zweites Mal vor... Und wenn Du mich jetzt einfach so kaltmachst, musst Du Dir immer noch eine gute Ausrede einfallen lassen. Du weißt, in wenigen Wochen trifft das Schwesterschiff ein. Als biotronischer Racheengel lassen die Dich nicht so ohne Weiteres am Leben... äh, ich meine eingeschaltet.“
Titus lachte kurz auf. „Weißt DU mein Freund, dass es gar kein Schwesterschiff gibt? Und dass ich auch ganz ohne Dich wieder nach Hause komme? Schau' doch jetzt ganz einfach mal kurz auf Deinen Bauch!“
Leandro senkte den Kopf. In einer Zehntelsekunde spielte er alle möglichen Auswegvarianten durch, dann holte er einmal tief Atem, spannte seinen Körper wie eine Feder und setzte zum Sprung an...
Der kam zu spät: schon im nächsten Augenblick sah Leando sein letztes Bild, als ihn ein blauer Strahl jäh in zwei Teile trennte...

***[\center]

Logeingabe 04-08-2053: Drittes Model „Leandro“ ebenfalls deaktiviert; Experimente somit abgeschlossen. Bestätigung der ersten Ergebnisse: durchschnittliche Intelligenz, dennoch irrationales Vorgehen in Stresssituationen. Stark ausgeprägte Empathiestörung und paranoide Persönlichkeit, misstrauisch, leidet an Verschwörungswahn. Schon nach wenigen Tagen stellen sich extrem aggressive Verhaltungsmuster ein, für den Rest der Besatzung lebensbedrohlich.
Resultat: Negativ; für weitere Einsätze mit dem Menschen vollkommen untauglich.


Titus schaltete die Logeingabe wieder aus und seufzte erleichtert. Seine Aufgaben waren beendet. Hatte er auf der einen Seite alle Entladungsarbeiten erfolgreich ausgeführt und mehrere Tonnen Material in die neue Basisstation geschafft, war der zweite Teil der Mission ein deutlicher Misserfolg: das neue HUMSYC-Spitzenprodukt hatte sich als Riesen-Flop erwiesen. Nach seiner Rückkehr würden nicht wenige versuchen, ihm die Schuld in die Schuhe zu schieben; vielleicht hätte er nicht die Fähigkeiten, um angemessen mit seinen biotronischen Untertanen umzugehen. Vor allem die wirklichen Auftraggeber der Mission, die Vetreter der Red & Yellow River Mining Corporation, würden viele unangenehme Fragen stellen, und nicht nur diese, und nicht nur ihm. Die Corporation benutze schon seit 15 Jahren erfolgreich HUMSYCs und ähnliche technologische Vorgänger in ihren Minen, in denen zwischen allen möglichen Erfindungen modernster Robotertechnik kaum noch Menschen anzufinden waren. Sie hatten sich auf die Versprechen ihrer japanischen Partnerfirma und deren Hi-Tech-Labors verlassen! Auch die PAJOSpAg würde in Frage stellen, wohin die Millionen von Forschungsgeldern geflossen waren und zu welchem Nutzen, wenn die neuen HUMSYCs nicht nur nutzlos, sondern sogar gefährlich waren. Sollte irgendjemand die Projektberichte und Testergebnisse der Japaner genauer lesen, würde man zugeben, dass diese zu einem gewissen Ausmaß fabriziert worden waren, um die Finanzierung der PAJOSpAg und der Corporation nicht zu verlieren? Gäbe es dann wieder irgendeine ofizielle Version, die die Verschwendung öffentlicher Gelder in den schönsten Sternenstaub malen würde? Nur eins schien Titus sicher: die Corporation würde früher oder später ihre Ziele durchsetzen und sich ihre Vorrechte auf dem Mars sichern. Sie würde neue Mitglider in den Vorstand der PAJOSpAg wählen; es würden neue Forschungsgelder fließen, vielleicht hätte ein neuer Leandro mehr Glück; und sogar einen neuen Titus für die nächste Suizid-Mission würde die Corporation allemal finden.

Wenigstens in diesem Moment war Titus dies alles eigentlich egal. Der letzte und schönste Abschnitt der Mission konnte endlich beginnen: die Rückkehr zur Erde. Er würde jetzt mit einer letzten Eingabe im System den Startprozess einleiten und brauchte dann nicht weiter einzugreifen, unvorhergesehene Zwischenfälle ausgeschlossen. Der Bordcomputer würde sich den optimalen Zeitpunkt zum Abhebemanöver selbst errechnen und es dann ohne menschliche Hilfe ausführen. Das Bordsystem würde den Flug so lange kontrollieren, bis die Zeit für die direkte Kommunikation mit der Zentrale auf der Erde auf etwa zwei Minuten abgesunken war; danach würde jene die Steuerung übernehmen.

Titus überlegte: die Reise wäre auf einer Seite angenehm, auf der anderen aber auch etwas langweilig. Ein Lu-Modell war noch verfügbar, es müsste nur mit dem richtigen Programm („Mission vorzeitig abgebrochen – Aufenthalt auf dem Mars hat nie stattgefunden“) aus dem vorgetäuschten Kryo-Schlaf geholt werden. Die neue Lu würde sicher nicht weiter gefährlich werden, dachte er sich. Doch sie wäre genauso gefühlsarm und zum Teil neurotisch veranlagt wie ihre Vorgängerinnen und das mechanische Abspulen ihrer eingespeicherten Erinnerungen wollte er nicht ein drittes Mal über sich ergehen lassen. Und überhaupt hatte er es satt, seine Mahlzeiten heimlich und versteckt in seiner Kabine zu sich zu nehmen, gewöhnlich eine gute Stunde nachdem die vermeintlichen Ernährungsersatzpillen seine künstlichen Gefährten für etwa acht Stunden in ihren 'Schlafzustand' versetzt hatten. Nein! - Auf der Rückreise würde er jeden Tag auf dem Brückenstand speisen, und wenn ihm danach war, mit einem Buch in der Hand und mit den Füßen auf der Konsole...
Noch eine weitere Entscheidung wollte er Vor dem Abflug fällen. Sie war schnell und einfach in die Tat umzusetzen und eigentlich hatte er sie ja schon auf der Erde getroffen: denn seinen Lieblings-Château hatte er sich eigens für den Tag des Heimflugs bestellt. Wildbraten würde doch recht gut dazu passen...​
 

Tula

Mitglied
Leandro

Leandro stand an einer der Aussichtsluken des Brückenstands und beäugte die öde Marslandschaft, die sich im Halbdunkel bis an den Horizont erstreckte. Von Titus keine Spur... Dennoch brauchte er sich nicht zu sorgen. Titus würde erst in etwa zwei Stunden zurückkommen und dann vergeblich versuchen, sich auf die übliche Weise Zugang in das Schiff zu verschaffen. Denn Leandro hatte dieses vor Minuten hermetisch verschlossen; es war jetzt unmöglich, von außen irgendeinen seiner Einstiege ohne direkte Mithilfe von innen zu öffnen.

Die Gefahr, die von seinem Gegner ausging, war also gebannt; Leandro war in Sicherheit. Er sann darüber nach, wie lange man es wohl als Android dort draußen in der eisigen Kälte der Marsnacht aushalten könnte. Am Ende, fand er, dürfte das unwesentlich sein; selbst wenn er die ersten Nächte überstehen sollte, Titus war zu seinem Ende verurteilt worden. Und auf dieses konnte Leandro jetzt in aller Ruhe warten. Es bestand kein Zweifel: die Mayflower-II gab ihm alles, was er brauchte, um sich für mehrere Monate am Leben zu erhalten, auch wenn das Schiff ohne Besatzung nicht raumflugfähig war. Das reichte aus, denn das zweite Schiff der Expedition war schon unterwegs. Ohne jenes wäre auch dieser Versuch, endlich eine dauerhafte menschliche Besiedlung auf Mars zu schaffen, bereits gescheitert gewesen. Doch man hatte aus der ersten, tragischen Erfahrung gelernt. Das Schicksal der Ehrgeizigen zieht seltsame Kreise... ging es Leandro durch den Sinn. Für einen Augenblick schweiften die Gedanken in seine Kindheit zurück...

Damals, im Sommer 2047, war er gerade 12 Jahre alt gewesen. Er verfolge wie die gesamte Menschheit die erste Expedition mit einer Besatzung von fünf Astronauten, die während eines Aufenthalts von etwa vier Monaten eine erste Basisstation auf dem roten Planeten errichten sollte. Doch auf der Mission schien ein böser Fluch zu lasten, denn sie wurde von einer technischen Panne nach der anderen heimgesucht. Nach einer Art Bruchlandung kämpfte die Besatzung um die Erhaltung der kritischen Systeme, in erster Linie weil mehrere Solarflügel beschädigt ausgefallen waren und somit weniger als ein Drittel der erwarteten Energie zur Verfügung stand. Dadurch waren die Arbeiten an der Basisstation stark eingeschränkt; dennoch liefen sie, wenn auch mit großen Schwierigkeiten, an. Die technischen Ausfälle häuften sich leider: irgendwann fiel zeitweise die Lufterneuerung im Schiff aus, dann war es die Steuerung der Antennen, schließlich traf es das wichtigste aller Systeme: ein Kurzschluss in der Klimatisierung der Vorratsräume führte zu einem Brand mit erheblichen Schäden, der mit einem Schlag mehr als drei Viertel der Lebensmittel vernichtete. Die Nachricht lief wie eine Schockwelle über die Erde: die Besatzung hatte plötzlich nur noch für drei Wochen Vorräte, viel zu wenig, um erfolgreich eine Rettungsmission zu starten. Alle Varianten wurden damals durchgespielt, die Mindestenergie pro Besatzungsmitglied neu errechnet, ausgeklügelte Überlebensstrategien jedweder Art in Erwägung gezogen... Doch alles umsonst, es fehlten Monate, um die Mannschaft noch retten zu können. Die Katastrophe war unvermeidlich. Über das allerletzte Ende kreisten jahrelang mehrere Theorien; die offizielle bezeugte einen heldenhaften, gemeinschaftlichen Suizid, als sich in der Besatzung die ersten Anzeichen der Verzweiflung und einer durch den Hunger bedingten Aggressivität zwischen den Astronauten einstellten.
Das Schicksal der Mission faszinierte Leandro auf magische Weise für den Rest seines Lebens: er wollte Astronaut werden! Einen typischen Berufsweg gab es nicht dafür, schon gar nicht in seiner chilenischen Heimat. Leandro studierte mehrere Naturwissenschaften und spezialisierte sich danach auf den Gebieten der Raumfahrtmedizin und primitiver Biologie. Er bewarb sich hartnäckig mehrere Male bei bekannten, hauptsächlich chinesischen, Forschungslabors und Unternehmen, bis er schließlich sein Ziel erreichte: seine persönliche Beteiligung an der Mayflower-II Mission, welche von der PAJOSpAg (Pacific Joint Space Agency) und seinen bedeutendsten Mitgliedsländern (China, Japan, USA) mit größter Diskretion über mehr als ein Jahrzehnt vorbereitet wurde. Leandro war einer der allerersten Mitarbeiter; die Einladung für die direkte Teilnahme am Flug kam jedoch völlig unverhofft erst vor drei Jahren.

Leandro wurde unvermittelt von der Signalleuchte und der mit ihr verbundenen Sirene aus seinen Gedanken gerissen. Titus war eingetroffen und verlangte Kommunikation mit der Brücke! Das Flackern und schrille Heulen dauerte eine geraume Zeit, um nach einer Pause von mehreren Minuten erneut zu erwachen. Rrruungh, rruungh... der Lärm der Sirene war schlichtweg nervend! Leandro vermutete, dass Titus in der Zwischenzeit um das Schiff gelaufen war, um alle möglichen Luken und Einstiege zu überprüfen. Er schlich sich abwechselnd an die insgesamt vier Aussichtsluken und spähte vergeblich nach draußen. Schließlich gab er nach und stellte den Sprechkanal frei; zum einen konnte er das Notsignalsystem selbst nicht ohne weiteres abschalten, zum anderen quälte ihn die Versuchung, seinem Gegner persönlich die Niederlage zu diktieren:
„Titus, das Schiff wird jetzt von mir kommandiert. Aus Sicherheitsgründen kannst Du nicht wieder an Bord zurück. Tut mir leid.“
„Bist Du jetzt total durchgeknallt?“ dröhnte es durch den Brückenstand. „Ich habe Dir heut' morgen klargemacht, dass wir uns beide gegenseitig brauchen, um durchzuhalten. Alles andere ist jetzt erstmal nebensächlich.“
Leandro schwieg; er wusste nur zu gut, dass sich sein Gegner verstellte; dieser kannte alle Systeme an Bord auswendig und wäre in der Lage, sich aus jeder technischen Notsituation selbst herauszuziehen. Titus würde ihn bei der erstbesten Gelegenheit beseitigen; schon den anstehenden Kampf um das - Wer als erster schläft, schläft für immer... - würde Titus gewinnen, schon weil der als HUMSYC (Humanoid Synthetic Form of Life), wie man Androids jetzt vornehmer bezeichnete, eigentlich keinen Schlaf zu seinem Fortbestehen benötigte.
„Leandro! Wir haben jeder für sich allein kaum eine Chance. Das Schiff wurde für eine Besatzung von sechs entworfen, um es auf Dauer zu bedienen und zu warten. Wir hatten schon zu dritt ein Problem, zu zweit wird es schwer genug, allein wirst Du bei der nächsten Havarie irgendeines Versorgungssystems verrecken. Du bist kein Ingenieur, Mann, sondern unser Arzt! Und als solcher bin ich auch auf Dich angewiesen. Begreif das endlich!“
Leandro kannte diese Argumente seit seinem ersten Tag an Bord. Beeindruckt hatten sie ihn noch nie. „Ich kann lesen, Titus. Handbücher finde ich genug im System und zum Lesen habe ich jetzt viel Zeit. Du machst mir ohnehin nichts vor. Ich weiß genau, was Du mit mir vorhast.“
Titus gab noch nicht auf: „Was Du Dir da einredest, ist totaler Schwachsinn. Selbst Lu hätte Dir kein Haar gekrümmt; sie war nicht darauf programmiert. Ich will mich auch nicht an Dir rächen; was passiert ist, ist passiert, es war ein Unfall. Als solchen habe ich ihn auch berichtet. Also mach jetzt bitte auf, mein Sauerstoff reicht kaum für...“

Leandro schaltete den Kanal wieder ab, er wollte nicht weiterhören. Titus' Gelaber war nichts als ein Schwall von Täuschungsversuchen. Was der in seine täglichen Berichte faselte, war ihm unbekannt und als Aufzeichnungen auch nicht zugänglich. Zum einen müsste er dazu irgendwie die Tür zu Titus' Kabine aufbrechen; zum anderen kannte nur Titus den Sicherheitscode für die Logapplikation der Mission.
Überraschenderweise verstummte das Signalsystem nach einem kurzen Augenblick. Titus hatte wohl eingesehen, dass er auf diese Weise seinen Kontrahenten nicht weich bekommen würde. Leandro indessen versuchte, sich abzulenken und bereitete sich für die Nacht vor. Sein Abendbrot nahm er zur gewohnten Stunde; eine tägliche Routine und im Handumdrehen erledigt, denn es bestand aus nicht mehr als einer Pille. In seiner gegenwärtigen Lage wollte sich Leandro gerade darüber nicht beklagen. Man hatte die Pillen schließlich extra für die neue Mission erfunden, um das Risiko eines erneuten Hungerdramas entscheidend zu verringern. Ähnlich wie beim Militär bekamen alle einmal pro Tag eine komprimierte Kalorienbombe, die dann im Verlauf von 24 Stunden langsam vom Körper absorbiert wurde, ohne dass der Mensch in plötzliche Hungergefühle verfiele. Eine langweilige, aber doch geniale Lösung; wenigstens darüber waren sich die drei nie uneinig gewesen.

Darauf machte Leandro es sich so gut wie es ging gemütlich. In seiner Kabine jedenfalls wollte er heute nicht schlafen, sondern für den Fall der Fälle auf dem Brückenstand bleiben. Immerhin war es seine erste Nacht als neuer Kommandant. Wieder verfiel er in Erinnerungen an die Ereignisse der letzten zwei Wochen. Schon vom ersten Tag an war er von Titus und Lu nicht als gleichberechtigtes Mitglied der Besatzung behandelt worden. Als sie ihn aus dem Kryo-Schlaf holten, teilten sie ihm mit, dass bei der Landung sowohl die Triebwerke als auch das kryogenische System schwer beschädigt worden waren. Er war der einzige, bei dem wie durch ein Wunder die Temperatur noch nicht den kritischen Schwellwert überschritten hatte. Weniger als eine Minute später und er läge mit den anderen Kadavern im 'Kühlschrank', wie sie es nannten.
Die Mission befand sich deshalb in einer Art Ausnahmezustand; die Aufgabe bestand nicht mehr nur im Projekt der Basisstation, auch wenn Titus fast jeden Tag einen Teil der im Schiff verstauten Ladung, Kisten jeder Abmessung und Gewichtes, mit dem 'Schlitten', wie er ihn gern nannte, dorthin brachte. Nein, sie bestand nach Titus' täglichen Erläuterungen jetzt hauptsächlich im Überleben bis zum Eintreffen des bereits gestarteten Schwesterschiffs, mit der zweiten Gruppe der Mission, innerhalb von drei Monaten. Titus hatte das Generalkommando inne, Lu war zweiter Offizier und Titus' Vertretung in seiner Abwesenheit, während Leandro in seiner Hauptfunktion als Arzt den anderen beiden unterstellt war. Schließlich bedurfte es bei solch einer kleinen Besatzung auch seiner Hilfe bei allen möglichen Tätigkeiten an Bord.

Vor allem sein Verhältnis zu Lu basierte von Anfang an auf Misstrauen und schlug rasch in offene Feindseligkeit um. Das lag vor allem an Lu: Sie versuchte vom ersten Tag an mit allen Mitteln zu verhindern, dass Leandro Titus irgendwie zu nah kommen könnte, und wenn, dann nur in ihrem Beisein. Hatte sie irgendeine Aufgabe in ihrem Tagesplan zu erfüllen, erteilte sie Leandro sofort eine andere, die ihn zwangsläufig isolieren würde. Waren sie alle drei zusammen, beobachtete sie Leandro bei jedem Atemzug aus ihren Augenwinkeln, unterbrach ihn bei jedem Wort und setzte immer wieder darauf, an der pflichtgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben zu zweifeln. „Leandro, hatten wir Dich nicht darum gebeten, die Solarenergiespeicher zu warten? Die sind schon wieder auf 35 Prozent runter... Hast Du gemacht? … Ach was, das scheint mir gar nicht so, ich muss Dir die Sache wohl noch einmal vorzeigen...“ usw. usf.
Ihre Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit; Leandro hasste sie bereits am dritten Tag und stellte ihr seinerseits geschickte 'Fallen', sabotierte ihre Arbeit wo er konnte: zum Beispiel ließ er dann und wann ihren Bosonzähler (als scherzhafte Umschreibung eines auf Quantenmechanik basierenden Werkzeuges, welches bei fast allen Wartungsarbeiten als universelles Prüfgerät verwendet wurde) verschwinden, um sie dann vor Titus höflichst darum zu bitten und in Verlegenheit zu bringen; ein anderes Mal behauptete er steif und fest, er hätte nach ihrem Eingriff die Einstellungen am gravitativen Ausgleichsgenerator wieder korrigieren müssen.

Titus blieb die Fehde schwerlich verborgen; dennoch beließ er es beim morgendlichen Meeting und mit der stetigen Mahnung, dass der kameradschaftliche Zusammenhalt entscheidend für den Erfolg der Mission und das Überleben der Gruppe sei. Vielleicht, dachte sich Leandro, hätte er mit einem strengeren Vorgehen Lu gegenüber ihr tragisches Ende verhindern können. Dann hätte sie sich vor zwei Tagen unter Umständen nicht so furchtbar aufgespielt. Sie 'befahl' Leandro, einen der Akkus, welche außerhalb des Schiffs direkt an den Solarflügeln montiert waren, in die Warteluke zu hieven. Das wäre laut Tagesplan eigentlich ihre Sache gewesen! Nach seiner ersten Verweigerung und einem heftigen Streit zwischen den beiden kam Leandro auf eine bessere Idee und gab vorerst nach, demontierte den Akku und lud den selbigen auf den kontronischen Levitator.
Langsam schwenkte er den Akku in die Luke. „Zeig' mir genau wo das Ding hin soll...“ rief Leandro, als ob er die erwartete Position nicht genau kennen würde.
„Weiter in die Mitte nach rechts, nach rechts, Du Idiot...“ hallte es aus der Luke zurück. Viel Platz gab es dort nicht; der innere Ausgang zum Schiff befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Ladeluke. Es fiel Leandro nicht schwer, Lu diesen Weg zu versperren und sie genau zwischen den Akku und die Wand zu locken. Mit einem plötzlichen Manöver schwenkte er den Arm des Levitators und drückte Lu unerwartet mit dem Akku gegen einen der Träger in der Bordwand.
„Zurück na reecch...“ kreischte sie noch einmal vergeblich, dann verstummte Lu für immer...
Leandro zögerte noch einen kurzen Moment und erwägte die nächsten Schritte, bevor er endlich über den Bordsprechfunk seinen Kommandanten rief. Dieser stürzte heran und verharrte verwirrt vor dem Akku und dem hinter ihm leblos hervorhängenden Arm. Titus' nächste Reaktion war überraschend beherrscht; er bediente selbst den Levitator, um Lu freizugeben, und zog ihren Leichnam hervor.
„Ich habe nur strikt ihren Anweisungen gefolgt...“ entschuldigte sich Leandro. „Augenscheinlich hat sie rechts mit links verwechselt, ich konnte doch nicht ahnen...“
Titus erwähnte kein Wort, blickte nur kurz vorwurfsvoll auf Leandro und dann wieder auf Lu, als wäre er irgendwie verlegen. Dann begriff Leandro: aus Lu's zerquetschtem Leib drängte sich ein Knäul von synthetischen Geweben und Bauteilen, die nichts mit einem menschlichen Körper zu tun hatten. Vor ihnen lagen die Reste eines HUMSYC, ein Android, biotronischer Schrotthaufen...
Leandro war verwirrt, denn nach seiner Kenntnis waren HUMSYCs relativ primitive und vom Menschen leicht zu unterscheidene künstliche Geschöpfe, willenlose und vor allem wenig intelligente Sklaven.
„Du wusstest, dass Lu...?“ - Titus erwiderte noch immer nichts. Er schien nach Antworten zu suchen, genauso wie Leandro: warum hatte man in so eine kleine Besatzung einen HUMSYC eingeschleust? Darin bestand kein offenbarer Vorteil. Und warum hatte ihn Titus nicht eingeweiht? Es war unwahrscheinlich, dass er von Lu's Natur keine Kenntnis hatte... Aus der Tiefe seiner Verwirrung stieg eine dunkle Ahnung auf: Wenn Titus nichts wusste, dann war der selbst ein HUMSYC! Oder andersherum: Wenn er es wusste und Leandro dennoch nicht davon unterrichtete, dann war Titus es ebenfalls! Lu's feindselige Haltung Leandro gegenüber erschien nun weniger merkwürdig, wahrscheinlich versuchten beide, Ihn unter Kontrolle zu halten. Die Fehlfunktion im kryogenischen System bei der Landung war dann mit höchster Wahrscheinlichkeit kein Unfall gewesen, sondern kaltblütiger Mord an der menschlichen Besatzung, welcher man den fünfmonatigen Flug zum Mars aus verschiedenen Gründen erspart hatte. Doch wozu brauchten die beiden Ihn? Zu welchem besonderen Zweck war er bestimmt?

Als der Schlaf langsam aber stetig in ihn zu kriechen schien, schreckte Leandro unversehens auf. Ein merkwürdiges Geräusch hatte für einen kurzen Augenblick das monotone Summen aus den Schaltschränken übertönt. Leandro horchte gespannt. Mehrere Sekunden... Stille... Da wieder! Ein metallenes Ächzen, wie ein im Sonnenwind kämpfendes Schiff, doch nur in kurzen Intervallen. Sicherlich war es Titus, der versuchte, auf irgendeine Weise an Bord zu gelangen und sich gewaltsam an einer der Luken zu schaffen machte. Nach kurzer Überlegung beruhigte sich Leandro wieder: die Mayflower war für den Raumflug gebaut worden. Selbst mit einer Ladung herkömmlichen Sprengstoffs könnte man die Luken nicht ohne weiteres aufreißen; jeder Versuch, sie mit speziellen Werkzeugen aufzubohren oder zu schneiden war mehr oder weniger aussichtslos. Das Material war härter und widerstandsfähiger als Diamant. Leandro schaltete die Beleuchtung fast vollkommen aus und lief erneut von einer der Aussichtsluken zur anderen, um dort umsonst in die Dunkelheit zu starren; dann horchte er mit aller Anstrengung mehrere Minuten lang. Das Geräusch kehrte nicht wieder zurück...
Was würde Titus mit ihm anstellen, wenn er doch ins Schiff gelänge? Seit jenem verhängnisvollen Tag waren sie sich gegenseitig wie zwei feindlich gesinnte Raubtiere ausgewichen, jeder auf den ersten Fehler des anderen bedacht. Titus hatte ihn noch gebeten, seinen Bosonzähler zu holen, als wolle er noch irgendetwas an Lu herummessen. Als Leandro zurückkehrte, hatte Titus Lu's Überreste bereits entsorgt und ihm ohne eine Erklärung das Werkzeug aus der Hand genommen.
„Sieh' zu, dass der Akku wieder in Ordnung kommt. Über den Rest reden wir später.“ - Dann verschwand der Kommandant für mehrere Stunden in seiner Kammer. Als er wieder herauskam, machte er einen entschlossenen Eindruck, rief Leandro zu sich und erklärte ihm eindringlich die Tagesplanung zu zweit und dass er absolute Disziplin verlangte, um das endgültige Scheitern der Mission zu verhindern.

Leandro wurde sofort klar, dass Titus nur Zeit schindete und nach einem Plan suchte, ihn zu beseitigen. Als HUMSYC war sich Titus der unberechenbaren Intelligenz des Menschen sicherlich bewusst. Er konnte nicht einfach mit dem Bosonzähler oder irgendeinem anderen Gerät auf Leandro losgehen, der Ausgang dieses Versuchs war nicht vorhersehbar. Die offensichtlichste Variante war die, ihn im Schlaf zu töten. Leandro selbst konnte dafür nicht in Titus' Kabine, die war absolut gesichert, sein Gegner also im Vorteil. Gegen den Schlaf zu kämpfen war aussichtslos; als jener an den letzten beiden Abenden zur gewohnten Zeit unwiderstehlich im Anmarsch war, versteckte sich Leandro in einem der Belüftungsschächte. Glücklicherweise fand ihn Titus dort nicht. Nur als Leandro morgens wieder auf der Brücke erschien, fragte ihn Titus mit einem bedeutungslosen Lächeln, ob er auch gut geschlafen hätte.
In Wirklichkeit beobachte Titus ihn argwöhnisch auf Schritt und Schritt; wartete nur auf den geeigneten Augenblick, seinen Plan der Rache in die Tat umzusetzen. Leandro ließ sich nichts anmerken, grübelte aber verzweifelt, wie er Titus zuvorkommen könnte.

Dann beging Titus einen entscheidenden Fehler: „Leandro, morgen werde ich wieder zur Basisstation fahren, um zu sehen, wie wir dort die Arbeit wieder aufnehmen. Du bleibst vorläufig zur Sicherung des Schiffes auf der Brücke.“
Leandro stutzte: auch wenn Titus gewöhnlich allein zur Basisstation fuhr, müsste er unter den gegebenen Umständen Leandro mitnehmen, um ihn im Auge zu behalten. Immerhin war es nicht strikt notwendig, dass jemand auf dem Schiff verbliebe. Wenn Titus allein zur Station wollte, dann doch mit Sicherheit, um sich irgendetwas für ihn Wichtiges zu besorgen. Was dies auch immer war, es gehörte zu Titus' dunklen Plänen. Da zündete Leandro der Gedanke: er bräuchte doch nur das Schiff zu verriegeln, so dass Titus... Das war einfacher gesagt als getan: als Kommandant hatte Titus mehrere Geheimcodes, die für das Öffnen der Luken benutzt wurden. Darauf schien sich Titus zu verlassen. Doch man könnte vielleicht irgendwie..., ja natürlich! Man könnte das Sicherheitssystem soweit beschädigen, dass die Luken nur noch von Hand zu bedienen wären. Leandro wusste zuerst noch nicht, wie er dies bewerkstelligen solle, vertraute aber seinen Fähigkeiten und fasste einen Entschluss. Eines hatten sie dem HUMSYC Titus wohl nicht eingelötet: die Einsicht, dass ihm menschliche Intelligenz überlegen war! Wie naiv solch ein Miststück von Android am Ende doch war...

Die nächsten Sekunden drosselten Leandro's Gedanken bis zum Stillstand. Er versuchte einen Moment lang zu begreifen, was geschehen war. Er saß wie vorher im nur spärlich erleuchteten Brückenstand und doch... nach einem kurzen Flackern und Klicken war das monotone Summen der Schaltschränke leiser geworden, die Lichter weniger... Leandro schauderte: das Energiesystem hatte sich auf Notversorgung umgeschaltet! Oder war von jemandem umgeschaltet worden... Er konzentrierte sich mit aller Anstrengung: Nein, er hatte den Zugang von außen für alle Luken unmöglich gemacht! Schwer war ihm das am Ende nicht gefallen. Das Bedienungspad war mit demselben Material wie das gesamte Schiff geschützt, d.h. mit einer Platte bekleidet, welche man nur mit einer Art Laserschlüssel öffnen konnte. Einen hatte Leandro selbst und einen persönlichen Code für jede Luke. Einmal geöffnet, hatte er die Bedienungsfelder und deren Sensoreinheiten zertrümmert und sich danach vergewissert, dass jede Luke nur noch mechanisch zu betätigen war. So hatte er eine nach der anderen von innen verschlossen, wie in einer besetzten Festung.
Er grübelte, welche anderen Ursachen für den Zwischenfall verantwortlich sein könnten. Um die Solarbatterien zu überprüfen, müsste er das Schiff verlassen. Ihm dämmerte, dass sie Titus womöglich schon vor Stunden außer Betrieb gesetzt hatte. Waren die Batterien im Schiff unter einen kritischen Wert gesunken, würden sie sich den Strom von den Akkus draußen holen. Leandro fluchte: an diese Einzelheit hatte er in der Tat nicht gedacht! Doch nach einiger Überlegung beruhigte er sich erneut. Die Situation war klar: weiteren Schaden konnte Titus eigentlich nicht anstellen. Leandro war noch immer in Sicherheit; er musste jetzt nur mit dem Notsystem auskommen, einige Tage würde es sicherlich funktionieren. Er war nach wie vor mit allen lebensnotwendigen Dingen ausgestattet.

„Meinst Du wirklich, ich hätte nicht vorgesorgt und mir einen Eingang offen gehalten?“
Leandro fuhr herum. Wenige Meter vor ihm nahm er im Halbdunkel einen Schatten wahr. Titus! Leandro starrte auf die Gestalt und das Werkzeug in seiner rechten Hand. Die Kontrolllämpchen ließen wenig Zweifel: Titus war nicht zu Späßen aufgelegt. Der Laserschneider war eins der wichtigsten Werkzeuge für den Aufbau der Basisstation, bis zu einer Entfernung von zwanzig Metern aber auch eine absolut tödliche Waffe.
„Wie bist Du … ? Hör zu, Titus. Wie Du selbst sagst, wir brauchen uns gegenseitig. Ich hatte einfach nur Angst, es war ein Fehler. Das ist doch menschlich! Tut mir wirklich leid, kommt kein zweites Mal vor... Und wenn Du mich jetzt einfach so kaltmachst, musst Du Dir immer noch eine gute Ausrede einfallen lassen. Du weißt, in wenigen Wochen trifft das Schwesterschiff ein. Als biotronischer Racheengel lassen die Dich nicht so ohne Weiteres am Leben... äh, ich meine eingeschaltet.“
Titus lachte kurz auf. „Weißt DU mein Freund, dass es gar kein Schwesterschiff gibt? Und dass ich auch ganz ohne Dich wieder nach Hause komme? Schau' doch jetzt ganz einfach mal kurz auf Deinen Bauch!“
Leandro senkte den Kopf. In einer Zehntelsekunde spielte er alle möglichen Auswegvarianten durch, dann holte er einmal tief Atem, spannte seinen Körper wie eine Feder und setzte zum Sprung an...
Der kam zu spät: schon im nächsten Augenblick sah Leando sein letztes Bild, als ihn ein blauer Strahl jäh in zwei Teile trennte...

***​

Logeingabe 04-08-2053: Drittes Model „Leandro“ ebenfalls deaktiviert; Experimente somit abgeschlossen. Bestätigung der ersten Ergebnisse: durchschnittliche Intelligenz, dennoch irrationales Vorgehen in Stresssituationen. Stark ausgeprägte Empathiestörung und paranoide Persönlichkeit, misstrauisch, leidet an Verschwörungswahn. Schon nach wenigen Tagen stellen sich extrem aggressive Verhaltungsmuster ein, für den Rest der Besatzung lebensbedrohlich.
Resultat: Negativ; für weitere Einsätze mit dem Menschen vollkommen untauglich.


Titus schaltete die Logeingabe wieder aus und seufzte erleichtert. Seine Aufgaben waren beendet. Hatte er auf der einen Seite alle Entladungsarbeiten erfolgreich ausgeführt und mehrere Tonnen Material in die neue Basisstation geschafft, war der zweite Teil der Mission ein deutlicher Misserfolg: das neue HUMSYC-Spitzenprodukt hatte sich als Riesen-Flop erwiesen. Nach seiner Rückkehr würden nicht wenige versuchen, ihm die Schuld in die Schuhe zu schieben; vielleicht hätte er nicht die Fähigkeiten, um angemessen mit seinen biotronischen Untertanen umzugehen. Vor allem die wirklichen Auftraggeber der Mission, die Vetreter der Red & Yellow River Mining Corporation, würden viele unangenehme Fragen stellen, und nicht nur diese, und nicht nur ihm. Die Corporation benutze schon seit 15 Jahren erfolgreich HUMSYCs und ähnliche technologische Vorgänger in ihren Minen, in denen zwischen allen möglichen Erfindungen modernster Robotertechnik kaum noch Menschen anzufinden waren. Sie hatten sich auf die Versprechen ihrer japanischen Partnerfirma und deren Hi-Tech-Labors verlassen! Auch die PAJOSpAg würde in Frage stellen, wohin die Millionen von Forschungsgeldern geflossen waren und zu welchem Nutzen, wenn die neuen HUMSYCs nicht nur nutzlos, sondern sogar gefährlich waren. Sollte irgendjemand die Projektberichte und Testergebnisse der Japaner genauer lesen, würde man zugeben, dass diese zu einem gewissen Ausmaß fabriziert worden waren, um die Finanzierung der PAJOSpAg und der Corporation nicht zu verlieren? Gäbe es dann wieder irgendeine ofizielle Version, die die Verschwendung öffentlicher Gelder in den schönsten Sternenstaub malen würde? Nur eins schien Titus sicher: die Corporation würde früher oder später ihre Ziele durchsetzen und sich ihre Vorrechte auf dem Mars sichern. Sie würde neue Mitglider in den Vorstand der PAJOSpAg wählen; es würden neue Forschungsgelder fließen, vielleicht hätte ein neuer Leandro mehr Glück; und sogar einen neuen Titus für die nächste Suizid-Mission würde die Corporation allemal finden.

Wenigstens in diesem Moment war Titus dies alles eigentlich egal. Der letzte und schönste Abschnitt der Mission konnte endlich beginnen: die Rückkehr zur Erde. Er würde jetzt mit einer letzten Eingabe im System den Startprozess einleiten und brauchte dann nicht weiter einzugreifen, unvorhergesehene Zwischenfälle ausgeschlossen. Der Bordcomputer würde sich den optimalen Zeitpunkt zum Abhebemanöver selbst errechnen und es dann ohne menschliche Hilfe ausführen. Das Bordsystem würde den Flug so lange kontrollieren, bis die Zeit für die direkte Kommunikation mit der Zentrale auf der Erde auf etwa zwei Minuten abgesunken war; danach würde jene die Steuerung übernehmen.

Titus überlegte: die Reise wäre auf einer Seite angenehm, auf der anderen aber auch etwas langweilig. Ein Lu-Modell war noch verfügbar, es müsste nur mit dem richtigen Programm („Mission vorzeitig abgebrochen – Aufenthalt auf dem Mars hat nie stattgefunden“) aus dem vorgetäuschten Kryo-Schlaf geholt werden. Die neue Lu würde sicher nicht weiter gefährlich werden, dachte er sich. Doch sie wäre genauso gefühlsarm und zum Teil neurotisch veranlagt wie ihre Vorgängerinnen und das mechanische Abspulen ihrer eingespeicherten Erinnerungen wollte er nicht ein drittes Mal über sich ergehen lassen. Und überhaupt hatte er es satt, seine Mahlzeiten heimlich und versteckt in seiner Kabine zu sich zu nehmen, gewöhnlich eine gute Stunde nachdem die vermeintlichen Ernährungsersatzpillen seine künstlichen Gefährten für etwa acht Stunden in ihren 'Schlafzustand' versetzt hatten. Nein! - Auf der Rückreise würde er jeden Tag auf dem Brückenstand speisen, und wenn ihm danach war, mit einem Buch in der Hand und mit den Füßen auf der Konsole...
Noch eine weitere Entscheidung wollte er Vor dem Abflug fällen. Sie war schnell und einfach in die Tat umzusetzen und eigentlich hatte er sie ja schon auf der Erde getroffen: denn seinen Lieblings-Château hatte er sich eigens für den Tag des Heimflugs bestellt. Wildbraten würde doch recht gut dazu passen...
 

Tula

Mitglied
Leandro

Leandro stand an einer der Aussichtsluken des Brückenstands und beäugte die öde Marslandschaft, die sich im Halbdunkel bis an den Horizont erstreckte. Von Titus keine Spur... Dennoch brauchte er sich nicht zu sorgen. Titus würde erst in etwa zwei Stunden zurückkommen und dann vergeblich versuchen, sich auf die übliche Weise Zugang in das Schiff zu verschaffen. Denn Leandro hatte dieses vor Minuten hermetisch verschlossen; es war jetzt unmöglich, von außen irgendeinen seiner Einstiege ohne direkte Mithilfe von innen zu öffnen.

Die Gefahr, die von seinem Gegner ausging, war also gebannt; Leandro war in Sicherheit. Er sann darüber nach, wie lange man es wohl als Android dort draußen in der eisigen Kälte der Marsnacht aushalten könnte. Am Ende, fand er, dürfte das unwesentlich sein; selbst wenn er die ersten Nächte überstehen sollte, Titus war zu seinem Ende verurteilt worden. Und auf dieses konnte Leandro jetzt in aller Ruhe warten. Es bestand kein Zweifel: die Mayflower-II gab ihm alles, was er brauchte, um sich für mehrere Monate am Leben zu erhalten, auch wenn das Schiff ohne Besatzung nicht raumflugfähig war. Das reichte aus, denn das zweite Schiff der Expedition war schon unterwegs. Ohne jenes wäre auch dieser Versuch, endlich eine dauerhafte menschliche Besiedlung auf Mars zu schaffen, bereits gescheitert gewesen. Doch man hatte aus der ersten, tragischen Erfahrung gelernt. Das Schicksal der Ehrgeizigen zieht seltsame Kreise... ging es Leandro durch den Sinn. Für einen Augenblick schweiften die Gedanken in seine Kindheit zurück...

Damals, im Sommer 2047, war er gerade 12 Jahre alt gewesen. Er verfolge wie die gesamte Menschheit die erste Expedition mit einer Besatzung von fünf Astronauten, die während eines Aufenthalts von etwa vier Monaten eine erste Basisstation auf dem roten Planeten errichten sollte. Doch auf der Mission schien ein böser Fluch zu lasten, denn sie wurde von einer technischen Panne nach der anderen heimgesucht. Nach einer Art Bruchlandung kämpfte die Besatzung um die Erhaltung der kritischen Systeme, in erster Linie weil mehrere Solarflügel beschädigt ausgefallen waren und somit weniger als ein Drittel der erwarteten Energie zur Verfügung stand. Dadurch waren die Arbeiten an der Basisstation stark eingeschränkt; dennoch liefen sie, wenn auch mit großen Schwierigkeiten, an. Die technischen Ausfälle häuften sich leider: irgendwann fiel zeitweise die Lufterneuerung im Schiff aus, dann war es die Steuerung der Antennen, schließlich traf es das wichtigste aller Systeme: ein Kurzschluss in der Klimatisierung der Vorratsräume führte zu einem Brand mit erheblichen Schäden, der mit einem Schlag mehr als drei Viertel der Lebensmittel vernichtete. Die Nachricht lief wie eine Schockwelle über die Erde: die Besatzung hatte plötzlich nur noch für drei Wochen Vorräte, viel zu wenig, um erfolgreich eine Rettungsmission zu starten. Alle Varianten wurden damals durchgespielt, die Mindestenergie pro Besatzungsmitglied neu errechnet, ausgeklügelte Überlebensstrategien jedweder Art in Erwägung gezogen... Doch alles umsonst, es fehlten Monate, um die Mannschaft noch retten zu können. Die Katastrophe war unvermeidlich. Über das allerletzte Ende kreisten jahrelang mehrere Theorien; die offizielle bezeugte einen heldenhaften, gemeinschaftlichen Suizid, als sich in der Besatzung die ersten Anzeichen der Verzweiflung und einer durch den Hunger bedingten Aggressivität zwischen den Astronauten einstellten.
Das Schicksal der Mission faszinierte Leandro auf magische Weise für den Rest seines Lebens: er wollte Astronaut werden! Einen typischen Berufsweg gab es nicht dafür, schon gar nicht in seiner chilenischen Heimat. Leandro studierte mehrere Naturwissenschaften und spezialisierte sich danach auf den Gebieten der Raumfahrtmedizin und primitiver Biologie. Er bewarb sich hartnäckig mehrere Male bei bekannten, hauptsächlich chinesischen, Forschungslabors und Unternehmen, bis er schließlich sein Ziel erreichte: seine persönliche Beteiligung an der Mayflower-II Mission, welche von der PAJOSpAg (Pacific Joint Space Agency) und seinen bedeutendsten Mitgliedsländern (China, Japan, USA) mit größter Diskretion über mehr als ein Jahrzehnt vorbereitet wurde. Leandro war einer der allerersten Mitarbeiter; die Einladung für die direkte Teilnahme am Flug kam jedoch völlig unverhofft erst vor drei Jahren.

Leandro wurde unvermittelt von der Signalleuchte und der mit ihr verbundenen Sirene aus seinen Gedanken gerissen. Titus war eingetroffen und verlangte Kommunikation mit der Brücke! Das Flackern und schrille Heulen dauerte eine geraume Zeit, um nach einer Pause von mehreren Minuten erneut zu erwachen. Rrruungh, rruungh... der Lärm der Sirene war schlichtweg nervend! Leandro vermutete, dass Titus in der Zwischenzeit um das Schiff gelaufen war, um alle möglichen Luken und Einstiege zu überprüfen. Er schlich sich abwechselnd an die insgesamt vier Aussichtsluken und spähte vergeblich nach draußen. Schließlich gab er nach und stellte den Sprechkanal frei; zum einen konnte er das Notsignalsystem selbst nicht ohne weiteres abschalten, zum anderen quälte ihn die Versuchung, seinem Gegner persönlich die Niederlage zu diktieren:
„Titus, das Schiff wird jetzt von mir kommandiert. Aus Sicherheitsgründen kannst Du nicht wieder an Bord zurück. Tut mir leid.“
„Bist Du jetzt total durchgeknallt?“ dröhnte es durch den Brückenstand. „Ich habe Dir heut' morgen klargemacht, dass wir uns beide gegenseitig brauchen, um durchzuhalten. Alles andere ist jetzt erstmal nebensächlich.“
Leandro schwieg; er wusste nur zu gut, dass sich sein Gegner verstellte; dieser kannte alle Systeme an Bord auswendig und wäre in der Lage, sich aus jeder technischen Notsituation selbst herauszuziehen. Titus würde ihn bei der erstbesten Gelegenheit beseitigen; schon den anstehenden Kampf um das - Wer als erster schläft, schläft für immer... - würde Titus gewinnen, schon weil der als HUMSYC (Humanoid Synthetic Form of Life), wie man Androids jetzt vornehmer bezeichnete, eigentlich keinen Schlaf zu seinem Fortbestehen benötigte.
„Leandro! Wir haben jeder für sich allein kaum eine Chance. Das Schiff wurde für eine Besatzung von sechs entworfen, um es auf Dauer zu bedienen und zu warten. Wir hatten schon zu dritt ein Problem, zu zweit wird es schwer genug, allein wirst Du bei der nächsten Havarie irgendeines Versorgungssystems verrecken. Du bist kein Ingenieur, Mann, sondern unser Arzt! Und als solcher bin ich auch auf Dich angewiesen. Begreif das endlich!“
Leandro kannte diese Argumente seit seinem ersten Tag an Bord. Beeindruckt hatten sie ihn noch nie. „Ich kann lesen, Titus. Handbücher finde ich genug im System und zum Lesen habe ich jetzt viel Zeit. Du machst mir ohnehin nichts vor. Ich weiß genau, was Du mit mir vorhast.“
Titus gab noch nicht auf: „Was Du Dir da einredest, ist totaler Schwachsinn. Selbst Lu hätte Dir kein Haar gekrümmt; sie war nicht darauf programmiert. Ich will mich auch nicht an Dir rächen; was passiert ist, ist passiert, es war ein Unfall. Als solchen habe ich ihn auch berichtet. Also mach jetzt bitte auf, mein Sauerstoff reicht kaum für...“

Leandro schaltete den Kanal wieder ab, er wollte nicht weiterhören. Titus' Gelaber war nichts als ein Schwall von Täuschungsversuchen. Was der in seine täglichen Berichte faselte, war ihm unbekannt und als Aufzeichnungen auch nicht zugänglich. Zum einen müsste er dazu irgendwie die Tür zu Titus' Kabine aufbrechen; zum anderen kannte nur Titus den Sicherheitscode für die Logapplikation der Mission.
Überraschenderweise verstummte das Signalsystem nach einem kurzen Augenblick. Titus hatte wohl eingesehen, dass er auf diese Weise seinen Kontrahenten nicht weich bekommen würde. Leandro indessen versuchte, sich abzulenken und bereitete sich für die Nacht vor. Sein Abendbrot nahm er zur gewohnten Stunde; eine tägliche Routine und im Handumdrehen erledigt, denn es bestand aus nicht mehr als einer Pille. In seiner gegenwärtigen Lage wollte sich Leandro gerade darüber nicht beklagen. Man hatte die Pillen schließlich extra für die neue Mission erfunden, um das Risiko eines erneuten Hungerdramas entscheidend zu verringern. Ähnlich wie beim Militär bekamen alle einmal pro Tag eine komprimierte Kalorienbombe, die dann im Verlauf von 24 Stunden langsam vom Körper absorbiert wurde, ohne dass der Mensch in plötzliche Hungergefühle verfiele. Eine langweilige, aber doch geniale Lösung; wenigstens darüber waren sich die drei nie uneinig gewesen.

Darauf machte Leandro es sich so gut wie es ging gemütlich. In seiner Kabine jedenfalls wollte er heute nicht schlafen, sondern für den Fall der Fälle auf dem Brückenstand bleiben. Immerhin war es seine erste Nacht als neuer Kommandant. Wieder verfiel er in Erinnerungen an die Ereignisse der letzten zwei Wochen. Schon vom ersten Tag an war er von Titus und Lu nicht als gleichberechtigtes Mitglied der Besatzung behandelt worden. Als sie ihn aus dem Kryo-Schlaf holten, teilten sie ihm mit, dass bei der Landung sowohl die Triebwerke als auch das kryogenische System schwer beschädigt worden waren. Er war der einzige, bei dem wie durch ein Wunder die Temperatur noch nicht den kritischen Schwellwert überschritten hatte. Weniger als eine Minute später und er läge mit den anderen Kadavern im 'Kühlschrank', wie sie es nannten.
Die Mission befand sich deshalb in einer Art Ausnahmezustand; die Aufgabe bestand nicht mehr nur im Projekt der Basisstation, auch wenn Titus fast jeden Tag einen Teil der im Schiff verstauten Ladung, Kisten jeder Abmessung und Gewichtes, mit dem 'Schlitten', wie er ihn gern nannte, dorthin brachte. Nein, sie bestand nach Titus' täglichen Erläuterungen jetzt hauptsächlich im Überleben bis zum Eintreffen des bereits gestarteten Schwesterschiffs, mit der zweiten Gruppe der Mission, innerhalb von drei Monaten. Titus hatte das Generalkommando inne, Lu war zweiter Offizier und Titus' Vertretung in seiner Abwesenheit, während Leandro in seiner Hauptfunktion als Arzt den anderen beiden unterstellt war. Schließlich bedurfte es bei solch einer kleinen Besatzung auch seiner Hilfe bei allen möglichen Tätigkeiten an Bord.

Vor allem sein Verhältnis zu Lu basierte von Anfang an auf Misstrauen und schlug rasch in offene Feindseligkeit um. Das lag vor allem an Lu: Sie versuchte vom ersten Tag an mit allen Mitteln zu verhindern, dass Leandro Titus irgendwie zu nah kommen könnte, und wenn, dann nur in ihrem Beisein. Hatte sie irgendeine Aufgabe in ihrem Tagesplan zu erfüllen, erteilte sie Leandro sofort eine andere, die ihn zwangsläufig isolieren würde. Waren sie alle drei zusammen, beobachtete sie Leandro bei jedem Atemzug aus ihren Augenwinkeln, unterbrach ihn bei jedem Wort und setzte immer wieder darauf, an der pflichtgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben zu zweifeln. „Leandro, hatten wir Dich nicht darum gebeten, die Solarenergiespeicher zu warten? Die sind schon wieder auf 35 Prozent runter... Hast Du gemacht? … Ach was, das scheint mir gar nicht so, ich muss Dir die Sache wohl noch einmal vorzeigen...“ usw. usf.
Ihre Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit; Leandro hasste sie bereits am dritten Tag und stellte ihr seinerseits geschickte 'Fallen', sabotierte ihre Arbeit wo er konnte: zum Beispiel ließ er dann und wann ihren Bosonzähler (als scherzhafte Umschreibung eines auf Quantenmechanik basierenden Werkzeuges, welches bei fast allen Wartungsarbeiten als universelles Prüfgerät verwendet wurde) verschwinden, um sie dann vor Titus höflichst darum zu bitten und in Verlegenheit zu bringen; ein anderes Mal behauptete er steif und fest, er hätte nach ihrem Eingriff die Einstellungen am gravitativen Ausgleichsgenerator wieder korrigieren müssen.

Titus blieb die Fehde schwerlich verborgen; dennoch beließ er es beim morgendlichen Meeting und mit der stetigen Mahnung, dass der kameradschaftliche Zusammenhalt entscheidend für den Erfolg der Mission und das Überleben der Gruppe sei. Vielleicht, dachte sich Leandro, hätte er mit einem strengeren Vorgehen Lu gegenüber ihr tragisches Ende verhindern können. Dann hätte sie sich vor zwei Tagen unter Umständen nicht so furchtbar aufgespielt. Sie 'befahl' Leandro, einen der Akkus, welche außerhalb des Schiffs direkt an den Solarflügeln montiert waren, in die Warteluke zu hieven. Das wäre laut Tagesplan eigentlich ihre Sache gewesen! Nach seiner ersten Verweigerung und einem heftigen Streit zwischen den beiden kam Leandro auf eine bessere Idee und gab vorerst nach, demontierte den Akku und lud den selbigen auf den kontronischen Levitator.
Langsam schwenkte er den Akku in die Luke. „Zeig' mir genau wo das Ding hin soll...“ rief Leandro, als ob er die erwartete Position nicht genau kennen würde.
„Weiter in die Mitte nach rechts, nach rechts, Du Idiot...“ hallte es aus der Luke zurück. Viel Platz gab es dort nicht; der innere Ausgang zum Schiff befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Ladeluke. Es fiel Leandro nicht schwer, Lu diesen Weg zu versperren und sie genau zwischen den Akku und die Wand zu locken. Mit einem plötzlichen Manöver schwenkte er den Arm des Levitators und drückte Lu unerwartet mit dem Akku gegen einen der Träger in der Bordwand.
„Zurück na reecch...“ kreischte sie noch einmal vergeblich, dann verstummte Lu für immer...
Leandro zögerte noch einen kurzen Moment und erwägte die nächsten Schritte, bevor er endlich über den Bordsprechfunk seinen Kommandanten rief. Dieser stürzte heran und verharrte verwirrt vor dem Akku und dem hinter ihm leblos hervorhängenden Arm. Titus' nächste Reaktion war überraschend beherrscht; er bediente selbst den Levitator, um Lu freizugeben, und zog ihren Leichnam hervor.
„Ich habe nur strikt ihren Anweisungen gefolgt...“ entschuldigte sich Leandro. „Augenscheinlich hat sie rechts mit links verwechselt, ich konnte doch nicht ahnen...“
Titus erwähnte kein Wort, blickte nur kurz vorwurfsvoll auf Leandro und dann wieder auf Lu, als wäre er irgendwie verlegen. Dann begriff Leandro: aus Lu's zerquetschtem Leib drängte sich ein Knäul von synthetischen Geweben und Bauteilen, die nichts mit einem menschlichen Körper zu tun hatten. Vor ihnen lagen die Reste eines HUMSYC, ein Android, biotronischer Schrotthaufen...
Leandro war verwirrt, denn nach seiner Kenntnis waren HUMSYCs relativ primitive und vom Menschen leicht zu unterscheidene künstliche Geschöpfe, willenlose und vor allem wenig intelligente Sklaven.
„Du wusstest, dass Lu...?“ - Titus erwiderte noch immer nichts. Er schien nach Antworten zu suchen, genauso wie Leandro: warum hatte man in so eine kleine Besatzung einen HUMSYC eingeschleust? Darin bestand kein offenbarer Vorteil. Und warum hatte ihn Titus nicht eingeweiht? Es war unwahrscheinlich, dass er von Lu's Natur keine Kenntnis hatte... Aus der Tiefe seiner Verwirrung stieg eine dunkle Ahnung auf: Wenn Titus nichts wusste, dann war der selbst ein HUMSYC! Oder andersherum: Wenn er es wusste und Leandro dennoch nicht davon unterrichtete, dann war Titus es ebenfalls! Lu's feindselige Haltung Leandro gegenüber erschien nun weniger merkwürdig, wahrscheinlich versuchten beide, Ihn unter Kontrolle zu halten. Die Fehlfunktion im kryogenischen System bei der Landung war dann mit höchster Wahrscheinlichkeit kein Unfall gewesen, sondern kaltblütiger Mord an der menschlichen Besatzung, welcher man den fünfmonatigen Flug zum Mars aus verschiedenen Gründen erspart hatte. Doch wozu brauchten die beiden Ihn? Zu welchem besonderen Zweck war er bestimmt?

Als der Schlaf langsam aber stetig in ihn zu kriechen schien, schreckte Leandro unversehens auf. Ein merkwürdiges Geräusch hatte für einen kurzen Augenblick das monotone Summen aus den Schaltschränken übertönt. Leandro horchte gespannt. Mehrere Sekunden... Stille... Da wieder! Ein metallenes Ächzen, wie ein im Sonnenwind kämpfendes Schiff, doch nur in kurzen Intervallen. Sicherlich war es Titus, der versuchte, auf irgendeine Weise an Bord zu gelangen und sich gewaltsam an einer der Luken zu schaffen machte. Nach kurzer Überlegung beruhigte sich Leandro wieder: die Mayflower war für den Raumflug gebaut worden. Selbst mit einer Ladung herkömmlichen Sprengstoffs könnte man die Luken nicht ohne weiteres aufreißen; jeder Versuch, sie mit speziellen Werkzeugen aufzubohren oder zu schneiden war mehr oder weniger aussichtslos. Das Material war härter und widerstandsfähiger als Diamant. Leandro schaltete die Beleuchtung fast vollkommen aus und lief erneut von einer der Aussichtsluken zur anderen, um dort umsonst in die Dunkelheit zu starren; dann horchte er mit aller Anstrengung mehrere Minuten lang. Das Geräusch kehrte nicht wieder zurück...
Was würde Titus mit ihm anstellen, wenn er doch ins Schiff gelänge? Seit jenem verhängnisvollen Tag waren sie sich gegenseitig wie zwei feindlich gesinnte Raubtiere ausgewichen, jeder auf den ersten Fehler des anderen bedacht. Titus hatte ihn noch gebeten, seinen Bosonzähler zu holen, als wolle er noch irgendetwas an Lu herummessen. Als Leandro zurückkehrte, hatte Titus Lu's Überreste bereits entsorgt und ihm ohne eine Erklärung das Werkzeug aus der Hand genommen.
„Sieh' zu, dass der Akku wieder in Ordnung kommt. Über den Rest reden wir später.“ - Dann verschwand der Kommandant für mehrere Stunden in seiner Kammer. Als er wieder herauskam, machte er einen entschlossenen Eindruck, rief Leandro zu sich und erklärte ihm eindringlich die Tagesplanung zu zweit und dass er absolute Disziplin verlangte, um das endgültige Scheitern der Mission zu verhindern.

Leandro wurde sofort klar, dass Titus nur Zeit schindete und nach einem Plan suchte, ihn zu beseitigen. Als HUMSYC war sich Titus der unberechenbaren Intelligenz des Menschen sicherlich bewusst. Er konnte nicht einfach mit dem Bosonzähler oder irgendeinem anderen Gerät auf Leandro losgehen, der Ausgang dieses Versuchs war nicht vorhersehbar. Die offensichtlichste Variante war die, ihn im Schlaf zu töten. Leandro selbst konnte dafür nicht in Titus' Kabine, die war absolut gesichert, sein Gegner also im Vorteil. Gegen den Schlaf zu kämpfen war aussichtslos; als jener an den letzten beiden Abenden zur gewohnten Zeit unwiderstehlich im Anmarsch war, versteckte sich Leandro in einem der Belüftungsschächte. Glücklicherweise fand ihn Titus dort nicht. Nur als Leandro morgens wieder auf der Brücke erschien, fragte ihn Titus mit einem bedeutungslosen Lächeln, ob er auch gut geschlafen hätte.
In Wirklichkeit beobachte Titus ihn argwöhnisch auf Schritt und Schritt; wartete nur auf den geeigneten Augenblick, seinen Plan der Rache in die Tat umzusetzen. Leandro ließ sich nichts anmerken, grübelte aber verzweifelt, wie er Titus zuvorkommen könnte.

Dann beging Titus einen entscheidenden Fehler: „Leandro, morgen werde ich wieder zur Basisstation fahren, um zu sehen, wie wir dort die Arbeit wieder aufnehmen. Du bleibst vorläufig zur Sicherung des Schiffes auf der Brücke.“
Leandro stutzte: auch wenn Titus gewöhnlich allein zur Basisstation fuhr, müsste er unter den gegebenen Umständen Leandro mitnehmen, um ihn im Auge zu behalten. Immerhin war es nicht strikt notwendig, dass jemand auf dem Schiff verbliebe. Wenn Titus allein zur Station wollte, dann doch mit Sicherheit, um sich irgendetwas für ihn Wichtiges zu besorgen. Was dies auch immer war, es gehörte zu Titus' dunklen Plänen. Da zündete Leandro der Gedanke: er bräuchte doch nur das Schiff zu verriegeln, so dass Titus... Das war einfacher gesagt als getan: als Kommandant hatte Titus mehrere Geheimcodes, die für das Öffnen der Luken benutzt wurden. Darauf schien sich Titus zu verlassen. Doch man könnte vielleicht irgendwie..., ja natürlich! Man könnte das Sicherheitssystem soweit beschädigen, dass die Luken nur noch von Hand zu bedienen wären. Leandro wusste zuerst noch nicht, wie er dies bewerkstelligen solle, vertraute aber seinen Fähigkeiten und fasste einen Entschluss. Eines hatten sie dem HUMSYC Titus wohl nicht eingelötet: die Einsicht, dass ihm menschliche Intelligenz überlegen war! Wie naiv solch ein Miststück von Android am Ende doch war...

Die nächsten Sekunden drosselten Leandro's Gedanken bis zum Stillstand. Er versuchte einen Moment lang zu begreifen, was geschehen war. Er saß wie vorher im nur spärlich erleuchteten Brückenstand und doch... nach einem kurzen Flackern und Klicken war das monotone Summen der Schaltschränke leiser geworden, die Lichter weniger... Leandro schauderte: das Energiesystem hatte sich auf Notversorgung umgeschaltet! Oder war von jemandem umgeschaltet worden... Er konzentrierte sich mit aller Anstrengung: Nein, er hatte den Zugang von außen für alle Luken unmöglich gemacht! Schwer war ihm das am Ende nicht gefallen. Das Bedienungspad war mit demselben Material wie das gesamte Schiff geschützt, d.h. mit einer Platte bekleidet, welche man nur mit einer Art Laserschlüssel öffnen konnte. Einen hatte Leandro selbst und einen persönlichen Code für jede Luke. Einmal geöffnet, hatte er die Bedienungsfelder und deren Sensoreinheiten zertrümmert und sich danach vergewissert, dass jede Luke nur noch mechanisch zu betätigen war. So hatte er eine nach der anderen von innen verschlossen, wie in einer besetzten Festung.
Er grübelte, welche anderen Ursachen für den Zwischenfall verantwortlich sein könnten. Um die Solarbatterien zu überprüfen, müsste er das Schiff verlassen. Ihm dämmerte, dass sie Titus womöglich schon vor Stunden außer Betrieb gesetzt hatte. Waren die Batterien im Schiff unter einen kritischen Wert gesunken, würden sie sich den Strom von den Akkus draußen holen. Leandro fluchte: an diese Einzelheit hatte er in der Tat nicht gedacht! Doch nach einiger Überlegung beruhigte er sich erneut. Die Situation war klar: weiteren Schaden konnte Titus eigentlich nicht anstellen. Leandro war noch immer in Sicherheit; er musste jetzt nur mit dem Notsystem auskommen, einige Tage würde es sicherlich funktionieren. Er war nach wie vor mit allen lebensnotwendigen Dingen ausgestattet.

„Meinst Du wirklich, ich hätte nicht vorgesorgt und mir einen Eingang offen gehalten?“
Leandro fuhr herum. Wenige Meter vor ihm nahm er im Halbdunkel einen Schatten wahr. Titus! Leandro starrte auf die Gestalt und das Werkzeug in seiner rechten Hand. Die Kontrolllämpchen ließen wenig Zweifel: Titus war nicht zu Späßen aufgelegt. Der Laserschneider war eins der wichtigsten Werkzeuge für den Aufbau der Basisstation, bis zu einer Entfernung von zwanzig Metern aber auch eine absolut tödliche Waffe.
„Wie bist Du … ? Hör zu, Titus. Wie Du selbst sagst, wir brauchen uns gegenseitig. Ich hatte einfach nur Angst, es war ein Fehler. Das ist doch menschlich! Tut mir wirklich leid, kommt kein zweites Mal vor... Und wenn Du mich jetzt einfach so kaltmachst, musst Du Dir immer noch eine gute Ausrede einfallen lassen. Du weißt, in wenigen Wochen trifft das Schwesterschiff ein. Als biotronischer Racheengel lassen die Dich nicht so ohne Weiteres am Leben... äh, ich meine eingeschaltet.“
Titus lachte kurz auf. „Weißt DU mein Freund, dass es gar kein Schwesterschiff gibt? Und dass ich auch ganz ohne Dich wieder nach Hause komme? Schau' doch jetzt ganz einfach mal kurz auf Deinen Bauch!“
Leandro senkte den Kopf. In einer Zehntelsekunde spielte er alle möglichen Auswegvarianten durch, dann holte er einmal tief Atem, spannte seinen Körper wie eine Feder und setzte zum Sprung an...
Der kam zu spät: schon im nächsten Augenblick sah Leando sein letztes Bild, als ihn ein blauer Strahl jäh in zwei Teile trennte...
***​

Logeingabe 04-08-2053: Drittes Model „Leandro“ ebenfalls deaktiviert; Experimente somit abgeschlossen. Bestätigung der ersten Ergebnisse: durchschnittliche Intelligenz, dennoch irrationales Vorgehen in Stresssituationen. Stark ausgeprägte Empathiestörung und paranoide Persönlichkeit, misstrauisch, leidet an Verschwörungswahn. Schon nach wenigen Tagen stellen sich extrem aggressive Verhaltungsmuster ein, für den Rest der Besatzung lebensbedrohlich.
Resultat: Negativ; für weitere Einsätze mit dem Menschen vollkommen untauglich.


Titus schaltete die Logeingabe wieder aus und seufzte erleichtert. Seine Aufgaben waren beendet. Hatte er auf der einen Seite alle Entladungsarbeiten erfolgreich ausgeführt und mehrere Tonnen Material in die neue Basisstation geschafft, war der zweite Teil der Mission ein deutlicher Misserfolg: das neue HUMSYC-Spitzenprodukt hatte sich als Riesen-Flop erwiesen. Nach seiner Rückkehr würden nicht wenige versuchen, ihm die Schuld in die Schuhe zu schieben; vielleicht hätte er nicht die Fähigkeiten, um angemessen mit seinen biotronischen Untertanen umzugehen. Vor allem die wirklichen Auftraggeber der Mission, die Vetreter der Red & Yellow River Mining Corporation, würden viele unangenehme Fragen stellen, und nicht nur diese, und nicht nur ihm. Die Corporation benutze schon seit 15 Jahren erfolgreich HUMSYCs und ähnliche technologische Vorgänger in ihren Minen, in denen zwischen allen möglichen Erfindungen modernster Robotertechnik kaum noch Menschen anzufinden waren. Sie hatten sich auf die Versprechen ihrer japanischen Partnerfirma und deren Hi-Tech-Labors verlassen! Auch die PAJOSpAg würde in Frage stellen, wohin die Millionen von Forschungsgeldern geflossen waren und zu welchem Nutzen, wenn die neuen HUMSYCs nicht nur nutzlos, sondern sogar gefährlich waren. Sollte irgendjemand die Projektberichte und Testergebnisse der Japaner genauer lesen, würde man zugeben, dass diese zu einem gewissen Ausmaß fabriziert worden waren, um die Finanzierung der PAJOSpAg und der Corporation nicht zu verlieren? Gäbe es dann wieder irgendeine ofizielle Version, die die Verschwendung öffentlicher Gelder in den schönsten Sternenstaub malen würde? Nur eins schien Titus sicher: die Corporation würde früher oder später ihre Ziele durchsetzen und sich ihre Vorrechte auf dem Mars sichern. Sie würde neue Mitglider in den Vorstand der PAJOSpAg wählen; es würden neue Forschungsgelder fließen, vielleicht hätte ein neuer Leandro mehr Glück; und sogar einen neuen Titus für die nächste Suizid-Mission würde die Corporation allemal finden.

Wenigstens in diesem Moment war Titus dies alles eigentlich egal. Der letzte und schönste Abschnitt der Mission konnte endlich beginnen: die Rückkehr zur Erde. Er würde jetzt mit einer letzten Eingabe im System den Startprozess einleiten und brauchte dann nicht weiter einzugreifen, unvorhergesehene Zwischenfälle ausgeschlossen. Der Bordcomputer würde sich den optimalen Zeitpunkt zum Abhebemanöver selbst errechnen und es dann ohne menschliche Hilfe ausführen. Das Bordsystem würde den Flug so lange kontrollieren, bis die Zeit für die direkte Kommunikation mit der Zentrale auf der Erde auf etwa zwei Minuten abgesunken war; danach würde jene die Steuerung übernehmen.

Titus überlegte: die Reise wäre auf einer Seite angenehm, auf der anderen aber auch etwas langweilig. Ein Lu-Modell war noch verfügbar, es müsste nur mit dem richtigen Programm („Mission vorzeitig abgebrochen – Aufenthalt auf dem Mars hat nie stattgefunden“) aus dem vorgetäuschten Kryo-Schlaf geholt werden. Die neue Lu würde sicher nicht weiter gefährlich werden, dachte er sich. Doch sie wäre genauso gefühlsarm und zum Teil neurotisch veranlagt wie ihre Vorgängerinnen und das mechanische Abspulen ihrer eingespeicherten Erinnerungen wollte er nicht ein drittes Mal über sich ergehen lassen. Und überhaupt hatte er es satt, seine Mahlzeiten heimlich und versteckt in seiner Kabine zu sich zu nehmen, gewöhnlich eine gute Stunde nachdem die vermeintlichen Ernährungsersatzpillen seine künstlichen Gefährten für etwa acht Stunden in ihren 'Schlafzustand' versetzt hatten. Nein! - Auf der Rückreise würde er jeden Tag auf dem Brückenstand speisen, und wenn ihm danach war, mit einem Buch in der Hand und mit den Füßen auf der Konsole...
Noch eine weitere Entscheidung wollte er Vor dem Abflug fällen. Sie war schnell und einfach in die Tat umzusetzen und eigentlich hatte er sie ja schon auf der Erde getroffen: denn seinen Lieblings-Château hatte er sich eigens für den Tag des Heimflugs bestellt. Wildbraten würde doch recht gut dazu passen...
 

Tula

Mitglied
Leandro

Leandro stand an einer der Aussichtsluken des Brückenstands und beäugte die öde Marslandschaft, die sich im Halbdunkel bis an den Horizont erstreckte. Von Titus keine Spur... Dennoch brauchte er sich nicht zu sorgen. Titus würde erst in etwa zwei Stunden zurückkommen und dann vergeblich versuchen, sich auf die übliche Weise Zugang in das Schiff zu verschaffen. Denn Leandro hatte dieses vor Minuten hermetisch verschlossen; es war jetzt unmöglich, von außen irgendeinen seiner Einstiege ohne direkte Mithilfe von innen zu öffnen.

Die Gefahr, die von seinem Gegner ausging, war also gebannt; Leandro war in Sicherheit. Er sann darüber nach, wie lange man es wohl als Android dort draußen in der eisigen Kälte der Marsnacht aushalten könnte. Am Ende, fand er, dürfte das unwesentlich sein; selbst wenn er die ersten Nächte überstehen sollte, Titus war zu seinem Ende verurteilt worden. Und auf dieses konnte Leandro jetzt in aller Ruhe warten. Es bestand kein Zweifel: die Mayflower-II gab ihm alles, was er brauchte, um sich für mehrere Monate am Leben zu erhalten, auch wenn das Schiff ohne Besatzung nicht raumflugfähig war. Das reichte aus, denn das zweite Schiff der Expedition war schon unterwegs. Ohne jenes wäre auch dieser Versuch, endlich eine dauerhafte menschliche Besiedlung auf Mars zu schaffen, bereits gescheitert gewesen. Doch man hatte aus der ersten, tragischen Erfahrung gelernt. Das Schicksal der Ehrgeizigen zieht seltsame Kreise... ging es Leandro durch den Sinn. Für einen Augenblick schweiften die Gedanken in seine Kindheit zurück...

Damals, im Sommer 2047, war er gerade 12 Jahre alt gewesen. Er verfolge wie die gesamte Menschheit die erste Expedition mit einer Besatzung von fünf Astronauten, die während eines Aufenthalts von etwa vier Monaten eine erste Basisstation auf dem roten Planeten errichten sollte. Doch auf der Mission schien ein böser Fluch zu lasten, denn sie wurde von einer technischen Panne nach der anderen heimgesucht. Nach einer Art Bruchlandung kämpfte die Besatzung um die Erhaltung der kritischen Systeme, in erster Linie weil mehrere Solarflügel beschädigt ausgefallen waren und somit weniger als ein Drittel der erwarteten Energie zur Verfügung stand. Dadurch waren die Arbeiten an der Basisstation stark eingeschränkt; dennoch liefen sie, wenn auch mit großen Schwierigkeiten, an. Die technischen Ausfälle häuften sich leider: irgendwann fiel zeitweise die Lufterneuerung im Schiff aus, dann war es die Steuerung der Antennen, schließlich traf es das wichtigste aller Systeme: ein Kurzschluss in der Klimatisierung der Vorratsräume führte zu einem Brand mit erheblichen Schäden, der mit einem Schlag mehr als drei Viertel der Lebensmittel vernichtete. Die Nachricht lief wie eine Schockwelle über die Erde: die Besatzung hatte plötzlich nur noch für drei Wochen Vorräte, viel zu wenig, um erfolgreich eine Rettungsmission zu starten. Alle Varianten wurden damals durchgespielt, die Mindestenergie pro Besatzungsmitglied neu errechnet, ausgeklügelte Überlebensstrategien jedweder Art in Erwägung gezogen... Doch alles umsonst, es fehlten Monate, um die Mannschaft noch retten zu können. Die Katastrophe war unvermeidlich. Über das allerletzte Ende kreisten jahrelang mehrere Theorien; die offizielle bezeugte einen heldenhaften, gemeinschaftlichen Suizid, als sich in der Besatzung die ersten Anzeichen der Verzweiflung und einer durch den Hunger bedingten Aggressivität zwischen den Astronauten einstellten.
Das Schicksal der Mission faszinierte Leandro auf magische Weise für den Rest seines Lebens: er wollte Astronaut werden! Einen typischen Berufsweg gab es nicht dafür, schon gar nicht in seiner chilenischen Heimat. Leandro studierte mehrere Naturwissenschaften und spezialisierte sich danach auf den Gebieten der Raumfahrtmedizin und primitiver Biologie. Er bewarb sich hartnäckig mehrere Male bei bekannten, hauptsächlich chinesischen, Forschungslabors und Unternehmen, bis er schließlich sein Ziel erreichte: seine persönliche Beteiligung an der Mayflower-II Mission, welche von der PAJOSpAg (Pacific Joint Space Agency) und seinen bedeutendsten Mitgliedsländern (China, Japan, USA) mit größter Diskretion über mehr als ein Jahrzehnt vorbereitet wurde. Leandro war einer der allerersten Mitarbeiter; die Einladung für die direkte Teilnahme am Flug kam jedoch völlig unverhofft erst vor drei Jahren.

Leandro wurde unvermittelt von der Signalleuchte und der mit ihr verbundenen Sirene aus seinen Gedanken gerissen. Titus war eingetroffen und verlangte Kommunikation mit der Brücke! Das Flackern und schrille Heulen dauerte eine geraume Zeit, um nach einer Pause von mehreren Minuten erneut zu erwachen. Rrruungh, rruungh... der Lärm der Sirene war schlichtweg nervend! Leandro vermutete, dass Titus in der Zwischenzeit um das Schiff gelaufen war, um alle möglichen Luken und Einstiege zu überprüfen. Er schlich sich abwechselnd an die insgesamt vier Aussichtsluken und spähte vergeblich nach draußen. Schließlich gab er nach und stellte den Sprechkanal frei; zum einen konnte er das Notsignalsystem selbst nicht ohne weiteres abschalten, zum anderen quälte ihn die Versuchung, seinem Gegner persönlich die Niederlage zu diktieren:
„Titus, das Schiff wird jetzt von mir kommandiert. Aus Sicherheitsgründen kannst Du nicht wieder an Bord zurück. Tut mir leid.“
„Bist Du jetzt total durchgeknallt?“ dröhnte es durch den Brückenstand. „Ich habe Dir heut' morgen klargemacht, dass wir uns beide gegenseitig brauchen, um durchzuhalten. Alles andere ist jetzt erstmal nebensächlich.“
Leandro schwieg; er wusste nur zu gut, dass sich sein Gegner verstellte; dieser kannte alle Systeme an Bord auswendig und wäre in der Lage, sich aus jeder technischen Notsituation selbst herauszuziehen. Titus würde ihn bei der erstbesten Gelegenheit beseitigen; schon den anstehenden Kampf um das - Wer als erster schläft, schläft für immer... - würde Titus gewinnen, schon weil der als HUMSYC (Humanoid Synthetic Form of Life), wie man Androids jetzt vornehmer bezeichnete, eigentlich keinen Schlaf zu seinem Fortbestehen benötigte.
„Leandro! Wir haben jeder für sich allein kaum eine Chance. Das Schiff wurde für eine Besatzung von sechs entworfen, um es auf Dauer zu bedienen und zu warten. Wir hatten schon zu dritt ein Problem, zu zweit wird es schwer genug, allein wirst Du bei der nächsten Havarie irgendeines Versorgungssystems verrecken. Du bist kein Ingenieur, Mann, sondern unser Arzt! Und als solcher bin ich auch auf Dich angewiesen. Begreif das endlich!“
Leandro kannte diese Argumente seit seinem ersten Tag an Bord. Beeindruckt hatten sie ihn noch nie. „Ich kann lesen, Titus. Handbücher finde ich genug im System und zum Lesen habe ich jetzt viel Zeit. Du machst mir ohnehin nichts vor. Ich weiß genau, was Du mit mir vorhast.“
Titus gab noch nicht auf: „Was Du Dir da einredest, ist totaler Schwachsinn. Selbst Lu hätte Dir kein Haar gekrümmt; sie war nicht darauf programmiert. Ich will mich auch nicht an Dir rächen; was passiert ist, ist passiert, es war ein Unfall. Als solchen habe ich ihn auch berichtet. Also mach jetzt bitte auf, mein Sauerstoff reicht kaum für...“

Leandro schaltete den Kanal wieder ab, er wollte nicht weiterhören. Titus' Gelaber war nichts als ein Schwall von Täuschungsversuchen. Was der in seine täglichen Berichte faselte, war ihm unbekannt und als Aufzeichnungen auch nicht zugänglich. Zum einen müsste er dazu irgendwie die Tür zu Titus' Kabine aufbrechen; zum anderen kannte nur Titus den Sicherheitscode für die Logapplikation der Mission.
Überraschenderweise verstummte das Signalsystem nach einem kurzen Augenblick. Titus hatte wohl eingesehen, dass er auf diese Weise seinen Kontrahenten nicht weich bekommen würde. Leandro indessen versuchte, sich abzulenken und bereitete sich für die Nacht vor. Sein Abendbrot nahm er zur gewohnten Stunde; eine tägliche Routine und im Handumdrehen erledigt, denn es bestand aus nicht mehr als einer Pille. In seiner gegenwärtigen Lage wollte sich Leandro gerade darüber nicht beklagen. Man hatte die Pillen schließlich extra für die neue Mission erfunden, um das Risiko eines erneuten Hungerdramas entscheidend zu verringern. Ähnlich wie beim Militär bekamen alle einmal pro Tag eine komprimierte Kalorienbombe, die dann im Verlauf von 24 Stunden langsam vom Körper absorbiert wurde, ohne dass der Mensch in plötzliche Hungergefühle verfiele. Eine langweilige, aber doch geniale Lösung; wenigstens darüber waren sich die drei nie uneinig gewesen.

Darauf machte Leandro es sich so gut wie es ging gemütlich. In seiner Kabine jedenfalls wollte er heute nicht schlafen, sondern für den Fall der Fälle auf dem Brückenstand bleiben. Immerhin war es seine erste Nacht als neuer Kommandant. Wieder verfiel er in Erinnerungen an die Ereignisse der letzten zwei Wochen. Schon vom ersten Tag an war er von Titus und Lu nicht als gleichberechtigtes Mitglied der Besatzung behandelt worden. Als sie ihn aus dem Kryo-Schlaf holten, teilten sie ihm mit, dass bei der Landung sowohl die Triebwerke als auch das kryogenische System schwer beschädigt worden waren. Er war der einzige, bei dem wie durch ein Wunder die Temperatur noch nicht den kritischen Schwellwert überschritten hatte. Weniger als eine Minute später und er läge mit den anderen Kadavern im 'Kühlschrank', wie sie es nannten.
Die Mission befand sich deshalb in einer Art Ausnahmezustand; die Aufgabe bestand nicht mehr nur im Projekt der Basisstation, auch wenn Titus fast jeden Tag einen Teil der im Schiff verstauten Ladung, Kisten jeder Abmessung und Gewichtes, mit dem 'Schlitten', wie er ihn gern nannte, dorthin brachte. Nein, sie bestand nach Titus' täglichen Erläuterungen jetzt hauptsächlich im Überleben bis zum Eintreffen des bereits gestarteten Schwesterschiffs, mit der zweiten Gruppe der Mission, innerhalb von drei Monaten. Titus hatte das Generalkommando inne, Lu war zweiter Offizier und Titus' Vertretung in seiner Abwesenheit, während Leandro in seiner Hauptfunktion als Arzt den anderen beiden unterstellt war. Schließlich bedurfte es bei solch einer kleinen Besatzung auch seiner Hilfe bei allen möglichen Tätigkeiten an Bord.

Vor allem sein Verhältnis zu Lu basierte von Anfang an auf Misstrauen und schlug rasch in offene Feindseligkeit um. Das lag vor allem an Lu: Sie versuchte vom ersten Tag an mit allen Mitteln zu verhindern, dass Leandro Titus irgendwie zu nah kommen könnte, und wenn, dann nur in ihrem Beisein. Hatte sie irgendeine Aufgabe in ihrem Tagesplan zu erfüllen, erteilte sie Leandro sofort eine andere, die ihn zwangsläufig isolieren würde. Waren sie alle drei zusammen, beobachtete sie Leandro bei jedem Atemzug aus ihren Augenwinkeln, unterbrach ihn bei jedem Wort und setzte immer wieder darauf, an der pflichtgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben zu zweifeln. „Leandro, hatten wir Dich nicht darum gebeten, die Solarenergiespeicher zu warten? Die sind schon wieder auf 35 Prozent runter... Hast Du gemacht? … Ach was, das scheint mir gar nicht so, ich muss Dir die Sache wohl noch einmal vorzeigen...“ usw. usf.
Ihre Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit; Leandro hasste sie bereits am dritten Tag und stellte ihr seinerseits geschickte 'Fallen', sabotierte ihre Arbeit wo er konnte: zum Beispiel ließ er dann und wann ihren Bosonzähler (als scherzhafte Umschreibung eines auf Quantenmechanik basierenden Werkzeuges, welches bei fast allen Wartungsarbeiten als universelles Prüfgerät verwendet wurde) verschwinden, um sie dann vor Titus höflichst darum zu bitten und in Verlegenheit zu bringen; ein anderes Mal behauptete er steif und fest, er hätte nach ihrem Eingriff die Einstellungen am gravitativen Ausgleichsgenerator wieder korrigieren müssen.

Titus blieb die Fehde schwerlich verborgen; dennoch beließ er es beim morgendlichen Meeting und mit der stetigen Mahnung, dass der kameradschaftliche Zusammenhalt entscheidend für den Erfolg der Mission und das Überleben der Gruppe sei. Vielleicht, dachte sich Leandro, hätte er mit einem strengeren Vorgehen Lu gegenüber ihr tragisches Ende verhindern können. Dann hätte sie sich vor zwei Tagen unter Umständen nicht so furchtbar aufgespielt. Sie 'befahl' Leandro, einen der Akkus, welche außerhalb des Schiffs direkt an den Solarflügeln montiert waren, in die Warteluke zu hieven. Das wäre laut Tagesplan eigentlich ihre Sache gewesen! Nach seiner ersten Verweigerung und einem heftigen Streit zwischen den beiden kam Leandro auf eine bessere Idee und gab vorerst nach, demontierte den Akku und lud den selbigen auf den kontronischen Levitator.
Langsam schwenkte er den Akku in die Luke. „Zeig' mir genau wo das Ding hin soll...“ rief Leandro, als ob er die erwartete Position nicht genau kennen würde.
„Weiter in die Mitte nach rechts, nach rechts, Du Idiot...“ hallte es aus der Luke zurück. Viel Platz gab es dort nicht; der innere Ausgang zum Schiff befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Ladeluke. Es fiel Leandro nicht schwer, Lu diesen Weg zu versperren und sie genau zwischen den Akku und die Wand zu locken. Mit einem plötzlichen Manöver schwenkte er den Arm des Levitators und drückte Lu unerwartet mit dem Akku gegen einen der Träger in der Bordwand.
„Zurück na reecch...“ kreischte sie noch einmal vergeblich, dann verstummte Lu für immer...
Leandro zögerte noch einen kurzen Moment und erwägte die nächsten Schritte, bevor er endlich über den Bordsprechfunk seinen Kommandanten rief. Dieser stürzte heran und verharrte verwirrt vor dem Akku und dem hinter ihm leblos hervorhängenden Arm. Titus' nächste Reaktion war überraschend beherrscht; er bediente selbst den Levitator, um Lu freizugeben, und zog ihren Leichnam hervor.
„Ich habe nur strikt ihren Anweisungen gefolgt...“ entschuldigte sich Leandro. „Augenscheinlich hat sie rechts mit links verwechselt, ich konnte doch nicht ahnen...“
Titus erwähnte kein Wort, blickte nur kurz vorwurfsvoll auf Leandro und dann wieder auf Lu, als wäre er irgendwie verlegen. Dann begriff Leandro: aus Lu's zerquetschtem Leib drängte sich ein Knäul von synthetischen Geweben und Bauteilen, die nichts mit einem menschlichen Körper zu tun hatten. Vor ihnen lagen die Reste eines HUMSYC, ein Android, biotronischer Schrotthaufen...
Leandro war verwirrt, denn nach seiner Kenntnis waren HUMSYCs relativ primitive und vom Menschen leicht zu unterscheidene künstliche Geschöpfe, willenlose und vor allem wenig intelligente Sklaven.
„Du wusstest, dass Lu...?“ - Titus erwiderte noch immer nichts. Er schien nach Antworten zu suchen, genauso wie Leandro: warum hatte man in so eine kleine Besatzung einen HUMSYC eingeschleust? Darin bestand kein offenbarer Vorteil. Und warum hatte ihn Titus nicht eingeweiht? Es war unwahrscheinlich, dass er von Lu's Natur keine Kenntnis hatte... Aus der Tiefe seiner Verwirrung stieg eine dunkle Ahnung auf: Wenn Titus nichts wusste, dann war der selbst ein HUMSYC! Oder andersherum: Wenn er es wusste und Leandro dennoch nicht davon unterrichtete, dann war Titus es ebenfalls! Lu's feindselige Haltung Leandro gegenüber erschien nun weniger merkwürdig, wahrscheinlich versuchten beide, Ihn unter Kontrolle zu halten. Die Fehlfunktion im kryogenischen System bei der Landung war dann mit höchster Wahrscheinlichkeit kein Unfall gewesen, sondern kaltblütiger Mord an der menschlichen Besatzung, welcher man den fünfmonatigen Flug zum Mars aus verschiedenen Gründen erspart hatte. Doch wozu brauchten die beiden Ihn? Zu welchem besonderen Zweck war er bestimmt?

Als der Schlaf langsam aber stetig in ihn zu kriechen schien, schreckte Leandro unversehens auf. Ein merkwürdiges Geräusch hatte für einen kurzen Augenblick das monotone Summen aus den Schaltschränken übertönt. Leandro horchte gespannt. Mehrere Sekunden... Stille... Da wieder! Ein metallenes Ächzen, wie ein im Sonnenwind kämpfendes Schiff, doch nur in kurzen Intervallen. Sicherlich war es Titus, der versuchte, auf irgendeine Weise an Bord zu gelangen und sich gewaltsam an einer der Luken zu schaffen machte. Nach kurzer Überlegung beruhigte sich Leandro wieder: die Mayflower war für den Raumflug gebaut worden. Selbst mit einer Ladung herkömmlichen Sprengstoffs könnte man die Luken nicht ohne weiteres aufreißen; jeder Versuch, sie mit speziellen Werkzeugen aufzubohren oder zu schneiden war mehr oder weniger aussichtslos. Das Material war härter und widerstandsfähiger als Diamant. Leandro schaltete die Beleuchtung fast vollkommen aus und lief erneut von einer der Aussichtsluken zur anderen, um dort umsonst in die Dunkelheit zu starren; dann horchte er mit aller Anstrengung mehrere Minuten lang. Das Geräusch kehrte nicht wieder zurück...
Was würde Titus mit ihm anstellen, wenn er doch ins Schiff gelänge? Seit jenem verhängnisvollen Tag waren sie sich gegenseitig wie zwei feindlich gesinnte Raubtiere ausgewichen, jeder auf den ersten Fehler des anderen bedacht. Titus hatte ihn noch gebeten, seinen Bosonzähler zu holen, als wolle er noch irgendetwas an Lu herummessen. Als Leandro zurückkehrte, hatte Titus Lu's Überreste bereits entsorgt und ihm ohne eine Erklärung das Werkzeug aus der Hand genommen.
„Sieh' zu, dass der Akku wieder in Ordnung kommt. Über den Rest reden wir später.“ - Dann verschwand der Kommandant für mehrere Stunden in seiner Kammer. Als er wieder herauskam, machte er einen entschlossenen Eindruck, rief Leandro zu sich und erklärte ihm eindringlich die Tagesplanung zu zweit und dass er absolute Disziplin verlangte, um das endgültige Scheitern der Mission zu verhindern.

Leandro wurde sofort klar, dass Titus nur Zeit schindete und nach einem Plan suchte, ihn zu beseitigen. Als HUMSYC war sich Titus der unberechenbaren Intelligenz des Menschen sicherlich bewusst. Er konnte nicht einfach mit dem Bosonzähler oder irgendeinem anderen Gerät auf Leandro losgehen, der Ausgang dieses Versuchs war nicht vorhersehbar. Die offensichtlichste Variante war die, ihn im Schlaf zu töten. Leandro selbst konnte dafür nicht in Titus' Kabine, die war absolut gesichert, sein Gegner also im Vorteil. Gegen den Schlaf zu kämpfen war aussichtslos; als jener an den letzten beiden Abenden zur gewohnten Zeit unwiderstehlich im Anmarsch war, versteckte sich Leandro in einem der Belüftungsschächte. Glücklicherweise fand ihn Titus dort nicht. Nur als Leandro morgens wieder auf der Brücke erschien, fragte ihn Titus mit einem bedeutungslosen Lächeln, ob er auch gut geschlafen hätte.
In Wirklichkeit beobachte Titus ihn argwöhnisch auf Schritt und Schritt; wartete nur auf den geeigneten Augenblick, seinen Plan der Rache in die Tat umzusetzen. Leandro ließ sich nichts anmerken, grübelte aber verzweifelt, wie er Titus zuvorkommen könnte.

Dann beging Titus einen entscheidenden Fehler: „Leandro, morgen werde ich wieder zur Basisstation fahren, um zu sehen, wie wir dort die Arbeit wieder aufnehmen. Du bleibst vorläufig zur Sicherung des Schiffes auf der Brücke.“
Leandro stutzte: auch wenn Titus gewöhnlich allein zur Basisstation fuhr, müsste er unter den gegebenen Umständen Leandro mitnehmen, um ihn im Auge zu behalten. Immerhin war es nicht strikt notwendig, dass jemand auf dem Schiff verbliebe. Wenn Titus allein zur Station wollte, dann doch mit Sicherheit, um sich irgendetwas für ihn Wichtiges zu besorgen. Was dies auch immer war, es gehörte zu Titus' dunklen Plänen. Da zündete Leandro der Gedanke: er bräuchte doch nur das Schiff zu verriegeln, so dass Titus... Das war einfacher gesagt als getan: als Kommandant hatte Titus mehrere Geheimcodes, die für das Öffnen der Luken benutzt wurden. Darauf schien sich Titus zu verlassen. Doch man könnte vielleicht irgendwie..., ja natürlich! Man könnte das Sicherheitssystem soweit beschädigen, dass die Luken nur noch von Hand zu bedienen wären. Leandro wusste zuerst noch nicht, wie er dies bewerkstelligen solle, vertraute aber seinen Fähigkeiten und fasste einen Entschluss. Eines hatten sie dem HUMSYC Titus wohl nicht eingelötet: die Einsicht, dass ihm menschliche Intelligenz überlegen war! Wie naiv solch ein Miststück von Android am Ende doch war...

Die nächsten Sekunden drosselten Leandro's Gedanken bis zum Stillstand. Er versuchte einen Moment lang zu begreifen, was geschehen war. Er saß wie vorher im nur spärlich erleuchteten Brückenstand und doch... nach einem kurzen Flackern und Klicken war das monotone Summen der Schaltschränke leiser geworden, die Lichter weniger... Leandro schauderte: das Energiesystem hatte sich auf Notversorgung umgeschaltet! Oder war von jemandem umgeschaltet worden... Er konzentrierte sich mit aller Anstrengung: Nein, er hatte den Zugang von außen für alle Luken unmöglich gemacht! Schwer war ihm das am Ende nicht gefallen. Das Bedienungspad war mit demselben Material wie das gesamte Schiff geschützt, d.h. mit einer Platte bekleidet, welche man nur mit einer Art Laserschlüssel öffnen konnte. Einen hatte Leandro selbst und einen persönlichen Code für jede Luke. Einmal geöffnet, hatte er die Bedienungsfelder und deren Sensoreinheiten zertrümmert und sich danach vergewissert, dass jede Luke nur noch mechanisch zu betätigen war. So hatte er eine nach der anderen von innen verschlossen, wie in einer besetzten Festung.
Er grübelte, welche anderen Ursachen für den Zwischenfall verantwortlich sein könnten. Um die Solarbatterien zu überprüfen, müsste er das Schiff verlassen. Ihm dämmerte, dass sie Titus womöglich schon vor Stunden außer Betrieb gesetzt hatte. Waren die Batterien im Schiff unter einen kritischen Wert gesunken, würden sie sich den Strom von den Akkus draußen holen. Leandro fluchte: an diese Einzelheit hatte er in der Tat nicht gedacht! Doch nach einiger Überlegung beruhigte er sich erneut. Die Situation war klar: weiteren Schaden konnte Titus eigentlich nicht anstellen. Leandro war noch immer in Sicherheit; er musste jetzt nur mit dem Notsystem auskommen, einige Tage würde es sicherlich funktionieren. Er war nach wie vor mit allen lebensnotwendigen Dingen ausgestattet.

„Meinst Du wirklich, ich hätte nicht vorgesorgt und mir einen Eingang offen gehalten?“
Leandro fuhr herum. Wenige Meter vor ihm nahm er im Halbdunkel einen Schatten wahr. Titus! Leandro starrte auf die Gestalt und das Werkzeug in seiner rechten Hand. Die Kontrolllämpchen ließen wenig Zweifel: Titus war nicht zu Späßen aufgelegt. Der Laserschneider war eins der wichtigsten Werkzeuge für den Aufbau der Basisstation, bis zu einer Entfernung von zwanzig Metern aber auch eine absolut tödliche Waffe.
„Wie bist Du … ? Hör zu, Titus. Wie Du selbst sagst, wir brauchen uns gegenseitig. Ich hatte einfach nur Angst, es war ein Fehler. Das ist doch menschlich! Tut mir wirklich leid, kommt kein zweites Mal vor... Und wenn Du mich jetzt einfach so kaltmachst, musst Du Dir immer noch eine gute Ausrede einfallen lassen. Du weißt, in wenigen Wochen trifft das Schwesterschiff ein. Als biotronischer Racheengel lassen die Dich nicht so ohne Weiteres am Leben... äh, ich meine eingeschaltet.“
Titus lachte kurz auf. „Weißt DU mein Freund, dass es gar kein Schwesterschiff gibt? Und dass ich auch ganz ohne Dich wieder nach Hause komme? Schau' doch jetzt ganz einfach mal kurz auf Deinen Bauch!“
Leandro senkte den Kopf. In einer Zehntelsekunde spielte er alle möglichen Auswegvarianten durch, dann holte er einmal tief Atem, spannte seinen Körper wie eine Feder und setzte zum Sprung an...
Der kam zu spät: schon im nächsten Augenblick sah Leando sein letztes Bild, als ihn ein blauer Strahl jäh in zwei Teile trennte...
***​

Logeingabe 04-08-2053: Drittes Model „Leandro“ ebenfalls deaktiviert; Experimente somit abgeschlossen. Bestätigung der ersten Ergebnisse: durchschnittliche Intelligenz, dennoch irrationales Vorgehen in Stresssituationen. Stark ausgeprägte Empathiestörung und paranoide Persönlichkeit, misstrauisch, leidet an Verschwörungswahn. Schon nach wenigen Tagen stellen sich extrem aggressive Verhaltungsmuster ein, für den Rest der Besatzung lebensbedrohlich.
Resultat: Negativ; für weitere Einsätze mit dem Menschen vollkommen untauglich.


Titus schaltete die Logeingabe wieder aus und seufzte erleichtert. Seine Aufgaben waren beendet. Hatte er auf der einen Seite alle Entladungsarbeiten erfolgreich ausgeführt und mehrere Tonnen Material in die neue Basisstation geschafft, war der zweite Teil der Mission ein deutlicher Misserfolg: das neue HUMSYC-Spitzenprodukt hatte sich als Riesen-Flop erwiesen. Nach seiner Rückkehr würden nicht wenige versuchen, ihm die Schuld in die Schuhe zu schieben; vielleicht hätte er nicht die Fähigkeiten, um angemessen mit seinen biotronischen Untertanen umzugehen. Vor allem die wirklichen Auftraggeber der Mission, die Vetreter der Red & Yellow River Mining Corporation, würden viele unangenehme Fragen stellen, und nicht nur diese, und nicht nur ihm. Die Corporation benutze schon seit 15 Jahren erfolgreich HUMSYCs und ähnliche technologische Vorgänger in ihren Minen, in denen zwischen allen möglichen Erfindungen modernster Robotertechnik kaum noch Menschen anzufinden waren. Sie hatten sich auf die Versprechen ihrer japanischen Partnerfirma und deren Hi-Tech-Labors verlassen! Auch die PAJOSpAg würde in Frage stellen, wohin die Millionen von Forschungsgeldern geflossen waren und zu welchem Nutzen, wenn die neuen HUMSYCs nicht nur nutzlos, sondern sogar gefährlich waren. Sollte irgendjemand die Projektberichte und Testergebnisse der Japaner genauer lesen, würde man zugeben, dass diese zu einem gewissen Ausmaß fabriziert worden waren, um die Finanzierung der PAJOSpAg und der Corporation nicht zu verlieren? Gäbe es dann wieder irgendeine ofizielle Version, die die Verschwendung öffentlicher Gelder in den schönsten Sternenstaub malen würde? Nur eins schien Titus sicher: die Corporation würde früher oder später ihre Ziele durchsetzen und sich ihre Vorrechte auf dem Mars sichern. Sie würde neue Mitglider in den Vorstand der PAJOSpAg wählen; es würden neue Forschungsgelder fließen, vielleicht hätte ein neuer Leandro mehr Glück; und sogar einen neuen Titus für die nächste Suizid-Mission würde die Corporation allemal finden.

Wenigstens in diesem Moment war Titus dies alles eigentlich egal. Der letzte und schönste Abschnitt der Mission konnte endlich beginnen: die Rückkehr zur Erde. Er würde jetzt mit einer letzten Eingabe im System den Startprozess einleiten und brauchte dann nicht weiter einzugreifen, unvorhergesehene Zwischenfälle ausgeschlossen. Der Bordcomputer würde sich den optimalen Zeitpunkt zum Abhebemanöver selbst errechnen und es dann ohne menschliche Hilfe ausführen. Das Bordsystem würde den Flug so lange kontrollieren, bis die Zeit für die direkte Kommunikation mit der Zentrale auf der Erde auf etwa zwei Minuten abgesunken war; danach würde jene die Steuerung übernehmen.

Titus überlegte: die Reise wäre auf einer Seite angenehm, auf der anderen aber auch etwas langweilig. Ein Lu-Modell war noch verfügbar, es müsste nur mit dem richtigen Programm („Mission vorzeitig abgebrochen – Aufenthalt auf dem Mars hat nie stattgefunden“) aus dem vorgetäuschten Kryo-Schlaf geholt werden. Die neue Lu würde sicher nicht weiter gefährlich werden, dachte er sich. Doch sie wäre genauso gefühlsarm und zum Teil neurotisch veranlagt wie ihre Vorgängerinnen und das mechanische Abspulen ihrer eingespeicherten Erinnerungen wollte er nicht ein drittes Mal über sich ergehen lassen. Und überhaupt hatte er es satt, seine Mahlzeiten heimlich und versteckt in seiner Kabine zu sich zu nehmen, gewöhnlich eine gute Stunde nachdem die vermeintlichen Ernährungsersatzpillen seine künstlichen Gefährten für etwa acht Stunden in ihren 'Schlafzustand' versetzt hatten. Nein! - Auf der Rückreise würde er jeden Tag auf dem Brückenstand speisen, und wenn ihm danach war, mit einem Buch in der Hand und mit den Füßen auf der Konsole...
Noch eine weitere Entscheidung wollte er Vor dem Abflug fällen. Sie war schnell und einfach in die Tat umzusetzen und eigentlich hatte er sie ja schon auf der Erde getroffen: denn seinen Lieblings-Château hatte er sich eigens für den Tag des Heimflugs bestellt. Wildbraten würde doch recht gut dazu passen...
 

Tula

Mitglied
Leandro

Leandro stand an einer der Aussichtsluken des Brückenstands und beäugte die öde Marslandschaft, die sich im Halbdunkel bis an den Horizont erstreckte. Von Titus keine Spur... Dennoch brauchte er sich nicht zu sorgen. Titus würde erst in etwa zwei Stunden zurückkommen und dann vergeblich versuchen, sich auf die übliche Weise Zugang in das Schiff zu verschaffen. Denn Leandro hatte dieses vor Minuten hermetisch verschlossen; es war jetzt unmöglich, von außen irgendeinen seiner Einstiege ohne direkte Mithilfe von innen zu öffnen.

Die Gefahr, die von seinem Gegner ausging, war also gebannt; Leandro war in Sicherheit. Er sann darüber nach, wie lange man es wohl als Android dort draußen in der eisigen Kälte der Marsnacht aushalten könnte. Am Ende, fand er, dürfte das unwesentlich sein; selbst wenn er die ersten Nächte überstehen sollte, Titus war zu seinem Ende verurteilt worden. Und auf dieses konnte Leandro jetzt in aller Ruhe warten. Es bestand kein Zweifel: die Mayflower-II gab ihm alles, was er brauchte, um sich für mehrere Monate am Leben zu erhalten, auch wenn das Schiff ohne Besatzung nicht raumflugfähig war. Das reichte aus, denn das zweite Schiff der Expedition war schon unterwegs. Ohne jenes wäre auch dieser Versuch, endlich eine dauerhafte menschliche Besiedlung auf Mars zu schaffen, bereits gescheitert gewesen. Doch man hatte aus der ersten, tragischen Erfahrung gelernt. Das Schicksal der Ehrgeizigen zieht seltsame Kreise... ging es Leandro durch den Sinn. Für einen Augenblick schweiften die Gedanken in seine Kindheit zurück...

Damals, im Sommer 2047, war er gerade 12 Jahre alt gewesen. Er verfolge wie die gesamte Menschheit die erste Expedition mit einer Besatzung von fünf Astronauten, die während eines Aufenthalts von etwa vier Monaten eine erste Basisstation auf dem roten Planeten errichten sollte. Doch auf der Mission schien ein böser Fluch zu lasten, denn sie wurde von einer technischen Panne nach der anderen heimgesucht. Nach einer Art Bruchlandung kämpfte die Besatzung um die Erhaltung der kritischen Systeme, in erster Linie weil mehrere Solarflügel beschädigt ausgefallen waren und somit weniger als ein Drittel der erwarteten Energie zur Verfügung stand. Dadurch waren die Arbeiten an der Basisstation stark eingeschränkt; dennoch liefen sie, wenn auch mit großen Schwierigkeiten, an. Die technischen Ausfälle häuften sich leider: irgendwann fiel zeitweise die Lufterneuerung im Schiff aus, dann war es die Steuerung der Antennen, schließlich traf es das wichtigste aller Systeme: ein Kurzschluss in der Klimatisierung der Vorratsräume führte zu einem Brand mit erheblichen Schäden, der mit einem Schlag mehr als drei Viertel der Lebensmittel vernichtete. Die Nachricht lief wie eine Schockwelle über die Erde: die Besatzung hatte plötzlich nur noch für drei Wochen Vorräte, viel zu wenig, um erfolgreich eine Rettungsmission zu starten. Alle Varianten wurden damals durchgespielt, die Mindestenergie pro Besatzungsmitglied neu errechnet, ausgeklügelte Überlebensstrategien jedweder Art in Erwägung gezogen... Doch alles umsonst, es fehlten Monate, um die Mannschaft noch retten zu können. Die Katastrophe war unvermeidlich. Über das allerletzte Ende kreisten jahrelang mehrere Theorien; die offizielle bezeugte einen heldenhaften, gemeinschaftlichen Suizid, als sich in der Besatzung die ersten Anzeichen der Verzweiflung und einer durch den Hunger bedingten Aggressivität zwischen den Astronauten einstellten.
Das Schicksal der Mission faszinierte Leandro auf magische Weise für den Rest seines Lebens: er wollte Astronaut werden! Einen typischen Berufsweg gab es nicht dafür, schon gar nicht in seiner chilenischen Heimat. Leandro studierte mehrere Naturwissenschaften und spezialisierte sich danach auf den Gebieten der Raumfahrtmedizin und primitiver Biologie. Er bewarb sich hartnäckig mehrere Male bei bekannten, hauptsächlich chinesischen, Forschungslabors und Unternehmen, bis er schließlich sein Ziel erreichte: seine persönliche Beteiligung an der Mayflower-II Mission, welche von der PAJOSpAg (Pacific Joint Space Agency) und seinen bedeutendsten Mitgliedsländern (China, Japan, USA) mit größter Diskretion über mehr als ein Jahrzehnt vorbereitet wurde. Leandro war einer der allerersten Mitarbeiter; die Einladung für die direkte Teilnahme am Flug kam jedoch völlig unverhofft erst vor drei Jahren.

Leandro wurde unvermittelt von der Signalleuchte und der mit ihr verbundenen Sirene aus seinen Gedanken gerissen. Titus war eingetroffen und verlangte Kommunikation mit der Brücke! Das Flackern und schrille Heulen dauerte eine geraume Zeit, um nach einer Pause von mehreren Minuten erneut zu erwachen. Rrruungh, rruungh... der Lärm der Sirene war schlichtweg nervend! Leandro vermutete, dass Titus in der Zwischenzeit um das Schiff gelaufen war, um alle möglichen Luken und Einstiege zu überprüfen. Er schlich sich abwechselnd an die insgesamt vier Aussichtsluken und spähte vergeblich nach draußen. Schließlich gab er nach und stellte den Sprechkanal frei; zum einen konnte er das Notsignalsystem selbst nicht ohne weiteres abschalten, zum anderen quälte ihn die Versuchung, seinem Gegner persönlich die Niederlage zu diktieren:
„Titus, das Schiff wird jetzt von mir kommandiert. Aus Sicherheitsgründen kannst Du nicht wieder an Bord zurück. Tut mir leid.“
„Bist Du jetzt total durchgeknallt?“ dröhnte es durch den Brückenstand. „Ich habe Dir heut' morgen klargemacht, dass wir uns beide gegenseitig brauchen, um durchzuhalten. Alles andere ist jetzt erstmal nebensächlich.“
Leandro schwieg; er wusste nur zu gut, dass sich sein Gegner verstellte; dieser kannte alle Systeme an Bord auswendig und wäre in der Lage, sich aus jeder technischen Notsituation selbst herauszuziehen. Titus würde ihn bei der erstbesten Gelegenheit beseitigen; schon den anstehenden Kampf um das - Wer als erster schläft, schläft für immer... - würde Titus gewinnen, schon weil der als HUMSYC (Humanoid Synthetic Form of Life), wie man Androids jetzt vornehmer bezeichnete, eigentlich keinen Schlaf zu seinem Fortbestehen benötigte.
„Leandro! Wir haben jeder für sich allein kaum eine Chance. Das Schiff wurde für eine Besatzung von sechs entworfen, um es auf Dauer zu bedienen und zu warten. Wir hatten schon zu dritt ein Problem, zu zweit wird es schwer genug, allein wirst Du bei der nächsten Havarie irgendeines Versorgungssystems verrecken. Du bist kein Ingenieur, Mann, sondern unser Arzt! Und als solcher bin ich auch auf Dich angewiesen. Begreif das endlich!“
Leandro kannte diese Argumente seit seinem ersten Tag an Bord. Beeindruckt hatten sie ihn noch nie. „Ich kann lesen, Titus. Handbücher finde ich genug im System und zum Lesen habe ich jetzt viel Zeit. Du machst mir ohnehin nichts vor. Ich weiß genau, was Du mit mir vorhast.“
Titus gab noch nicht auf: „Was Du Dir da einredest, ist totaler Schwachsinn. Selbst Lu hätte Dir kein Haar gekrümmt; sie war nicht darauf programmiert. Ich will mich auch nicht an Dir rächen; was passiert ist, ist passiert, es war ein Unfall. Als solchen habe ich ihn auch berichtet. Also mach jetzt bitte auf, mein Sauerstoff reicht kaum für...“

Leandro schaltete den Kanal wieder ab, er wollte nicht weiterhören. Titus' Gelaber war nichts als ein Schwall von Täuschungsversuchen. Was der in seine täglichen Berichte faselte, war ihm unbekannt und als Aufzeichnungen auch nicht zugänglich. Zum einen müsste er dazu irgendwie die Tür zu Titus' Kabine aufbrechen; zum anderen kannte nur Titus den Sicherheitscode für die Logapplikation der Mission.
Überraschenderweise verstummte das Signalsystem nach einem kurzen Augenblick. Titus hatte wohl eingesehen, dass er auf diese Weise seinen Kontrahenten nicht weich bekommen würde. Leandro indessen versuchte, sich abzulenken und bereitete sich für die Nacht vor. Sein Abendbrot nahm er zur gewohnten Stunde; eine tägliche Routine und im Handumdrehen erledigt, denn es bestand aus nicht mehr als einer Pille. In seiner gegenwärtigen Lage wollte sich Leandro gerade darüber nicht beklagen. Man hatte die Pillen schließlich extra für die neue Mission erfunden, um das Risiko eines erneuten Hungerdramas entscheidend zu verringern. Ähnlich wie beim Militär bekamen alle einmal pro Tag eine komprimierte Kalorienbombe, die dann im Verlauf von 24 Stunden langsam vom Körper absorbiert wurde, ohne dass der Mensch in plötzliche Hungergefühle verfiele. Eine langweilige, aber doch geniale Lösung; wenigstens darüber waren sich die drei nie uneinig gewesen.

Darauf machte Leandro es sich so gut wie es ging gemütlich. In seiner Kabine jedenfalls wollte er heute nicht schlafen, sondern für den Fall der Fälle auf dem Brückenstand bleiben. Immerhin war es seine erste Nacht als neuer Kommandant. Wieder verfiel er in Erinnerungen an die Ereignisse der letzten zwei Wochen. Schon vom ersten Tag an war er von Titus und Lu nicht als gleichberechtigtes Mitglied der Besatzung behandelt worden. Als sie ihn aus dem Kryo-Schlaf holten, teilten sie ihm mit, dass bei der Landung sowohl die Triebwerke als auch das kryogenische System schwer beschädigt worden waren. Er war der einzige, bei dem wie durch ein Wunder die Temperatur noch nicht den kritischen Schwellwert überschritten hatte. Weniger als eine Minute später und er läge mit den anderen Kadavern im 'Kühlschrank', wie sie es nannten.
Die Mission befand sich deshalb in einer Art Ausnahmezustand; die Aufgabe bestand nicht mehr nur im Projekt der Basisstation, auch wenn Titus fast jeden Tag einen Teil der im Schiff verstauten Ladung, Kisten jeder Abmessung und Gewichtes, mit dem 'Schlitten', wie er ihn gern nannte, dorthin brachte. Nein, sie bestand nach Titus' täglichen Erläuterungen jetzt hauptsächlich im Überleben bis zum Eintreffen des bereits gestarteten Schwesterschiffs, mit der zweiten Gruppe der Mission, innerhalb von drei Monaten. Titus hatte das Generalkommando inne, Lu war zweiter Offizier und Titus' Vertretung in seiner Abwesenheit, während Leandro in seiner Hauptfunktion als Arzt den anderen beiden unterstellt war. Schließlich bedurfte es bei solch einer kleinen Besatzung auch seiner Hilfe bei allen möglichen Tätigkeiten an Bord.

Vor allem sein Verhältnis zu Lu basierte von Anfang an auf Misstrauen und schlug rasch in offene Feindseligkeit um. Das lag vor allem an Lu: Sie versuchte vom ersten Tag an mit allen Mitteln zu verhindern, dass Leandro Titus irgendwie zu nah kommen könnte, und wenn, dann nur in ihrem Beisein. Hatte sie irgendeine Aufgabe in ihrem Tagesplan zu erfüllen, erteilte sie Leandro sofort eine andere, die ihn zwangsläufig isolieren würde. Waren sie alle drei zusammen, beobachtete sie Leandro bei jedem Atemzug aus ihren Augenwinkeln, unterbrach ihn bei jedem Wort und setzte immer wieder darauf, an der pflichtgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben zu zweifeln. „Leandro, hatten wir Dich nicht darum gebeten, die Solarenergiespeicher zu warten? Die sind schon wieder auf 35 Prozent runter... Hast Du gemacht? … Ach was, das scheint mir gar nicht so, ich muss Dir die Sache wohl noch einmal vorzeigen...“ usw. usf.
Ihre Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit; Leandro hasste sie bereits am dritten Tag und stellte ihr seinerseits geschickte 'Fallen', sabotierte ihre Arbeit wo er konnte: zum Beispiel ließ er dann und wann ihren Bosonzähler (als scherzhafte Umschreibung eines auf Quantenmechanik basierenden Werkzeuges, welches bei fast allen Wartungsarbeiten als universelles Prüfgerät verwendet wurde) verschwinden, um sie dann vor Titus höflichst darum zu bitten und in Verlegenheit zu bringen; ein anderes Mal behauptete er steif und fest, er hätte nach ihrem Eingriff die Einstellungen am gravitativen Ausgleichsgenerator wieder korrigieren müssen.

Titus blieb die Fehde schwerlich verborgen; dennoch beließ er es beim morgendlichen Meeting und mit der stetigen Mahnung, dass der kameradschaftliche Zusammenhalt entscheidend für den Erfolg der Mission und das Überleben der Gruppe sei. Vielleicht, dachte sich Leandro, hätte er mit einem strengeren Vorgehen Lu gegenüber ihr tragisches Ende verhindern können. Dann hätte sie sich vor zwei Tagen unter Umständen nicht so furchtbar aufgespielt. Sie 'befahl' Leandro, einen der Akkus, welche außerhalb des Schiffs direkt an den Solarflügeln montiert waren, in die Warteluke zu hieven. Das wäre laut Tagesplan eigentlich ihre Sache gewesen! Nach seiner ersten Verweigerung und einem heftigen Streit zwischen den beiden kam Leandro auf eine bessere Idee und gab vorerst nach, demontierte den Akku und lud den selbigen auf den kontronischen Levitator.
Langsam schwenkte er den Akku in die Luke. „Zeig' mir genau wo das Ding hin soll...“ rief Leandro, als ob er die erwartete Position nicht genau kennen würde.
„Weiter in die Mitte nach rechts, nach rechts, Du Idiot...“ hallte es aus der Luke zurück. Viel Platz gab es dort nicht; der innere Ausgang zum Schiff befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Ladeluke. Es fiel Leandro nicht schwer, Lu diesen Weg zu versperren und sie genau zwischen den Akku und die Wand zu locken. Mit einem plötzlichen Manöver schwenkte er den Arm des Levitators und drückte Lu unerwartet mit dem Akku gegen einen der Träger in der Bordwand.
„Zurück na reecch...“ kreischte sie noch einmal vergeblich, dann verstummte Lu für immer...
Leandro zögerte noch einen kurzen Moment und erwägte die nächsten Schritte, bevor er endlich über den Bordsprechfunk seinen Kommandanten rief. Dieser stürzte heran und verharrte verwirrt vor dem Akku und dem hinter ihm leblos hervorhängenden Arm. Titus' nächste Reaktion war überraschend beherrscht; er bediente selbst den Levitator, um Lu freizugeben, und zog ihren Leichnam hervor.
„Ich habe nur strikt ihren Anweisungen gefolgt...“ entschuldigte sich Leandro. „Augenscheinlich hat sie rechts mit links verwechselt, ich konnte doch nicht ahnen...“
Titus erwähnte kein Wort, blickte nur kurz vorwurfsvoll auf Leandro und dann wieder auf Lu, als wäre er irgendwie verlegen. Dann begriff Leandro: aus Lu's zerquetschtem Leib drängte sich ein Knäul von synthetischen Geweben und Bauteilen, die nichts mit einem menschlichen Körper zu tun hatten. Vor ihnen lagen die Reste eines HUMSYC, ein Android, biotronischer Schrotthaufen...
Leandro war verwirrt, denn nach seiner Kenntnis waren HUMSYCs relativ primitive und vom Menschen leicht zu unterscheidene künstliche Geschöpfe, willenlose und vor allem wenig intelligente Sklaven.
„Du wusstest, dass Lu...?“ - Titus erwiderte noch immer nichts. Er schien nach Antworten zu suchen, genauso wie Leandro: warum hatte man in so eine kleine Besatzung einen HUMSYC eingeschleust? Darin bestand kein offenbarer Vorteil. Und warum hatte ihn Titus nicht eingeweiht? Es war unwahrscheinlich, dass er von Lu's Natur keine Kenntnis hatte... Aus der Tiefe seiner Verwirrung stieg eine dunkle Ahnung auf: Wenn Titus nichts wusste, dann war der selbst ein HUMSYC! Oder andersherum: Wenn er es wusste und Leandro dennoch nicht davon unterrichtete, dann war Titus es ebenfalls! Lu's feindselige Haltung Leandro gegenüber erschien nun weniger merkwürdig, wahrscheinlich versuchten beide, Ihn unter Kontrolle zu halten. Die Fehlfunktion im kryogenischen System bei der Landung war dann mit höchster Wahrscheinlichkeit kein Unfall gewesen, sondern kaltblütiger Mord an der menschlichen Besatzung, welcher man den fünfmonatigen Flug zum Mars aus verschiedenen Gründen erspart hatte. Doch wozu brauchten die beiden Ihn? Zu welchem besonderen Zweck war er bestimmt?

Als der Schlaf langsam aber stetig in ihn zu kriechen schien, schreckte Leandro unversehens auf. Ein merkwürdiges Geräusch hatte für einen kurzen Augenblick das monotone Summen aus den Schaltschränken übertönt. Leandro horchte gespannt. Mehrere Sekunden... Stille... Da wieder! Ein metallenes Ächzen, wie ein im Sonnenwind kämpfendes Schiff, doch nur in kurzen Intervallen. Sicherlich war es Titus, der versuchte, auf irgendeine Weise an Bord zu gelangen und sich gewaltsam an einer der Luken zu schaffen machte. Nach kurzer Überlegung beruhigte sich Leandro wieder: die Mayflower war für den Raumflug gebaut worden. Selbst mit einer Ladung herkömmlichen Sprengstoffs könnte man die Luken nicht ohne weiteres aufreißen; jeder Versuch, sie mit speziellen Werkzeugen aufzubohren oder zu schneiden war mehr oder weniger aussichtslos. Das Material war härter und widerstandsfähiger als Diamant. Leandro schaltete die Beleuchtung fast vollkommen aus und lief erneut von einer der Aussichtsluken zur anderen, um dort umsonst in die Dunkelheit zu starren; dann horchte er mit aller Anstrengung mehrere Minuten lang. Das Geräusch kehrte nicht wieder zurück...
Was würde Titus mit ihm anstellen, wenn er doch ins Schiff gelänge? Seit jenem verhängnisvollen Tag waren sie sich gegenseitig wie zwei feindlich gesinnte Raubtiere ausgewichen, jeder auf den ersten Fehler des anderen bedacht. Titus hatte ihn noch gebeten, seinen Bosonzähler zu holen, als wolle er noch irgendetwas an Lu herummessen. Als Leandro zurückkehrte, hatte Titus Lu's Überreste bereits entsorgt und ihm ohne eine Erklärung das Werkzeug aus der Hand genommen.
„Sieh' zu, dass der Akku wieder in Ordnung kommt. Über den Rest reden wir später.“ - Dann verschwand der Kommandant für mehrere Stunden in seiner Kammer. Als er wieder herauskam, machte er einen entschlossenen Eindruck, rief Leandro zu sich und erklärte ihm eindringlich die Tagesplanung zu zweit und dass er absolute Disziplin verlangte, um das endgültige Scheitern der Mission zu verhindern.

Leandro wurde sofort klar, dass Titus nur Zeit schindete und nach einem Plan suchte, ihn zu beseitigen. Als HUMSYC war sich Titus der unberechenbaren Intelligenz des Menschen sicherlich bewusst. Er konnte nicht einfach mit dem Bosonzähler oder irgendeinem anderen Gerät auf Leandro losgehen, der Ausgang dieses Versuchs war nicht vorhersehbar. Die offensichtlichste Variante war die, ihn im Schlaf zu töten. Leandro selbst konnte dafür nicht in Titus' Kabine, die war absolut gesichert, sein Gegner also im Vorteil. Gegen den Schlaf zu kämpfen war aussichtslos; als jener an den letzten beiden Abenden zur gewohnten Zeit unwiderstehlich im Anmarsch war, versteckte sich Leandro in einem der Belüftungsschächte. Glücklicherweise fand ihn Titus dort nicht. Nur als Leandro morgens wieder auf der Brücke erschien, fragte ihn Titus mit einem bedeutungslosen Lächeln, ob er auch gut geschlafen hätte.
In Wirklichkeit beobachte Titus ihn argwöhnisch auf Schritt und Schritt; wartete nur auf den geeigneten Augenblick, seinen Plan der Rache in die Tat umzusetzen. Leandro ließ sich nichts anmerken, grübelte aber verzweifelt, wie er Titus zuvorkommen könnte.

Dann beging Titus einen entscheidenden Fehler: „Leandro, morgen werde ich wieder zur Basisstation fahren, um zu sehen, wie wir dort die Arbeit wieder aufnehmen. Du bleibst vorläufig zur Sicherung des Schiffes auf der Brücke.“
Leandro stutzte: auch wenn Titus gewöhnlich allein zur Basisstation fuhr, müsste er unter den gegebenen Umständen Leandro mitnehmen, um ihn im Auge zu behalten. Immerhin war es nicht strikt notwendig, dass jemand auf dem Schiff verbliebe. Wenn Titus allein zur Station wollte, dann doch mit Sicherheit, um sich irgendetwas für ihn Wichtiges zu besorgen. Was dies auch immer war, es gehörte zu Titus' dunklen Plänen. Da zündete Leandro der Gedanke: er bräuchte doch nur das Schiff zu verriegeln, so dass Titus... Das war einfacher gesagt als getan: als Kommandant hatte Titus mehrere Geheimcodes, die für das Öffnen der Luken benutzt wurden. Darauf schien sich Titus zu verlassen. Doch man könnte vielleicht irgendwie..., ja natürlich! Man könnte das Sicherheitssystem soweit beschädigen, dass die Luken nur noch von Hand zu bedienen wären. Leandro wusste zuerst noch nicht, wie er dies bewerkstelligen solle, vertraute aber seinen Fähigkeiten und fasste einen Entschluss. Eines hatten sie dem HUMSYC Titus wohl nicht eingelötet: die Einsicht, dass ihm menschliche Intelligenz überlegen war! Wie naiv solch ein Miststück von Android am Ende doch war...

Die nächsten Sekunden drosselten Leandro's Gedanken bis zum Stillstand. Er versuchte einen Moment lang zu begreifen, was geschehen war. Er saß wie vorher im nur spärlich erleuchteten Brückenstand und doch... nach einem kurzen Flackern und Klicken war das monotone Summen der Schaltschränke leiser geworden, die Lichter weniger... Leandro schauderte: das Energiesystem hatte sich auf Notversorgung umgeschaltet! Oder war von jemandem umgeschaltet worden... Er konzentrierte sich mit aller Anstrengung: Nein, er hatte den Zugang von außen für alle Luken unmöglich gemacht! Schwer war ihm das am Ende nicht gefallen. Das Bedienungspad war mit demselben Material wie das gesamte Schiff geschützt, d.h. mit einer Platte bekleidet, welche man nur mit einer Art Laserschlüssel öffnen konnte. Einen hatte Leandro selbst und einen persönlichen Code für jede Luke. Einmal geöffnet, hatte er die Bedienungsfelder und deren Sensoreinheiten zertrümmert und sich danach vergewissert, dass jede Luke nur noch mechanisch zu betätigen war. So hatte er eine nach der anderen von innen verschlossen, wie in einer besetzten Festung.
Er grübelte, welche anderen Ursachen für den Zwischenfall verantwortlich sein könnten. Um die Solarbatterien zu überprüfen, müsste er das Schiff verlassen. Ihm dämmerte, dass sie Titus womöglich schon vor Stunden außer Betrieb gesetzt hatte. Waren die Batterien im Schiff unter einen kritischen Wert gesunken, würden sie sich den Strom von den Akkus draußen holen. Leandro fluchte: an diese Einzelheit hatte er in der Tat nicht gedacht! Doch nach einiger Überlegung beruhigte er sich erneut. Die Situation war klar: weiteren Schaden konnte Titus eigentlich nicht anstellen. Leandro war noch immer in Sicherheit; er musste jetzt nur mit dem Notsystem auskommen, einige Tage würde es sicherlich funktionieren. Er war nach wie vor mit allen lebensnotwendigen Dingen ausgestattet.

„Meinst Du wirklich, ich hätte nicht vorgesorgt und mir einen Eingang offen gehalten?“
Leandro fuhr herum. Wenige Meter vor ihm nahm er im Halbdunkel einen Schatten wahr. Titus! Leandro starrte auf die Gestalt und das Werkzeug in seiner rechten Hand. Die Kontrolllämpchen ließen wenig Zweifel: Titus war nicht zu Späßen aufgelegt. Der Laserschneider war eins der wichtigsten Werkzeuge für den Aufbau der Basisstation, bis zu einer Entfernung von zwanzig Metern aber auch eine absolut tödliche Waffe.
„Wie bist Du … ? Hör zu, Titus. Wie Du selbst sagst, wir brauchen uns gegenseitig. Ich hatte einfach nur Angst, es war ein Fehler. Das ist doch menschlich! Tut mir wirklich leid, kommt kein zweites Mal vor... Und wenn Du mich jetzt einfach so kaltmachst, musst Du Dir immer noch eine gute Ausrede einfallen lassen. Du weißt, in wenigen Wochen trifft das Schwesterschiff ein. Als biotronischer Racheengel lassen die Dich nicht so ohne Weiteres am Leben... äh, ich meine eingeschaltet.“
Titus lachte kurz auf. „Weißt DU mein Freund, dass es gar kein Schwesterschiff gibt? Und dass ich auch ganz ohne Dich wieder nach Hause komme? Schau' doch jetzt ganz einfach mal kurz auf Deinen Bauch!“
Leandro senkte den Kopf. In einer Zehntelsekunde spielte er alle möglichen Auswegvarianten durch, dann holte er einmal tief Atem, spannte seinen Körper wie eine Feder und setzte zum Sprung an...
Der kam zu spät: schon im nächsten Augenblick sah Leando sein letztes Bild, als ihn ein blauer Strahl jäh in zwei Teile trennte...
***​

Logeingabe 04-08-2053: Drittes Model „Leandro“ ebenfalls deaktiviert; Experimente somit abgeschlossen. Bestätigung der ersten Ergebnisse: durchschnittliche Intelligenz, dennoch irrationales Vorgehen in Stresssituationen. Stark ausgeprägte Empathiestörung und paranoide Persönlichkeit, misstrauisch, leidet an Verschwörungswahn. Schon nach wenigen Tagen stellen sich extrem aggressive Verhaltungsmuster ein, für den Rest der Besatzung lebensbedrohlich.
Resultat: Negativ; für weitere Einsätze mit dem Menschen vollkommen untauglich.


Titus schaltete die Logeingabe wieder aus und seufzte erleichtert. Seine Aufgaben waren beendet. Hatte er auf der einen Seite alle Entladungsarbeiten erfolgreich ausgeführt und mehrere Tonnen Material in die neue Basisstation geschafft, war der zweite Teil der Mission ein deutlicher Misserfolg: das neue HUMSYC-Spitzenprodukt hatte sich als Riesen-Flop erwiesen. Nach seiner Rückkehr würden nicht wenige versuchen, ihm die Schuld in die Schuhe zu schieben; vielleicht hätte er nicht die Fähigkeiten, um angemessen mit seinen biotronischen Untertanen umzugehen. Vor allem die wirklichen Auftraggeber der Mission, die Vetreter der Red & Yellow River Mining Corporation, würden viele unangenehme Fragen stellen, und nicht nur diese, und nicht nur ihm. Die Corporation benutze schon seit 15 Jahren erfolgreich HUMSYCs und ähnliche technologische Vorgänger in ihren Minen, in denen zwischen allen möglichen Erfindungen modernster Robotertechnik kaum noch Menschen anzufinden waren. Sie hatten sich auf die Versprechen ihrer japanischen Partnerfirma und deren Hi-Tech-Labors verlassen! Auch die PAJOSpAg würde in Frage stellen, wohin die Millionen von Forschungsgeldern geflossen waren und zu welchem Nutzen, wenn die neuen HUMSYCs nicht nur wertlos, sondern sogar gefährlich waren. Sollte irgendjemand die Projektberichte und Testergebnisse der Japaner genauer lesen, würde man zugeben, dass diese zu einem gewissen Ausmaß fabriziert worden waren, um die Finanzierung der PAJOSpAg und der Corporation nicht zu verlieren? Gäbe es dann wieder irgendeine ofizielle Version, die die Verschwendung öffentlicher Gelder in den schönsten Sternenstaub malen würde? Nur eins schien Titus sicher: die Corporation würde früher oder später ihre Ziele durchsetzen und sich ihre Vorrechte auf dem Mars sichern. Sie würde neue Mitglieder in den Vorstand der PAJOSpAg wählen; es würden neue Forschungsgelder fließen, vielleicht hätte ein neuer Leandro mehr Glück; und sogar einen neuen Titus für die nächste Suizid-Mission würde die Corporation allemal finden.

Wenigstens in diesem Moment war Titus dies alles eigentlich egal. Der letzte und schönste Abschnitt der Mission konnte endlich beginnen: die Rückkehr zur Erde. Er würde jetzt mit einer letzten Eingabe im System den Startprozess einleiten und brauchte dann nicht weiter einzugreifen, unvorhergesehene Zwischenfälle ausgeschlossen. Der Bordcomputer würde sich den optimalen Zeitpunkt zum Abhebemanöver selbst errechnen und es dann ohne menschliche Hilfe ausführen. Das Bordsystem würde den Flug so lange kontrollieren, bis die Zeit für die direkte Kommunikation mit der Zentrale auf der Erde auf etwa zwei Minuten abgesunken war; danach würde jene die Steuerung übernehmen.

Titus überlegte: die Reise wäre auf einer Seite angenehm, auf der anderen aber auch etwas langweilig. Ein Lu-Modell war noch verfügbar, es müsste nur mit dem richtigen Programm („Mission vorzeitig abgebrochen – Aufenthalt auf dem Mars hat nie stattgefunden“) aus dem vorgetäuschten Kryo-Schlaf geholt werden. Die neue Lu würde sicher nicht weiter gefährlich werden, dachte er sich. Doch sie wäre genauso gefühlsarm und zum Teil neurotisch veranlagt wie ihre Vorgängerinnen und das mechanische Abspulen ihrer eingespeicherten Erinnerungen wollte er nicht ein drittes Mal über sich ergehen lassen. Und überhaupt hatte er es satt, seine Mahlzeiten heimlich und versteckt in seiner Kabine zu sich zu nehmen, gewöhnlich eine gute Stunde nachdem die vermeintlichen Ernährungsersatzpillen seine künstlichen Gefährten für etwa acht Stunden in ihren 'Schlafzustand' versetzt hatten. Nein! - Auf der Rückreise würde er jeden Tag auf dem Brückenstand speisen, und wenn ihm danach war, mit einem Buch in der Hand und mit den Füßen auf der Konsole...
Noch eine weitere Entscheidung wollte er Vor dem Abflug fällen. Sie war schnell und einfach in die Tat umzusetzen und eigentlich hatte er sie ja schon auf der Erde getroffen: denn seinen Lieblings-Château hatte er sich eigens für den Tag des Heimflugs bestellt. Wildbraten würde doch recht gut dazu passen...
 

Tula

Mitglied
nur der Mensch hat keine Vernunft

Hallo

neue Version reingesetzt. Optische Mängel soweit bearbeitet, einige Zeilenbrüche habe ich beibehalten. Sicherlich auch keine entscheidende Sache.

Zum Plot: nur der Mensch hat keine Vernunft - und in diesem Sinne habe ich das Ende neu bearbeitet. Die riskante Alleinflug-Mission des Titus wird nun besser verständlich wie auch das unerwartete Verhalten der Androids. Es geht um menschliche Gier und finanzielle Interessen. Titus ist kein in aller Welt als Held bewunderter Astronaut, sondern ein Einzelgänger, der sich trotz der Risiken zu dieser Mission bereit erklärt hat. Der Corporation ist das schon aus finanziellen Gründen so recht. Auch sein Leben zählt nur wenig.
Nicht zwingend die allerlogischste Lösung, aber aus der Perspektive der Erzählung noch eine interessante, welche die komplexe Beziehung zwischen Mensch und Maschine zumindest teilweise beschreiben soll.

Soweit zumindest zur Absicht des Textes und der Abänderung. Freue mich über jede kritische Lesermeinung.

LG
Tula
 

Tula

Mitglied
PS: einen anderen nach meiner An- und Einsicht bestehenden logischen Fehler habe ich versucht zu beseitigen. Leandro darf/kann zwar Kenntnis von Android-Technologie haben (d.h. es kann durchaus ein Vorteil geben, ihn auch damit zu speichern), aber sicher nicht vom 'letzten Schrei', den er selbst verkörpert. Denn das widerspräche der Absicht, ihn glauben zu lassen, er wäre ein Mensch.
Habe dies auch an der Stelle von Lu's Tod eingebaut

Tula
 

Tula

Mitglied
Leandro

Leandro stand an einer der Aussichtsluken des Brückenstands und beäugte die öde Marslandschaft, die sich im Halbdunkel bis an den Horizont erstreckte. Von Titus keine Spur... Dennoch brauchte er sich nicht zu sorgen. Titus würde erst in etwa zwei Stunden zurückkommen und dann vergeblich versuchen, sich auf die übliche Weise Zugang in das Schiff zu verschaffen. Denn Leandro hatte dieses vor Minuten hermetisch verschlossen; es war jetzt unmöglich, von außen irgendeinen seiner Einstiege ohne direkte Mithilfe von innen zu öffnen.

Die Gefahr, die von seinem Gegner ausging, war also gebannt; Leandro war in Sicherheit. Er sann darüber nach, wie lange man es wohl als Android dort draußen in der eisigen Kälte der Marsnacht aushalten könnte. Am Ende, fand er, dürfte das unwesentlich sein; selbst wenn er die ersten Nächte überstehen sollte, Titus war zu seinem Ende verurteilt worden. Und auf dieses konnte Leandro jetzt in aller Ruhe warten. Es bestand kein Zweifel: die Mayflower-II gab ihm alles, was er brauchte, um sich für mehrere Monate am Leben zu erhalten, auch wenn das Schiff ohne Besatzung nicht raumflugfähig war. Das reichte aus, denn das zweite Schiff der Expedition war schon unterwegs. Ohne jenes wäre auch dieser Versuch, endlich eine dauerhafte menschliche Besiedlung auf Mars zu schaffen, bereits gescheitert gewesen. Doch man hatte aus der ersten, tragischen Erfahrung gelernt. Das Schicksal der Ehrgeizigen zieht seltsame Kreise... ging es Leandro durch den Sinn. Für einen Augenblick schweiften die Gedanken in seine Kindheit zurück...

Damals, im Sommer 2047, war er gerade 12 Jahre alt gewesen. Er verfolge wie die gesamte Menschheit die erste Expedition mit einer Besatzung von fünf Astronauten, die während eines Aufenthalts von etwa vier Monaten eine erste Basisstation auf dem roten Planeten errichten sollte. Doch auf der Mission schien ein böser Fluch zu lasten, denn sie wurde von einer technischen Panne nach der anderen heimgesucht. Nach einer Art Bruchlandung kämpfte die Besatzung um die Erhaltung der kritischen Systeme, in erster Linie weil mehrere Solarflügel beschädigt ausgefallen waren und somit weniger als ein Drittel der erwarteten Energie zur Verfügung stand. Dadurch waren die Arbeiten an der Basisstation stark eingeschränkt; dennoch liefen sie, wenn auch mit großen Schwierigkeiten, an. Die technischen Ausfälle häuften sich leider: irgendwann fiel zeitweise die Lufterneuerung im Schiff aus, dann war es die Steuerung der Antennen, schließlich traf es das wichtigste aller Systeme: ein Kurzschluss in der Klimatisierung der Vorratsräume führte zu einem Brand mit erheblichen Schäden, der mit einem Schlag mehr als drei Viertel der Lebensmittel vernichtete. Die Nachricht lief wie eine Schockwelle über die Erde: die Besatzung hatte plötzlich nur noch für drei Wochen Vorräte, viel zu wenig, um erfolgreich eine Rettungsmission zu starten. Alle Varianten wurden damals durchgespielt, die Mindestenergie pro Besatzungsmitglied neu errechnet, ausgeklügelte Überlebensstrategien jedweder Art in Erwägung gezogen... Doch alles umsonst, es fehlten Monate, um die Mannschaft noch retten zu können. Die Katastrophe war unvermeidlich. Über das allerletzte Ende kreisten jahrelang mehrere Theorien; die offizielle bezeugte einen heldenhaften, gemeinschaftlichen Suizid, als sich in der Besatzung die ersten Anzeichen der Verzweiflung und einer durch den Hunger bedingten Aggressivität zwischen den Astronauten einstellten.
Das Schicksal der Mission faszinierte Leandro auf magische Weise für den Rest seines Lebens: er wollte Astronaut werden! Einen typischen Berufsweg gab es nicht dafür, schon gar nicht in seiner chilenischen Heimat. Leandro studierte mehrere Naturwissenschaften und spezialisierte sich danach auf den Gebieten der Raumfahrtmedizin und primitiver Biologie. Er bewarb sich hartnäckig mehrere Male bei bekannten, hauptsächlich chinesischen, Forschungslabors und Unternehmen, bis er schließlich sein Ziel erreichte: seine persönliche Beteiligung an der Mayflower-II Mission, welche von der PAJOSpAg (Pacific Joint Space Agency) und seinen bedeutendsten Mitgliedsländern (China, Japan, USA) mit größter Diskretion über mehr als ein Jahrzehnt vorbereitet wurde. Leandro war einer der allerersten Mitarbeiter; die Einladung für die direkte Teilnahme am Flug kam jedoch völlig unverhofft erst vor drei Jahren.

Leandro wurde unvermittelt von der Signalleuchte und der mit ihr verbundenen Sirene aus seinen Gedanken gerissen. Titus war eingetroffen und verlangte Kommunikation mit der Brücke! Das Flackern und schrille Heulen dauerte eine geraume Zeit, um nach einer Pause von mehreren Minuten erneut zu erwachen. Rrruungh, rruungh... der Lärm der Sirene war schlichtweg nervend! Leandro vermutete, dass Titus in der Zwischenzeit um das Schiff gelaufen war, um alle möglichen Luken und Einstiege zu überprüfen. Er schlich sich abwechselnd an die insgesamt vier Aussichtsluken und spähte vergeblich nach draußen. Schließlich gab er nach und stellte den Sprechkanal frei; zum einen konnte er das Notsignalsystem selbst nicht ohne weiteres abschalten, zum anderen quälte ihn die Versuchung, seinem Gegner persönlich die Niederlage zu diktieren:
„Titus, das Schiff wird jetzt von mir kommandiert. Aus Sicherheitsgründen kannst Du nicht wieder an Bord zurück. Tut mir leid.“
„Bist Du jetzt total durchgeknallt?“ dröhnte es durch den Brückenstand. „Ich habe Dir heut' morgen klargemacht, dass wir uns beide gegenseitig brauchen, um durchzuhalten. Alles andere ist jetzt erstmal nebensächlich.“
Leandro schwieg; er wusste nur zu gut, dass sich sein Gegner verstellte; dieser kannte alle Systeme an Bord auswendig und wäre in der Lage, sich aus jeder technischen Notsituation selbst herauszuziehen. Titus würde ihn bei der erstbesten Gelegenheit beseitigen; schon den anstehenden Kampf um das - Wer als erster schläft, schläft für immer... - würde Titus gewinnen, schon weil der als HUMSYC (Humanoid Synthetic Form of Life), wie man Androids jetzt vornehmer bezeichnete, eigentlich keinen Schlaf zu seinem Fortbestehen benötigte.
„Leandro! Wir haben jeder für sich allein kaum eine Chance. Das Schiff wurde für eine Besatzung von sechs entworfen, um es auf Dauer zu bedienen und zu warten. Wir hatten schon zu dritt ein Problem, zu zweit wird es schwer genug, allein wirst Du bei der nächsten Havarie irgendeines Versorgungssystems verrecken. Du bist kein Ingenieur, Mann, sondern unser Arzt! Und als solcher bin ich auch auf Dich angewiesen. Begreif das endlich!“
Leandro kannte diese Argumente seit seinem ersten Tag an Bord. Beeindruckt hatten sie ihn noch nie. „Ich kann lesen, Titus. Handbücher finde ich genug im System und zum Lesen habe ich jetzt viel Zeit. Du machst mir ohnehin nichts vor. Ich weiß genau, was Du mit mir vorhast.“
Titus gab noch nicht auf: „Was Du Dir da einredest, ist totaler Schwachsinn. Selbst Lu hätte Dir kein Haar gekrümmt; sie war nicht darauf programmiert. Ich will mich auch nicht an Dir rächen; was passiert ist, ist passiert, es war ein Unfall. Als solchen habe ich ihn auch berichtet. Also mach jetzt bitte auf, mein Sauerstoff reicht kaum für...“

Leandro schaltete den Kanal wieder ab, er wollte nicht weiterhören. Titus' Gelaber war nichts als ein Schwall von Täuschungsversuchen. Was der in seine täglichen Berichte faselte, war ihm unbekannt und als Aufzeichnungen auch nicht zugänglich. Zum einen müsste er dazu irgendwie die Tür zu Titus' Kabine aufbrechen; zum anderen kannte nur Titus den Sicherheitscode für die Logapplikation der Mission.
Überraschenderweise verstummte das Signalsystem nach einem kurzen Augenblick. Titus hatte wohl eingesehen, dass er auf diese Weise seinen Kontrahenten nicht weich bekommen würde. Leandro indessen versuchte, sich abzulenken und bereitete sich für die Nacht vor. Sein Abendbrot nahm er zur gewohnten Stunde; eine tägliche Routine und im Handumdrehen erledigt, denn es bestand aus nicht mehr als einer Pille. In seiner gegenwärtigen Lage wollte sich Leandro gerade darüber nicht beklagen. Man hatte die Pillen schließlich extra für die neue Mission erfunden, um das Risiko eines erneuten Hungerdramas entscheidend zu verringern. Ähnlich wie beim Militär bekamen alle einmal pro Tag eine komprimierte Kalorienbombe, die dann im Verlauf von 24 Stunden langsam vom Körper absorbiert wurde, ohne dass der Mensch in plötzliche Hungergefühle verfiele. Eine langweilige, aber doch geniale Lösung; wenigstens darüber waren sich die drei nie uneinig gewesen.

Darauf machte Leandro es sich so gut wie es ging gemütlich. In seiner Kabine jedenfalls wollte er heute nicht schlafen, sondern für den Fall der Fälle auf dem Brückenstand bleiben. Immerhin war es seine erste Nacht als neuer Kommandant. Wieder verfiel er in Erinnerungen an die Ereignisse der letzten zwei Wochen. Schon vom ersten Tag an war er von Titus und Lu nicht als gleichberechtigtes Mitglied der Besatzung behandelt worden. Als sie ihn aus dem Kryo-Schlaf holten, teilten sie ihm mit, dass bei der Landung sowohl die Triebwerke als auch das kryogenische System schwer beschädigt worden waren. Er war der einzige, bei dem wie durch ein Wunder die Temperatur noch nicht den kritischen Schwellwert überschritten hatte. Weniger als eine Minute später und er läge mit den anderen Kadavern im 'Kühlschrank', wie sie es nannten.
Die Mission befand sich deshalb in einer Art Ausnahmezustand; die Aufgabe bestand nicht mehr nur im Projekt der Basisstation, auch wenn Titus fast jeden Tag einen Teil der im Schiff verstauten Ladung, Kisten jeder Abmessung und Gewichtes, mit dem 'Schlitten', wie er ihn gern nannte, dorthin brachte. Nein, sie bestand nach Titus' täglichen Erläuterungen jetzt hauptsächlich im Überleben bis zum Eintreffen des bereits gestarteten Schwesterschiffs, mit der zweiten Gruppe der Mission, innerhalb von drei Monaten. Titus hatte das Generalkommando inne, Lu war zweiter Offizier und Titus' Vertretung in seiner Abwesenheit, während Leandro in seiner Hauptfunktion als Arzt den anderen beiden unterstellt war. Schließlich bedurfte es bei solch einer kleinen Besatzung auch seiner Hilfe bei allen möglichen Tätigkeiten an Bord.

Vor allem sein Verhältnis zu Lu basierte von Anfang an auf Misstrauen und schlug rasch in offene Feindseligkeit um. Das lag vor allem an Lu: Sie versuchte vom ersten Tag an mit allen Mitteln zu verhindern, dass Leandro Titus irgendwie zu nah kommen könnte, und wenn, dann nur in ihrem Beisein. Hatte sie irgendeine Aufgabe in ihrem Tagesplan zu erfüllen, erteilte sie Leandro sofort eine andere, die ihn zwangsläufig isolieren würde. Waren sie alle drei zusammen, beobachtete sie Leandro bei jedem Atemzug aus ihren Augenwinkeln, unterbrach ihn bei jedem Wort und setzte immer wieder darauf, an der pflichtgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben zu zweifeln. „Leandro, hatten wir Dich nicht darum gebeten, die Solarenergiespeicher zu warten? Die sind schon wieder auf 35 Prozent runter... Hast Du gemacht? … Ach was, das scheint mir gar nicht so, ich muss Dir die Sache wohl noch einmal vorzeigen...“ usw. usf.
Ihre Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit; Leandro hasste sie bereits am dritten Tag und stellte ihr seinerseits geschickte 'Fallen', sabotierte ihre Arbeit wo er konnte: zum Beispiel ließ er dann und wann ihren Bosonzähler (als scherzhafte Umschreibung eines auf Quantenmechanik basierenden Werkzeuges, welches bei fast allen Wartungsarbeiten als universelles Prüfgerät verwendet wurde) verschwinden, um sie dann vor Titus höflichst darum zu bitten und in Verlegenheit zu bringen; ein anderes Mal behauptete er steif und fest, er hätte nach ihrem Eingriff die Einstellungen am gravitativen Ausgleichsgenerator wieder korrigieren müssen.

Titus blieb die Fehde schwerlich verborgen; dennoch beließ er es beim morgendlichen Meeting und mit der stetigen Mahnung, dass der kameradschaftliche Zusammenhalt entscheidend für den Erfolg der Mission und das Überleben der Gruppe sei. Vielleicht, dachte sich Leandro, hätte er mit einem strengeren Vorgehen Lu gegenüber ihr tragisches Ende verhindern können. Dann hätte sie sich vor zwei Tagen unter Umständen nicht so furchtbar aufgespielt. Sie 'befahl' Leandro, einen der Akkus, welche außerhalb des Schiffs direkt an den Solarflügeln montiert waren, in die Warteluke zu hieven. Das wäre laut Tagesplan eigentlich ihre Sache gewesen! Nach seiner ersten Verweigerung und einem heftigen Streit zwischen den beiden kam Leandro auf eine bessere Idee und gab vorerst nach, demontierte den Akku und lud den selbigen auf den kontronischen Levitator.
Langsam schwenkte er den Akku in die Luke. „Zeig' mir genau wo das Ding hin soll...“ rief Leandro, als ob er die erwartete Position nicht genau kennen würde.
„Weiter in die Mitte nach rechts, nach rechts, Du Idiot...“ hallte es aus der Luke zurück. Viel Platz gab es dort nicht; der innere Ausgang zum Schiff befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Ladeluke. Es fiel Leandro nicht schwer, Lu diesen Weg zu versperren und sie genau zwischen den Akku und die Wand zu locken. Mit einem plötzlichen Manöver schwenkte er den Arm des Levitators und drückte Lu unerwartet mit dem Akku gegen einen der Träger in der Bordwand.
„Zurück na reecch...“ kreischte sie noch einmal vergeblich, dann verstummte Lu für immer...
Leandro zögerte noch einen kurzen Moment und erwägte die nächsten Schritte, bevor er endlich über den Bordsprechfunk seinen Kommandanten rief. Dieser stürzte heran und verharrte verwirrt vor dem Akku und dem hinter ihm leblos hervorhängenden Arm. Titus' nächste Reaktion war überraschend beherrscht; er bediente selbst den Levitator, um Lu freizugeben, und zog ihren Leichnam hervor.
„Ich habe nur strikt ihren Anweisungen gefolgt...“ entschuldigte sich Leandro. „Augenscheinlich hat sie rechts mit links verwechselt, ich konnte doch nicht ahnen...“
Titus erwähnte kein Wort, blickte nur kurz vorwurfsvoll auf Leandro und dann wieder auf Lu, als wäre er irgendwie verlegen. Dann begriff Leandro: aus Lu's zerquetschtem Leib drängte sich ein Knäul von synthetischen Geweben und Bauteilen, die nichts mit einem menschlichen Körper zu tun hatten. Vor ihnen lagen die Reste eines HUMSYC, ein Android, biotronischer Schrotthaufen...
Leandro war verwirrt, denn nach seiner Kenntnis waren HUMSYCs relativ primitive und vom Menschen leicht zu unterscheidene künstliche Geschöpfe, willenlose und vor allem wenig intelligente Sklaven.
„Du wusstest, dass Lu...?“ - Titus erwiderte noch immer nichts. Er schien nach Antworten zu suchen, genauso wie Leandro: warum hatte man in so eine kleine Besatzung einen HUMSYC eingeschleust? Darin bestand kein offenbarer Vorteil. Und warum hatte ihn Titus nicht eingeweiht? Es war unwahrscheinlich, dass er von Lu's Natur keine Kenntnis hatte... Aus der Tiefe seiner Verwirrung stieg eine dunkle Ahnung auf: Wenn Titus nichts wusste, dann war der selbst ein HUMSYC! Oder andersherum: Wenn er es wusste und Leandro dennoch nicht davon unterrichtete, dann war Titus es ebenfalls! Lu's feindselige Haltung Leandro gegenüber erschien nun weniger merkwürdig, wahrscheinlich versuchten beide, Ihn unter Kontrolle zu halten. Die Fehlfunktion im kryogenischen System bei der Landung war dann mit höchster Wahrscheinlichkeit kein Unfall gewesen, sondern kaltblütiger Mord an der menschlichen Besatzung, welcher man den fünfmonatigen Flug zum Mars aus verschiedenen Gründen erspart hatte. Doch wozu brauchten die beiden Ihn? Zu welchem besonderen Zweck war er bestimmt?

Als der Schlaf langsam aber stetig in ihn zu kriechen schien, schreckte Leandro unversehens auf. Ein merkwürdiges Geräusch hatte für einen kurzen Augenblick das monotone Summen aus den Schaltschränken übertönt. Leandro horchte gespannt. Mehrere Sekunden... Stille... Da wieder! Ein metallenes Ächzen, wie ein im Sonnenwind kämpfendes Schiff, doch nur in kurzen Intervallen. Sicherlich war es Titus, der versuchte, auf irgendeine Weise an Bord zu gelangen und sich gewaltsam an einer der Luken zu schaffen machte. Nach kurzer Überlegung beruhigte sich Leandro wieder: die Mayflower war für den Raumflug gebaut worden. Selbst mit einer Ladung herkömmlichen Sprengstoffs könnte man die Luken nicht ohne weiteres aufreißen; jeder Versuch, sie mit speziellen Werkzeugen aufzubohren oder zu schneiden war mehr oder weniger aussichtslos. Das Material war härter und widerstandsfähiger als Diamant. Leandro schaltete die Beleuchtung fast vollkommen aus und lief erneut von einer der Aussichtsluken zur anderen, um dort umsonst in die Dunkelheit zu starren; dann horchte er mit aller Anstrengung mehrere Minuten lang. Das Geräusch kehrte nicht wieder zurück...
Was würde Titus mit ihm anstellen, wenn er doch ins Schiff gelänge? Seit jenem verhängnisvollen Tag waren sie sich gegenseitig wie zwei feindlich gesinnte Raubtiere ausgewichen, jeder auf den ersten Fehler des anderen bedacht. Titus hatte ihn noch gebeten, seinen Bosonzähler zu holen, als wolle er noch irgendetwas an Lu herummessen. Als Leandro zurückkehrte, hatte Titus Lu's Überreste bereits entsorgt und ihm ohne eine Erklärung das Werkzeug aus der Hand genommen.
„Sieh' zu, dass der Akku wieder in Ordnung kommt. Über den Rest reden wir später.“ - Dann verschwand der Kommandant für mehrere Stunden in seiner Kammer. Als er wieder herauskam, machte er einen entschlossenen Eindruck, rief Leandro zu sich und erklärte ihm eindringlich die Tagesplanung zu zweit und dass er absolute Disziplin verlangte, um das endgültige Scheitern der Mission zu verhindern.

Leandro wurde sofort klar, dass Titus nur Zeit schindete und nach einem Plan suchte, ihn zu beseitigen. Als HUMSYC war sich Titus der unberechenbaren Intelligenz des Menschen sicherlich bewusst. Er konnte nicht einfach mit dem Bosonzähler oder irgendeinem anderen Gerät auf Leandro losgehen, der Ausgang dieses Versuchs war nicht vorhersehbar. Die offensichtlichste Variante war die, ihn im Schlaf zu töten. Leandro selbst konnte dafür nicht in Titus' Kabine, die war absolut gesichert, sein Gegner also im Vorteil. Gegen den Schlaf zu kämpfen war aussichtslos; als jener an den letzten beiden Abenden zur gewohnten Zeit unwiderstehlich im Anmarsch war, versteckte sich Leandro in einem der Belüftungsschächte. Glücklicherweise fand ihn Titus dort nicht. Nur als Leandro morgens wieder auf der Brücke erschien, fragte ihn Titus mit einem bedeutungslosen Lächeln, ob er auch gut geschlafen hätte.
In Wirklichkeit beobachte Titus ihn argwöhnisch auf Schritt und Schritt; wartete nur auf den geeigneten Augenblick, seinen Plan der Rache in die Tat umzusetzen. Leandro ließ sich nichts anmerken, grübelte aber verzweifelt, wie er Titus zuvorkommen könnte.

Dann beging Titus einen entscheidenden Fehler: „Leandro, morgen werde ich wieder zur Basisstation fahren, um zu sehen, wie wir dort die Arbeit wieder aufnehmen. Du bleibst vorläufig zur Sicherung des Schiffes auf der Brücke.“
Leandro stutzte: auch wenn Titus gewöhnlich allein zur Basisstation fuhr, müsste er unter den gegebenen Umständen Leandro mitnehmen, um ihn im Auge zu behalten. Immerhin war es nicht strikt notwendig, dass jemand auf dem Schiff verbliebe. Wenn Titus allein zur Station wollte, dann doch mit Sicherheit, um sich irgendetwas für ihn Wichtiges zu besorgen. Was dies auch immer war, es gehörte zu Titus' dunklen Plänen. Da zündete Leandro der Gedanke: er bräuchte doch nur das Schiff zu verriegeln, so dass Titus... Das war einfacher gesagt als getan: als Kommandant hatte Titus mehrere Geheimcodes, die für das Öffnen der Luken benutzt wurden. Darauf schien sich Titus zu verlassen. Doch man könnte vielleicht irgendwie..., ja natürlich! Man könnte das Sicherheitssystem soweit beschädigen, dass die Luken nur noch von Hand zu bedienen wären. Leandro wusste zuerst noch nicht, wie er dies bewerkstelligen solle, vertraute aber seinen Fähigkeiten und fasste einen Entschluss. Eines hatten sie dem HUMSYC Titus wohl nicht eingelötet: die Einsicht, dass ihm menschliche Intelligenz überlegen war! Wie naiv solch ein Miststück von Android am Ende doch war...

Die nächsten Sekunden drosselten Leandro's Gedanken bis zum Stillstand. Er versuchte einen Moment lang zu begreifen, was geschehen war. Er saß wie vorher im nur spärlich erleuchteten Brückenstand und doch... nach einem kurzen Flackern und Klicken war das monotone Summen der Schaltschränke leiser geworden, die Lichter weniger... Leandro schauderte: das Energiesystem hatte sich auf Notversorgung umgeschaltet! Oder war von jemandem umgeschaltet worden... Er konzentrierte sich mit aller Anstrengung: Nein, er hatte den Zugang von außen für alle Luken unmöglich gemacht! Schwer war ihm das am Ende nicht gefallen. Das Bedienungspad war mit demselben Material wie das gesamte Schiff geschützt, d.h. mit einer Platte bekleidet, welche man nur mit einer Art Laserschlüssel öffnen konnte. Einen hatte Leandro selbst und einen persönlichen Code für jede Luke. Einmal geöffnet, hatte er die Bedienungsfelder und deren Sensoreinheiten zertrümmert und sich danach vergewissert, dass jede Luke nur noch mechanisch zu betätigen war. So hatte er eine nach der anderen von innen verschlossen, wie in einer besetzten Festung.
Er grübelte, welche anderen Ursachen für den Zwischenfall verantwortlich sein könnten. Um die Solarbatterien zu überprüfen, müsste er das Schiff verlassen. Ihm dämmerte, dass sie Titus womöglich schon vor Stunden außer Betrieb gesetzt hatte. Waren die Batterien im Schiff unter einen kritischen Wert gesunken, würden sie sich den Strom von den Akkus draußen holen. Leandro fluchte: an diese Einzelheit hatte er in der Tat nicht gedacht! Doch nach einiger Überlegung beruhigte er sich erneut. Die Situation war klar: weiteren Schaden konnte Titus eigentlich nicht anstellen. Leandro war noch immer in Sicherheit; er musste jetzt nur mit dem Notsystem auskommen, einige Tage würde es sicherlich funktionieren. Er war nach wie vor mit allen lebensnotwendigen Dingen ausgestattet.

„Meinst Du wirklich, ich hätte nicht vorgesorgt und mir einen Eingang offen gehalten?“
Leandro fuhr herum. Wenige Meter vor ihm nahm er im Halbdunkel einen Schatten wahr. Titus! Leandro starrte auf die Gestalt und das Werkzeug in seiner rechten Hand. Die Kontrolllämpchen ließen wenig Zweifel: Titus war nicht zu Späßen aufgelegt. Der Laserschneider war eins der wichtigsten Werkzeuge für den Aufbau der Basisstation, bis zu einer Entfernung von zwanzig Metern aber auch eine absolut tödliche Waffe.
„Wie bist Du … ? Hör zu, Titus. Wie Du selbst sagst, wir brauchen uns gegenseitig. Ich hatte einfach nur Angst, es war ein Fehler. Das ist doch menschlich! Tut mir wirklich leid, kommt kein zweites Mal vor... Und wenn Du mich jetzt einfach so kaltmachst, musst Du Dir immer noch eine gute Ausrede einfallen lassen. Du weißt, in wenigen Wochen trifft das Schwesterschiff ein. Als biotronischer Racheengel lassen die Dich nicht so ohne Weiteres am Leben... äh, ich meine eingeschaltet.“
Titus lachte kurz auf. „Weißt DU mein Freund, dass es gar kein Schwesterschiff gibt? Und dass ich auch ganz ohne Dich wieder nach Hause komme? Schau' doch jetzt ganz einfach mal kurz auf Deinen Bauch!“
Leandro senkte den Kopf. In einer Zehntelsekunde spielte er alle möglichen Auswegvarianten durch, dann holte er einmal tief Atem, spannte seinen Körper wie eine Feder und setzte zum Sprung an...
Der kam zu spät: schon im nächsten Augenblick sah Leando sein letztes Bild, als ihn ein blauer Strahl jäh in zwei Teile trennte...
***​

Logeingabe 04-08-2053: Drittes Model „Leandro“ ebenfalls deaktiviert; Experimente somit abgeschlossen. Bestätigung der ersten Ergebnisse: durchschnittliche Intelligenz, dennoch irrationales Vorgehen in Stresssituationen. Stark ausgeprägte Empathiestörung und paranoide Persönlichkeit, misstrauisch, leidet an Verschwörungswahn. Schon nach wenigen Tagen stellen sich extrem aggressive Verhaltungsmuster ein, für den Rest der Besatzung lebensbedrohlich.
Resultat: Negativ; für weitere Einsätze mit dem Menschen vollkommen untauglich.


Titus schaltete die Logeingabe wieder aus und seufzte erleichtert. Seine Aufgaben waren beendet. Hatte er auf der einen Seite alle Entladungsarbeiten erfolgreich ausgeführt und mehrere Tonnen Material in die neue Basisstation geschafft, war der zweite Teil der Mission ein deutlicher Misserfolg: das neue HUMSYC-Spitzenprodukt hatte sich als Riesen-Flop erwiesen. Nach seiner Rückkehr würden nicht wenige versuchen, ihm die Schuld in die Schuhe zu schieben; vielleicht hätte er nicht die Fähigkeiten, um angemessen mit seinen biotronischen Untertanen umzugehen. Vor allem die wirklichen Auftraggeber der Mission, die Vetreter der Red & Yellow River Mining Corporation, würden viele unangenehme Fragen stellen, und nicht nur diese, und nicht nur ihm. Die Corporation benutze schon seit 15 Jahren erfolgreich HUMSYCs und ähnliche technologische Vorgänger in ihren Minen, in denen zwischen allen möglichen Erfindungen modernster Robotertechnik kaum noch Menschen anzufinden waren. Sie hatten sich auf die Versprechen ihrer japanischen Partnerfirma und deren Hi-Tech-Labors verlassen! Auch die PAJOSpAg würde in Frage stellen, wohin die Millionen von Forschungsgeldern geflossen waren und zu welchem Nutzen, wenn die neuen HUMSYCs nicht nur wertlos, sondern sogar gefährlich waren. Sollte irgendjemand die Projektberichte und Testergebnisse der Japaner genauer lesen, würde man zugeben, dass diese zu einem gewissen Ausmaß fabriziert worden waren, um die Finanzierung der PAJOSpAg und der Corporation nicht zu verlieren? Gäbe es dann wieder irgendeine ofizielle Version, die die Verschwendung öffentlicher Gelder in den schönsten Sternenstaub malen würde? Nur eins schien Titus sicher: die Corporation würde früher oder später ihre Ziele durchsetzen und sich ihre Vorrechte auf dem Mars sichern. Sie würde neue Mitglieder in den Vorstand der PAJOSpAg wählen; es würden neue Forschungsgelder fließen, vielleicht hätte ein neuer Leandro mehr Glück; und sogar einen neuen Titus für die nächste Suizid-Mission würde die Corporation allemal finden.

Wenigstens in diesem Moment war Titus dies alles eigentlich egal. Der letzte und schönste Abschnitt der Mission konnte endlich beginnen: die Rückkehr zur Erde. Er würde jetzt mit einer letzten Eingabe im System den Startprozess einleiten und brauchte dann nicht weiter einzugreifen, unvorhergesehene Zwischenfälle ausgeschlossen. Der Bordcomputer würde sich den optimalen Zeitpunkt zum Abhebemanöver selbst errechnen und es dann ohne menschliche Hilfe ausführen. Das Bordsystem würde den Flug so lange kontrollieren, bis die Zeit für die direkte Kommunikation mit der Zentrale auf der Erde auf etwa zwei Minuten abgesunken war; danach würde jene die Steuerung übernehmen.

Titus überlegte: die Reise wäre auf einer Seite angenehm, auf der anderen aber auch etwas langweilig. Ein Lu-Modell war noch verfügbar, es müsste nur mit dem richtigen Programm („Mission vorzeitig abgebrochen – Aufenthalt auf dem Mars hat nie stattgefunden“) aus dem vorgetäuschten Kryo-Schlaf geholt werden. Die neue Lu würde sicher nicht weiter gefährlich werden, dachte er sich. Doch sie wäre genauso gefühlsarm und zum Teil neurotisch veranlagt wie ihre Vorgängerinnen und das mechanische Abspulen ihrer eingespeicherten Erinnerungen wollte er nicht ein drittes Mal über sich ergehen lassen. Und überhaupt hatte er es satt, seine Mahlzeiten heimlich und versteckt in seiner Kabine zu sich zu nehmen, gewöhnlich eine gute Stunde nachdem die vermeintlichen Ernährungsersatzpillen seine künstlichen Gefährten für etwa acht Stunden in ihren 'Schlafzustand' versetzt hatten. Nein! - Auf der Rückreise würde er jeden Tag auf dem Brückenstand speisen, und wenn ihm danach war, mit einem Buch in der Hand und mit den Füßen auf der Konsole...
Noch eine weitere Entscheidung wollte er Vor dem Abflug fällen. Sie war schnell und einfach in die Tat umzusetzen und eigentlich hatte er sie ja schon auf der Erde getroffen: denn seinen Lieblings-Château hatte er sich eigens für den Tag des Heimflugs bestellt. Wildbraten würde doch recht gut dazu passen...
 
Hallo Tula

Ich kann hier nur aus meiner eigenen Perspektive sprechen. Zum routinierten Schriftsteller fehlt noch ein wenig.

1.Absatz

Die Marslandschaft erstreckt sich immer bis zum Horizont, nicht nur im Halbdunkel.(Es sei denn, es ist etwas Gigantisches dazwischen, wie ein Bergmassiv)

Wenn Leandro Titus erst in 2 Stunden erwartet, muss er nicht nach ihm Ausschau halten oder erwarten, das er ihn sehen kann.

Gibt es eine unübliche Weise, in das Schiff einzudringen? Außer gewaltsam? Der Sinn der Aussage ist schon klar, aber die Formulierung?

Zugänge von Raumschiffen sind „immer“ hermetisch verschlossen, sonst wären sie nutzlos. Eine nutzlose Information

Wann Titus zurückkommt, um ins Schiff einzudringen, ist nicht relevant. Im Geschriebenen Zusammenhang klingt es für mich: wenn er früher kommt, gibt es Probleme.

Ein Begriff wie „öde“ erscheint mir in diesem Zusammenhang ein wenig schlicht. Besser wäre es, den Anblick ein wenig auszuschmücken.

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Ein Alternativtext zum Vergleichen

Leandro blickte nachdenklich aus der schmalen Sichtluke des Komandostandes. Im Halbdunkel der Dämmerung erschien ihm die eintönige Marslandschaft nicht mehr so bedrohlich und endlos. Von Titus keine Spur.... Dennoch würde er das Schiff bald erreichen und versuchen, sich Zugang zu verschaffen. Das beunruhigte Leandro nicht. Die Außenschleusen hatte er vor wenigen Minuten deaktiviert, die Noteinstiegsluke mit einem neuen Code versehen. Ohne seine Zustimmung würde Titus das Schiff nicht betreten.

LG

Norbert
 

Tula

Mitglied
Hallo Norbert

Dein Kommentar ist herzlich willkommen. Ich kann mich aber des Eindrucks nicht erwehren, daß Du nur den Anfang gelesen hast (?)

Wär nur schlecht für mich, denn der Anfang sollte doch zum Weiterlesen anregen...

Kannst das Ganze auch als pdf runterladen und dann bequem irgendwo lesen. Soviel sind die 8 Seiten auch wieder nicht ;)

LG
Tula
 
Hallo Tula

Ich habe den Text bisher nur stellenweise gelesen und mehr überflogen. Ihn gleich insgesamt zu bearbeiten wäre mir zu aufwendig, deshalb fange ich vorne an, bin aber schon ein ganzes Stück weiter. (Ich bin jetzt aber auch kein großer Leser, das war aber mal anders).

Du hast mal gefragt: wie schreibe ich gut und spannend? Eine Frage die ich mir auch stelle und ich bewege mich nur langsam vorwärts. Ich kann dir nur meine eigenen bescheidenen Erfahrungen mitteilen. Und die sind keine Vorschläge, sondern einfach nur meine Ansichten.

FrankK hat es besser formuliert(und ich kann jetzt nicht zurückblättern, um ihn zu zitieren): zu den Grundlagen einer Geschichte gehören die logischen Zusammenhänge. Auf einige davon im 1. Absatz wollte ich verweisen.

Der andere Aspekt ist die Sprachgestaltung. Die Frage, ob es eine gute Geschichte ist, entscheidet sich nicht nur über die Idee und die Story, sondern auch über viele andere Merkmale.

Meine Erkenntnisse zur Sprachgestaltung: Eine Sprache besteht aus 100.000 Wörtern. Im Alltag benutzen wir nur ein paar Tausend davon. Für einen guten Text müssen wir gewöhnliche Formulierungen vermeiden, die kennt jeder. Leute, die in Richtung Literatur studieren, haben einen ganz anderen Wortschatz als wir. Ich selbst nutze deshalb zum Beispiel "andereswort.de". Das kreative Formulieren verschlingt wahrscheinlich die meiste Zeit beim Schreiben. An so manchem Satz würge ich minutenlang herum. Aber nur ein gut durchformulierter Text ist auch ein guter Text. Das war der andere Aspekt, den ich andeuten wollte.

Ob mir die Story gefällt, kann ich im Moment allerdings noch nicht beurteilen. Kommt später.

LG
 

Tula

Mitglied
Hallo Nobert

Danke für Dein Interesse. Erlaube mir jetzt eine Anmerkung: ich suche hier nicht unbedingt den beruflichen Kritiker, sondern vor allem den Leser, der Gefallen am Genre hat. Von diesem möchte ich gern und in erster Linie einen spontanen Eindruck, ob die Erzählung lesenswert, unterhaltsam und auch spannend genug ist. Was fällt auf, Licht und Schatten des Werks usw.

Einen Hit der Musik kann ich 100 mal hören, ein Gedicht lese ich noch mehrmals, solch eine Erzählung oder gar ein Buch nur einmal. Der ERSTE Eindruck scheint mir deshalb besonders wichtig. Die Geschichte erst zu überfliegen, um sie dann ein zweites Mal zu lesen, ist in dieser Hinsicht nicht unbedingt empfehlenswert. Die Spannung ist nun raus, du kennst das Ende und kannst jetzt z. B. nicht mehr sagen, an welcher Stelle Du es im voraus erahnst hast.

Sprachliche Gestaltung: volle Zustimmung, obwohl ich nicht denke, dass man dazu Literatur studieren muss. Auch der Leser ist kein Wissenschaftler, er will unterhalten werden und zu gestelzte Texte wirken ermüdend...

LG
Tula
 

jon

Mitglied
Teammitglied
"Leute, die in Richtung Literatur studieren, haben einen ganz anderen Wortschatz als wir. " Als ihr! Nimm mich da raus, ich halte mich für jemanden mit einem recht großen Wortschatz! ;) – Nein im Ernst: Der Wortschatz ist nur ein Element im Handwerkskoffer, wenn auch ein sehr interesssantes.

Der zweite und dritte Blick ist auch für den ersten Eindruck hilfreich: Im ersten Lesen merkt man, dass (eventuell) was "nicht stimmt", beim Nachlesen kann man rauspuhlen, was es ist. Im Übrigen findet sich für jeden "Stein im Lesefluss" ein Leser, der drüber stolpert - egal, wie viele es gar nicht merken.


Die neue Erklärung finde ich gut. Sie macht das Ende aber zu lang (nach dem Höhepunkt sollte die Spannungskurve nicht zu lange „austrudeln“); das mit dem noch verfügbaren Lu-Modell ist überflüssig, das mit dem Essen kann man straffen.
Sowas vielleicht:
Wenigstens in diesem Moment war Titus dies alles eigentlich egal. Der letzte und schönste Abschnitt der Mission konnte endlich beginnen: die Rückkehr zur Erde. Kein Stress mehr mit den Künstlichen! Und vor allem musste er nicht mehr so tun, als würde er auch er sich von den kleinen Pillen ernähren, die die HUMSYC regelmäßig in den Wartungsschlaf versetzt hatten. Endlich nicht mehr heimlich in der verrammelten Kabine essen! Statt dessen ein Gläschen Château beim Beobachten der Sterne auf dem Hauptbildschirm der Zentrale, etwas Wildbraten zum Mittag, ein Hühnchen am Abend … Titus lächelte. Endlich würde es schön werden.
 
Hallo Tula

Gestelzte Texte: Interessanter Aspekt, den ich im Hinterkopf behalten werde.

Ich finde den Beginn der Geschichte gut. Ich frage mich, welche Probleme haben die Hauptfiguren und was passiert, wenn sie aufeinandertreffen. Ein Grund, weiter zu lesen.

Sprachlich bewegt es mich nicht. Ist mir zu einfach ausgedrückt und teilweise ein wenig unlogisch, deshalb kein so hohes Interesse, noch zu lesen und das Überfliegen.

LG
 



 
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